Auch so kann man Zeitgeschichte erzählen – wenn man, wie Bernd-Lutz Lange, ein eifriger Café-Gänger ist. Denn im Café trifft man nicht nur seine Freunde und Bekannten, sondern lernt auch neue Leute kennen, hört Geschichten und Gespräche am Nachbartisch. Und wer wie Lange fast 60 Jahre Leipziger Kaffeehausgeschichte miterlebt hat, der hat was zu erzählen. Nur wie, war für den 1944 im Landkreis Löbau geborenen Kabarettisten die große Frage. Zum Glück gibt’s ja Richard Dumont, den er erzählen lässt.

Erst Kunststudent, dann Maler. Ein bisschen Camouflage muss sein. Auch wenn man – wenn man Lange kennt – die Person Dumont nicht wirklich vom Autor lösen kann. Und auch das Café Continental steht nur als literarische Figur irgendwo in einer anonymen ostdeutschen Stadt. Das Vorbild durchschimmert überall durch. Und das bestätigt Lange auch in seiner Ausstimmung, wie er sein Nach-Wort nennt. Denn wirklich viele klassische Kaffeehäuser dieser Art gibt es im Osten nicht mehr. Sechs sind es noch, stellt Lange fest.

„Die Kulturbarbaren sind unter uns“, schreibt er. Recht hat er.

Denn das Schicksal ereilte nicht nur reihenweise historische Kaffeehäuser in der DDR. Dasselbe geschah und geschieht auch im Westen. Motto: „Das rechnet sich nicht.“ Froh kann man noch sein, wenn nur der Kaffeehausbetrieb beendet wird, aber die alte Ausstattung wenigstens erhalten bleibt – auch wenn dann eine Boutique einzieht.

Das Jahr 1968

Das Buch ist also auch ein bisschen mehr als ein Erinnerungsbuch, das die Zeitgeschichte in einer ostdeutschen Stadt einfängt und gar nicht so nebenbei auch eine Hommage an das legendäre Leipziger Café Corso ist, das „dem im Buch beschriebenen Café Continental sehr nahe“ kommt.

„Es war das glanzvollste Kaffeehaus, das im Osten Deutschlands die Zeiten des Krieges und des Umbruchs überstanden hatte, und existierte so original bis 1968. Dann wurde das Haus von der Parteibürokratie unter Vorwänden, aber vor allem letztlich wegen der unsicheren Kantonisten, die in diesem Café verkehrten – zumeist Künstler und Studenten – geschlosssen und abgerissen.“

1968 – das war jenes Jahr, in dem die Parteibürokratie auch die Paulinerkirche und das Augusteum in die Luft sprengen ließ. Und das Jahr des Prager Frühlings, der die Parteibürokratie zutiefst erschreckte. Vor einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ hatte sie Angst. Das bedeutete aus ihrer Sicht den Verlust von Kontrolle.

Sein Café Continental lässt Lange aber überdauern. Bis nahe an die Gegenwart. Lässt seinen Richard Dumont dort erleben, was Lange in seinem Café-Leben selbst miterlebt, gehört und notiert hat. Auf vielen verstreuten Zetteln voller Geschichten, Gespräche und Schicksale, die des Aufhebens wert waren und nur noch erzählt werden mussten. Aber wie? Ein fiktives Café bot sich geradezu an.

Ein Café, in dem sich die Träumer treffen, die Pessimisten und Enthusiasten, die Realisten und Mutlosen. Die Liebesuchenden und die Abgeklärten. Und da nun einmal an den Kaffeehaustischen über die Welt geredet wird, die Abwesenden, die Zeitläufe und die findigen Wege, mit denen Menschen auch unter unwirtlichen Bedingungen zurande kommen, entsteht ein Panorama der Zeit.

In das natürlich die großen Ereignisse hineinwetterleuchten.

Künstler und Intellektuelle

Auch das schafft Lange: Die DDR-Zeit, von der immerhin ein Vierteljahrhundert in diesem Buch Platz findet, als etwas zu zeigen, das genauso voller Leben, Hoffnung und Fieber war wie das Leben anderswo. Gerade unter Künstlern und Intellektuellen, die das ja nicht werden, weil einen die Partei dazu gemacht hat (das hätten die Genossen nicht mal im Traum hinbekommen), sondern weil man das zwangsläufig wird, wenn man einen Kopf voller Fantasie, Neugier und Anspruch hat. Wenn man die Dinge hinterfragt.

Der eine wird dann Maler, der andere Kabarettist, der nächste taucht in die Antiquariate ab. Und alle interessieren sich auf ihre Weise dafür, wie das nun weitergeht mit diesem Land. Was immer eine geschichtliche Dimension hat.

Wer sich nicht für Geschichte interessiert, der versteht nicht, dass es keinen Stillstand gibt, dass alles permanent im Fluss ist und die Vergangenheit immer auch in die Gegenwart hineinleuchtet. Und Richard Dumont interessiert sich – genauso wie der Autor – ganz besonders für die seinerzeit fast vergessene Welt des Kabaretts in der Weimarer Republik.

Bücher darüber gab es kaum in der DDR, die Schicksale der meisten einst Berühmten waren vergessen. Und so ist Richard Dumont geradezu enthusiasmiert, als ihm ein älterer Herr mit Baskenmütze begegnet, der sich als ein gewisser Ferdinand Barnowsky vorstellt und die große Zeit des Kabaretts in der Weimarer Republik noch selbst erlebt hat. Sogar in der Premiere der „Dreigroschenoper“ saß er.

Ein echter Zeitzeuge, der nur zu bereit ist, Dumont in mehreren Kaffeehausgesprächen an seinen glühenden Erinnerungen teilhaben zu lassen und ihm auch die längst nur noch antiquarisch erhältlichen Bücher der einstigen Stars ans Herz legt.

Geschichten vom Nachbartisch

Man ahnt ein wenig, wie es dem jungen Bernd-Lutz Lange damals gegangen sein muss, als die Parteibürokratie mit aller Macht versuchte, das ganze Land auf ihren Kurs zu kriegen und nicht einmal geträumt werden konnte davon, dass es so viel Leben und Glanz wie in der kurzen Weimarer Republik je wieder geben könnte. Schon gar nicht in einem Land, in dem man mit Spott und bissigem Humor die Parteigranden zutiefst verärgern konnte. Eine Fallhöhe, die freilich auch die Basis dafür war, dass in der DDR die zugelassenen Kabaretts blühten und man Monate vorher seine Tickets bestellen musste, wenn man mal eine Vorstellung besuchen wollte.

Aber gleichzeitig zeigt Lange mit den Gästen im Café Continental, dass diese unangepassten Geister auch in der DDR existierten, sich ihre Nischen und Spielräume suchten und bei Kaffee, Bier oder Kadarka von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines Lebens in diesem Land erzählten.

Oder geradezu urige Dialoge zustande brachten, die Lange in Kapiteln mit dem Titel „Am Nachbartisch“ gesammelt hat.

Doch er lässt die Geschichten aus dem Café Continental nicht mit den Demonstrationen im Herbst 1989 enden, die auch für die Stammtischrunde am Malerstammtisch voller Hoffnung sind. Endlich wird ereein freies Land mit freien Menschen. Was wäre da alles möglich? Nur sind dann die Lebensgeschichten, die in den Folgerjahren passieren, nicht wirklich voller Freude und Sonnenschein.

Der eine oder andere hatte sich schuldig gemacht in vergangenen Zeiten, „Falco der Besorger“ verlor seine große Rolle als Geschäftsmann in einer Welt der Mangelversorgung und scheint im fernen Wien als Kellner aufgetaucht zu sein, vielen brach der Broterwerb weg, Karrieren endeten unverhofft. Wer eben noch leicht leben konnte, sah sich mit den Härten einer Welt konfrontiert, deren einziger Maßstab das Geld war.

Der falsche Glanz des Geldes

Sodass so manche Gespräche nun zu einer harten Analyse der „Wende“ wurden und dem, was da falsch gelaufen ist. Oder wer da falsch gelaufen ist, verführt vom Goldschimmer des Geldes und falschen Versprechungen. Man ahnt schon: Auch für das Café brechen keine goldenen Zeiten an. Und die Gäste am Stammtisch werden auch nicht jünger. Dafür tauchen neue Gäste auf, die den Blick weiten in die Welt. Und die auch wieder eine der Leidenschaften von Bernd-Lutz Lange bedienen, der wie kein anderer schon in den 1980er Jahren dafür sorgte, dass sich Leipzig auch an seine jüdische Geschichte und die Schicksale der einstigen Nachbarn erinnerte.

Aber am Ende wird auch deutlich, dass diese neue Zeit letztlich genauso geschichtsvergessen ist wie die vorhergehende. Auch für das Café Continental kommt das Ende: „Einige Jahre hielt es sich tapfer. Das haben Sie ja beim Lesen dieses Buches an den letzten Geschichten gemerkt. Aber schließlich kam auch hier der Zeitpunkt, bei dem die Betreiber vor der Miete kapitulieren mussten. Mit Kaffee, Kuchen und ein paar kleinen Gerichten war das nicht mehr zu erwirtschaften.“

Im Grunde wirft Lange hier einen traurigen Abschiedsblick auf das Herz von Leipzig, in dem nicht nur beliebte Cafés schließen mussten, weil sie die steigenden Mieten nicht mehr erwirtschafteten, sondern auch Antiquariate, Buchläden, Orte der geistigen Erholung. Und manche Sätze von Lange klingen bitter, sind aber nur zu berechtigt, denn mit dem vom Profit getriebenen Geschäftemachen verlor Leipzigs einst lebendige Innenstadt viel von ihrer Wärme. „Der Immobilienmarkt verscherbelte einen Marktplatz der Kultur.“

Ein gar nicht langweiliges halbes Jahrhundert

Dieser Satz ist dann wieder auf die Schließung eines einst beliebten Kinos gemünzt, in dem zu DDR-Zeiten all die Filme liefen, die in den großen Kinos nicht gezeigt wurden. Man vergisst das alles, wenn die Dinge erst einmal verschwunden sind. Und so ist Bernd-Lutz Langes Erzählung vom Café Continental eben auch die Erinnerung an eine Zeit, die mittlerweile genauso in der Geschichte verschwunden ist wie die faszinierende Kulturszene der Weimarer Republik. Verschwunden, weil sie bei der Jagd nach Profit und Rendite nicht mithalten konnte.

Einziger Trost: Mit dem Café Grundmann und dem Café Maî­t­re hat Leipzig noch zwei der sechs historischen Kaffeehäuser im Osten. Beide in der Südvorstadt gelegen, beide voller Geschichten, von denen möglicherweise einige mit eingeflossen sind in dieses Buch, mit dem die Leserinnen und Leser eintauchen können in ein ganz und gar nicht langweiliges halbes Jahrhundert – stellvertretend erzählt für die einstigen Kaffeehäuser, die es im Osten einmal gab. In denen Menschen sich trafen und erzählten über alles, was sie bewegte. Meist ungestört, auch wenn zu manchen Zeiten seltsam farblose Gestalten an den Seitentischen saßen. Man wusste ja, dass man argwöhnischst beobachtet wurde.

Aber Leben und Zeit lassen sich nicht konservieren. Die Dinge verändern sich. Und die alten Träume der Menschen von einem freien und mutigen Leben kommen immer wieder an die Oberfläche. Schon in den Gesprächen zum – niedergeschlagenen – Prager Frühling lässt Lange seine Protagonisten prophezeien, dass auch im Osten die Erstarrung einmal enden wird. Fürs Erste war die Ruhe mit aller Macht wieder hergestellt. Es sollte dann nur 21 Jahre dauern, bis die Leipziger genauso mutig wie die Prager auf die Straße gingen.

Mit den Folgen, die man heute sehen kann, wenn man durch die teuren Innenstädte läuft. Hätte es anders laufen können? Bernd-Lutz Lange hält sich da an den Schriftsteller Manés Sperber und schreibt ganz zum Schluss: „Ich bin ein alter Revolutionär, der den Hoffnungen, die er begraben musste, treu geblieben ist.“

Auch so kann man die Geschichte des Café Continental lesen. Nichts bleibt, wie es war. Und Träume verlangen in gewissen historischen Abständen danach, doch wieder Wirklichkeit werden zu wollen.

Bernd-Lutz Lange „Café Continental“, Aufbau Verlag, Berlin 2024, 22 Euro.

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