Erzählen eigentlich noch die Großeltern, wie die Welt zu ihrer Kindheit aussah? Oder granteln sie nur noch herum und reden die Gegenwart schlecht? Eine nicht ganz unwichtige Frage in dieser völlig aus dem Lot geratenen ostdeutschen Gesellschaft, in der jeder Dritte glaubt, irgendjemandem einen Denkzettel verpassen zu müssen. Als wäre eine Demokratie nichts als ein besserer Western Saloon. Es geht auch anders, zeigt eine neue Reihe aus dem Klett Kinderbuch Verlag.

„Wir Kinder von früher“ heißt diese Reihe, die im Programm des Klett Kinderbuch Verlags in diesem Herbst mit zwei Titeln startet – neben Daniela Kulots „Es geschah auch kein Unfug …“ erzählt die Leipziger Grafikerin Gerda Raidt in „Wie ein Vogel“ ihre eigene Kindheitsgeschichte.

Eine Geschichte, die im geteilten Berlin beginnt, dicht an jener Mauer, die die Stadt 28 Jahre lang getrennt hat. In den Westteil Berlins fahren darf nur die Oma. Und sie bringt von dort all die Wunderdinge mit, die sich die kleine Gerda wünscht – bunte Faserstifte vor allem. Der Traum, einmal Künstlerin zu werden, ist längst erwacht.

Aber es ist eben mehr, was eine Kindheit prägt. Mancher vergisst das einfach, weil er nie wirklich genau hingeschaut hat. Aber dieses Mädchen hat immer genau hingeschaut. Und besonders tief haben sich die Erinnerungen an Vögel eingegraben – angefangen mit dem sprechbegabten Wellensittich der Oma über den Ara, der eines Tages augenscheinlich über die Mauer zugeflogen kam und dann seinen Platz im Tierpark fand. Bis zu den weißen Friedenstauben, die auch Gerda in der Schule ausschneiden durfte, um sie ans Fenste zu kleben.

Die Sache mit den Friedenstauben

Das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube war ja in der DDR allgegenwärtig. Aber es gehörte eben auch zur Propaganda, malte ein süßliches Bild vom Frieden, das ganz offensichtlich heute immer noch viele Ostdeutsche im Kopf haben und mit dem Parteien Wahlkämpfe gewinnen, die mit wirklichem Frieden gar nichts am Hut haben.

Es ist eine zutiefst menschliche Sehnsucht. Die sich aber nicht verträgt mit Verachtung für Flüchtlinge und überfallene Länder. Das nur am Rande.

Denn Vögel sind auch bei Gerda Raidt Symbole des Grenzenüberwindens. Und damit der Freiheit, überall hingehen zu können. Und zu wissen: Eigentlich ist das nicht möglich, solange die Mauer steht. Man kann also auch an das andere Lied denken, das mit City zu einem der beliebtesten in der DDR wurde: Hildegard Maria Rauchfuß’ „Am Fenster“.

Flieg’ ich durch die Welt. Es wird nicht erwähnt, ist aber allgegenwärtig, wenn das kleine Mädchen aus dem Fenster schaut. Und wenn es die Federn der Vögel sammelt unterwegs. In Vaters großem Vogelbuch wird ja alle erklärt.

Auch so kann man träumen vom Fliegen und Reisen durch die Welt. Und wach liegen in der Mittagsstunde im Kindergarten, wenn alle Kinder schlafen sollen. Was aber, wenn das gar nicht geht und das fantasievolle Kind sich quält mit diesem Befehl zum Schlafen? Es ist die Oma, die sie rettet und fortan mittags aus dem Kindergarten abholt. Scheinbar ganz banale Ereignisse, die da vor sich gehen.

Im Käfig

Aber Gerda Raidt zeichnet und erzählt das alles so liebevoll, dass man merkt, wie das alles nachklingt. Gerade die vielen Nachmittage bei Oma und ihrem Wellensittich Coco, der eines Tages stirbt.

Und einen Nachfolger bekommt. Der aber nicht so gesellig ist wie Coco. Warum nur? Fragen über Fragen. Am Ende wird sich Gerda, nachdem so viele Wellensittiche durch ihre Kindheit geflattert sind, selbst keinen Vogel im Käfig zulegen. Das hat sie gelernt. Vögel gehören nicht in enge Käfige, sondern in Freiheit. Und wenn das nicht geht, weil sie in Deutschland nicht heimisch sind, dann wenigstens mit vielen Artgenossen in einer großen Voliere. Eine Notlösung.

Denn während Gerda scheinbar lauter kleine Geschichten mit Wellensittichen, Tauben und Eichelhähern erzählt, merkt man, dass sie eigentlich eine Geschichte von Käfigen, Freiheit und Sehnsucht erzählt. Und zwar nicht bedingungslos. Denn das heranwachsende Mädchen macht sich immerzu auch Gedanken, wie es den Vögeln geht.

Wo fliegen sie hin, wenn man vergessen hat, das Fenster zu schließen? Wie ist es jenseits der Mauer? Und ist das der richtige Weg, den ihre Freundin Ina gegangen ist, die nun Ansichtskarten von „drüben“ schickt?

Oder ist der kleine Vogel im Käfig auch ein Symbol für etwas anderes? Für ein tiefes Verständnis für die lebendige Welt um uns, das Gerda durch ihren Vater vermittelt wird, auf dessen Kindheitsfotos er selbst mit einem Wellensittich zu sehen ist. Man merkt schon: Kindheit ist viel reicher und vielfältiger, als es einem platte Fluchtgeschichten weiß machen wollen. Welche Farbe Vaters Wellensittich hatte, kann Gerda aber nicht herausbekommen: Die alten Fotos sind alle Schwarz/Weiß.

Die Farbe der Welt

Und eigentlich sind es auch ihre Kindheitsfotos. Dabei hatte auch ihre Welt Farbe. Das muss sie ganz zu Anfang erklären, denn natürlich wissen das die Knirpse von heute nicht. Es muss ihnen erzählt werden, wenn Oma das Fotoalbum mit den Kindheitsbildern herausholt. Oder Mama, denn auch ihre Kindheitsfotos waren noch nicht bunt. Die Welt verändert sich. Und damit auch, wie wir sie sehen und erinnern.

Und meist ist es gut, wenn wir uns Mühe geben, uns richtig zu erinnern und nicht die flachen Behauptungen anderer Leute wiederkäuen, in denen die ganzen Zwischentöne fehlen, die das Leben erst spannend machen. Und unsere Erinnerung reich und lebendig.

Auf einmal merkt man nämlich: Das viel zitierte „Früher“ hat eher wenig mit Kaisern, Führern und anderen grimmigen Bartträgern zu tun. Sondern viel mehr mit vertrauten Menschen, mit denen wir aufgewachsen sind. Und die uns Dinge beigebracht haben, die uns wirklich bereichert haben – wie die Aufmerksamkeit für die flatternden Tiere vorm Fenster und die Welt jenseits der Mauern.

Eigentlich ist das auch ein Buch für Eltern und Großeltern. Und viele werden sich erinnern, dass ihnen ganz Ähnliches zugestoßen ist, als sie so klein waren wie die Kinder, denen sie das Buch vorlesen. Oder einfach auf den Geburtstagstisch legen. Mit ganz vielen Bildern drin, Bildern, welche die Kindheitswelt von Gerda anschaulich machen. In der vieles so anders war. Da lohnt es sich, neugierig zu sein als Kind. Und ein bisschen zu staunen mit den Großen. Denn es ist wirklich passiert.

Gerda Raidt„Wie ein Vogel“ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2024, 16 Euro.

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