Mit jedem Vortrag redet Omri Boehm seinen Zuhörern ins Gewissen, erinnert sie daran, wie leicht sie Mythen und Schimären aufsitzen und das dann für vernünftiges Denken halten. Drei seiner Vorträge versammelt dieses Bändchen, alle drei gehalten nach dem terroristischen Überfall der Hamas auf israelische Siedlungen am 7. Oktober 2023. Ein Tag, mit dem nicht nur eine doppelte Tragödie begann, sondern auch eine Debatte, bei der man sich nur noch an den Kopf fassen kann.
Mit lauten Vorwürfen des Antisemitismus, Uni-Besetzungen, enthemmen Demonstrationen und einer Flut von Selbstgerechtigkeit, bei der der Philosoph sich wohl berechtigterweise fragt: Haben die Europäer eigentlich vergessen, warum sie Europa gegründet haben? Warum sie Sätze wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in ihre Verfassungen schrieben? Warum seit 300 Jahren europäische Philosophinnen und Philosophen an der Aufklärung arbeiten und versuchen, den streitenden und wütenden Menschen tatsächlich die Grundlagen des Menschseins zu vermitteln?
Radikaler Universalismus
Die erste Rede hielt er am 15. November 2023 in München. Da waren die Ereignisse im Gaza-Streifen schon kulminiert und die israelische Regierung hatte einen Krieg entfesselt, der das ganze Gebiet verheerte und Tod und Leid über die Palästinenser brachte, die dort lebten.
Die zweite Rede hielt er am 20. März 2024 in Leipzig bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung. Den bekam er für sein Buch „Radikaler Universalismus“, das sich natürlich genau mit dem beschäftigt, was das deutsche Grundgesetz formuliert. Und was seine Wurzeln bei Kant hat und Moses Mendelssohn und Lessing. Lessings „Nathan der Weise“ erwähnt er explizit, weil dessen Drama in Szene setzt, wie der kategorische Imperativ eines Kant tatsächlich mit Leben erfüllt wird.
Millionen deutscher Schulkinder beschäftigen sich mit dem Drama. Aber was lernen sie daraus? Warum vergessen die meisten dann, wenn sie hinaus ins politische Leben treten, was die Botschaft der Ringparabel ist? Nein: Toleranz ist es nicht. Und es geht auch nicht nur um das friedliche Zusammenleben (oder Koexistieren) dreier Weltreligionen. Auch wenn das Lehrplan-Material dies so in den Vordergrund stellt.
Es geht um Freundschaft. Freundschaft über Glaubensgrenzen hinweg. Freundschaft, die erst Respekt, Vertrauen und Frieden ermöglicht. Erst Freundschaft im wesentlichen Sinn schafft die Basis für so etwas wie die Europäische Gemeinschaft.
Die Idee Europas
Und über die redete Boehm besonders ausführlich am 7. Mai 2024 in Wien in seiner „Rede an Europa“. Auch diese Rede – wie schon in Leipzig – vom Rand des Publikums gestört. Die Lautstarken versuchen ja immer wieder, sich Gehör zu verschaffen und die vermeintliche Gegenseite zum Schweigen zu bringen. Jeder will absolut im Recht sein. Und liegt gerade deswegen falsch.
So wie auch die Streitparteien im Gaza-Streifen falsch liegen. Und wie auch Angela Merkel falsch lag, als sie die Unversehrtheit des Staates Israel zur deutsche Staatsraison erklärte. Dabei ist sie eine kluge Frau. Aber das Wesentliche hat sie ganz offensichtlich nicht verstanden. Das Wesentliche, das bei Autorinnen wie Hannah Arendt steht. Oder bei jüdischen Autoren wie Ernst Cassirer, die ja selbst erlebt haben, wie eine ins Absolutum getriebene Staatsdoktrin zum Verhängnis für einen ganzen Kontinent wurde.
Weshalb die Europäer nach dem Ende des Hitlerreiches eben keinen Staatenbund souveräner Staaten gründeten, wie es die heutigen Rechtspopulisten als Ziel deklarieren. Solche Staatenbünde gab es in der europäischen Geschichte immer wieder. Und sie endeten alle in Kriegen. Denn genau das hatte Immanuel Kant schon begriffen, dass es einen Frieden unter den Nationen erst geben kann, wenn die Nationen Teile ihrer Souveränität an die Gemeinschaft abgeben.
Und damit den Hobbes’schen Leviathan zähmen. Den Omri Boehm natürlich auch immer wieder erwähnt. Vor allem als Mythos, zu dem ihn Konservative und Reaktionäre nur zu gern machen, auch wenn sie sich dann „nur“ als stolze Patrioten verkaufen. Was immer wieder auf dasselbe hinausläuft: Nationalismus, eine mythische Überhöhung von Nation und Volk und irgendwelche obskuren Werte.
Das alte Gespenst Nationalismus
Diese Denkweise sitzt tief, stellt Boehm fest – bei Rechten und bei Linken. Beide pflegen einen Kult der Identitäten – und negieren damit das, was allen Menschen gemeinsam ist.
Und jetzt Omri Boehm im Originalton: „Während Europas Antwort auf sein zerfallendes Imperium darin lag, seine Souveränität zu dekonstruieren, indem es sie durch Würde begrenzte, lag die Antwort der Opfer darin, ihre nationale Souveränität für unantastbar zu erklären.“ Das bezieht sich auf die israelische Verfassung, die den jüdischen Staat als oberstes Postulat setzt, nicht die Menschenwürde.
Und das hat tragische Folgen – vor allem dann, wenn erzkonservative Regierungen wie die aktuelle unter Benjamin Netanjahu an die Macht kommen.
Omri Boehm: „Jede Seite beansprucht, etwas Ultimatives, Absolutes zu verkörpern, das die menschliche Würde desjenigen relativiert, die zur anderen Gruppe gehören.“ Das ist der alte Nationalismus, den die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg hinter sich zu lassen versuchten, indem sie Freundschaft und Würde zu gelebten Idealen machten. Wobei Omri Boehm auch sehr genau auseinander dividiert, was Ideal ist und was Mythos.
Und wenn ein nachdenklicher Philosoph entsetzt sein darf, dann klingt das bei Omri Boehm durchaus an. Denn diese „Relativierung der Würde der anderen Gruppe“ beschränkt sich nicht nur auf Israel und Palästina. Sie beherrscht auch das einträchtige Aufeinander-Einprügeln im europäischen Diskurs, der über Identitäten geführt wird, nicht über den Anspruch auf Menschenwürde, die für alle gilt.
Wasser auf die Mühlen der Populisten
Wem das in die Hände spielt, ist offensichtlich. Omri Boehm benennt es auch. Als nur zu berechtigte Frage: „Wie berührt die Duldung der entmenschlichten Logik eines totalen Krieges in Israel und Palästina Europas eigene jüdische und muslimische Bürgerinnen? Überlässt man damit nicht der populistischen nationalistischen Rechten das Feld, die überall um uns herum auf dem Vormarsch ist und sich auf die nationale Souveränität beruft, die das Völkerrecht infrage stellt und eine Staatsbürgerschaft auf der Grundlage ethnischer Zugehörigkeit fordert?“
Darauf gibt es viele Antworten. Aber ganz bestimmt keine, die wieder vom „Stolz der Nationen“ palavert. Von dem lassen sich zwar reine Menge Leute blenden – aber sie merken nicht, dass sie dabei wieder für falsche und verlogene Mythen in Anspruch genommen werden, die Staatsmythen einer Vergangenheit, welche die Europäer mühsam überwunden haben.
Und so appelliert Omri Boehm genau an das, was die Europäer tatsächlich verbindet: „Besteht auf der Realität eurer Ideale. Sie sind umso wichtiger aufgrund eurer historischen Verantwortung …“
Genau deshalb versuchen die Nationalisten ja, die EU zu schwächen oder gar zu zerstören und den Menschen wieder nationale Heldenlieder in die Hirne zu pflanzen. Ihnen also einzureden, der Mythos bestimme die Geschichte und Ideale seinen etwas für Träumer. Kraftmeiern konnten die Nationalisten schon immer. Ihre Kraftmeierei aber will Menschen dumm, blind und folgsam machen. Auch, indem sie Angst und Zynismus produziert.
Zynischer Konservatismus
Omri Böhm im Vorwort zu diesem Büchlein: „Zynischen Konservativen, von denen es auch nicht gerade wenige gibt, war es immer schon dienlich, den Unterschied zwischen Idealen und Mythen zu leugnen. Verzweiflung und zynischer Konservatismus gehen Hand in Hand. Und implizieren, ob aus Hoffnungslosigkeit oder Zynismus, dass es die Vernunft selbst nicht gibt, denn sie ist von einem Vermögen, welches Ideale aufzustellen (und natürlich auch zu kritisieren) vermag, auf ein Werkzeug im Dienste bequemer Mythen reduziert worden.“
Also auf etwas, was Kant nur ein grimmiges Kopfschütteln entlockt hätte. Mit Vernunft in seinem Sinne hat das alles nichts mehr zu tun.
Und so merkt man mit Boehm, wie sehr der Diskurs – nicht nur der über Europa – von zynischen Konservativen in den vergangenen Jahren immer mehr verdreht wurde. Und wie die Seelenverkäufer des Nationalismus wieder überall von Souveränität schwadronieren, wo sie in Wirklichkeit permanent die Würde anderer Menschen infrage stellen oder für entbehrlich erklären. Die gesamte verblödete Migrationsdebatte steht genauso dafür.
Und dabei war es genau das, wovor vor allem jüdische Autoren und Autorinnen warnten: die „Idolisierung des Mythos“. Denn die bedeutet immer, dass der „Leviathan“-Staat wichtiger ist als der einzelne, gefährdete Mensch in seiner Würde.
Stoff genug zum Nachdenken. Drei Reden, die es sich lohnt, immer wieder nachzulesen, weil sie uns eine Wahrheit sagen, die man im politischen Geplärre von Identität und Souveränität kaum noch wahrnehmen kann. Auch weil Narren aller Farben den Zynikern nachplappern, statt mutig die Würde des Menschen zu verteidigen. Und zwar gerade dann, wenn imperiale Kraftmeier meinen, ihre Interessen mit Krieg oder Terror kundtun zu müssen.
Omri Boehm „Die Realität der Ideale“ Ullstein Propyläen, Berlin 2024, 14 Euro.
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