Die Zeit wird es zeigen, was bleibt. Was wirklich bleibt. Auch von der Literatur, die in der DDR entstand, nicht zu verwechseln mit DDR-Literatur. Denn die Duckmäuser-Literatur im Sinne der Partei ist längst vergangen. Die anderen Autorinnen und Autoren aber, die immer das Erzählen über den Menschen in seinen chaotischen Verhältnissen in den Mittelpunkt ihres Schreibens gestellt haben, die werden bleiben. So wie Brigitte Reimann (1933–1973), die eigentlich nicht leben konnte, ohne zu schreiben.
Wie verflochten dieses Leben mit dem Schreiben war, das zeigt Ingeborg Gleichauf in diesem Buch, in dem sie die Romane und Erzählungen der 1973 mit nur 39 Jahren verstorbenen Autorin mit den Briefen abgleicht, die Brigitte Reimann zeitlebens in Hülle und Fülle schrieb: an Geliebte, an Freundinnen und Kollegen. Eine Fülle, die auch davon erzählt, wie lebenshungrig diese junge Frau aus Burg war.
Ein Lebenshunger, der von manchen Zeitgenossen zutiefst misstrauisch beäugt wurde. Auch die DDR war in ihrer Frühphase eine verklemmte Republik mit alten, ledrigen Ansichten, wie sich gerade junge Frauen zu verhalten hätten. Das änderte sich im Lauf der Zeit. Auch und gerade durch Autorinnen wie Brigitte Reimann, Christa Wolf und Maxi Wander, über die Carolin Würfel vor zwei Jahren das Buch „Drei Frauen träumten vom Sozialismus“ schrieb.
Wobei der Titel in die Irre führt. Die drei Autorinnen nahmen lediglich ernst, was die Funktionäre des Landes als schöne Fata Morgana an die Horizonte malten. So ernst, dass sie literarisch hinterfragten, wie man als Mensch in so einer Gesellschaft leben könnte und leben müsste. Und deshalb war kein anderes Buch ein derartiger Paukenschlag wie Brigitte Reimanns 1974 postum erschienener Roman „Franziska Linkerhand“. Ein Buch, in dem es Reimann endgültig gelungen ist, das Leben einer jungen Frau einzufangen, die in diesem Land (sogar in einer der neu aus dem Boden gestampfen sozialistischen Musterstädte) versuchte, ein für sie gültiges Leben zu leben.
Kompromisslos leben
Was Franziska nicht wirklich gelingt. Als würden sich die Menschen und Verhältnisse immer wieder entziehen. Oder ist es die Erzählerin, die sich entzieht? Die sich weigert, eine stromlinienförmige Geschichte zu erzählen, also das, was die Funktionäre eigentlich erwarten von „ihren“ Autoren? Irgendwie ein Loblied auf die Arbeiterklasse und den Aufbau des Sozialismus …
Doch so geschieht Leben nicht. Wer die Bücher von Brigitte Reimann liest, spürt es und fühlt sich gemeint. Das verunsichert. Denn sie zeigt den Menschen in seiner ganzen Unsicherheit, seinem Wünschen und Hoffen und Zweifeln. Und seinem Befremdetsein von dem, was ihm geschieht. Oder ihr.
Ist das eine besonders weibliche Sicht? In den Ansprüchen schon. Den Liebhabern in Reimanns Büchern ergeht es genauso wie den Liebhabern in ihrem realen Leben und ihren vier Ehen: Sie erleben keine Sicherheit. Die große Verliebtheit kann schon im nächsten Moment in völlige Entfremdung münden, total infrage gestellt. Denn die inneren Wünsche der Heldin kollidieren immer wieder mit einer Wirklichkeit, in der das tatsächlich Körperliche nicht auszuhalten ist.
Auch das erschütterte 1974 die Leserinnen und Leser: Wie bedingungslos Reimann die menschlichen Verhältnisse infrage stellte. Ohne Kompromisse, gnadenlos auch sich selbst gegenüber. Ingeborg Gleichauf zeigt sehr detailliert und ausführlich, wie sehr das dem tatsächlichen Leben der Autorin entsprach, wie sie mit sich rang, sich aber nicht fügte. Es war für die Zeit ein schockierend neues Frauenbild, das sie hier zeigte, in „Franziska Linkerhand“ noch stärker als in ihren vorhergehenden Romanen „Die Geschwister“ und „Ankunft in Alltag“.
Das Fragmentarische des Lebens
Wie bedingungslos kann man lieben? Wie radikal kann man seine Ehen infrage stellen? Wie unbedingt nach Liebe suchen, wenn es sie eigentlich nicht zu finden gibt? Jedenfalls nicht in dieser Absolutheit. Und so findet Brigitte Reimann ihre Schreibvorbilder auch nicht im kleinen, eingemauerten Ländchen, sondern bei den großen, bedingungslosen Autor/-innen der Weltliteratur. Gerade die französische Literatur hat sie verschlungen. Und war berauscht, als sie merkte, dass man anders erzählen kann. Dass Erzählen tatsächlich erst beginnt, wenn man die phlegmatischen Regeln des sogenannten Realismus verlässt.
Sie brauchte Zeit, um ihre wirkliche literarische Sprache zu finden. Auch deshalb war „Franzisaka Linkerhand“ ein Schock, weil es ihr hier – trotz alle Qualen – gelungen war. Der Roman ist überschattet von ihrer Krebserkrankung. Noch viel stärker als bei ihren vorhergehenden Büchern wurde hier deutlich, dass sie alles – auch ihr Leben – dem Schreiben unterordnete, vor allem diesem Buch, das sie noch fertigbekommen wollte.
Und das dennoch Fragment blieb. Vielleicht sogar bleiben musste. Denn der Roman erzählt ja selbst vom Fragmentarischen im Leben, dem, was eben nicht eindeutig zu fassen ist. Und was einen ja tatsächlich ratlos machen kann, zutiefst verunsichert, wenn nicht einmal das private Leben wirklich klar und eindeutig ist. Im Gegenteil: Wo Menschen ins Spiel kommen, wird es kompliziert.
Und Reimanns Heldinnen wissen um ihre eigene Kompliziertheit. Diese Erzählerin hat einfach aufgepasst im Leben. Oder wurde – auch durch ihre Krankheiten – gezwungen, derart aufzupassen. Und gleichzeitig war sie, was sich Männer eigentlich von Frauen wünschen, aber nie aushalten: resolut und absolut in ihren Erwartungen. Das demoliert am Ende alle Männer-Selbstbilder.
Auch wenn es durchaus Männer gab in Reimanns Leben, die durchaus bereit waren, das Absolute auch zu leben – auch im Schreiben. Ein Anspruch, der jeden zerreißen kann. Man braucht den Druck, das Beste aus sich herauszuschreiben. Und derselbe Druck kann einen überfordern und scheitern lassen. Und auch das kannte Reimann. Sie wusste, dass man das Jetzt dem Schreiben opfern muss, wenn man tatsächlich das schreiben will, was in einem gärt und kocht. Kaltes Schreiben war ihr Ding nicht. Das hätte sie wie ein Scheitern an den eigenen Ansprüchen empfunden.
Wann lebt man sein eigenes Leben?
Und so wurde ihr Scheiben zum Leben, ein Arbeiten am Sagbaren. So dicht wie möglich am Webmuster des eigenen Lebens. Und die Freundschaft mit Christa Wolf zeigte, dass es mindestens eine gab, die das ganz ähnlich sah, auch wenn sie sich nie so bedingungslos dem eigenen Werk unterwarf wie die Reimann, die in dieser kleinen, tristen DDR einen Anspruch ans Schreiben lebte, der weit über den Horizont dieses Ländchens hinausging.
Und so zeigte sie geradezu beiläufig, dass man die ganze Intensität des verwirrenden Lebens auch hier erleben konnte. Das Wort „Individualismus“ beschreibt es nicht wirklich, auch wenn es genau das war, was Franziska Linkerhand so besonders und damit auch erkennbar machte. Und damit für viele (junge) Frauen so vertraut. Hineingeworfen in ein Land, in dem das Utopische nur als Plattitüde formulierbar war.
Das zutiefst Menschliche, aber verwirrend blieb, ein Gemisch aus Hoffnung und Enttäuschung, wie es alle jungen Menschen kennen. Wann lebt man wirklich sein eigenes Leben? Ohne Verbiegen, ohne falsche Muster? Und wann erzählt ein Roman wirklich das, was die Erzählerin erzählen will und muss?
Wer die Bücher Brigitte Reimanns noch nicht kennt, lernt mit Ingeborg Gleichauf die wichtigsten Schlüssel kennen zu ihrem Werk, lernt die enge Verzahnung von Leben und Schreiben der Brigitte Reimann kennen. Und damit eine Frau, die so unbedingt und absolut ans Schreiben ging wie nur wenige andere schreibende Kolleginnen.
So unbedingt, dass sich nicht nur Leserinnen in ihren Büchern gemeint fühlen und angesprochen mit der Frage, die einen ein ganzes Leben lang beschäftigen kann: Lebe ich wirklich, was in mir angelegt ist? Oder lebe ich an allem, was wirklich wichtig ist, vorbei? Eine Erzählung, die zwangsläufig Fragment bleiben muss. Wie jedes suchende Leben.
Ingeborg Gleichauf„Als habe ich zwei Leben – Brigitte Reimann“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 18 Euro.
Keine Kommentare bisher