Ilko-Sascha Kowalczuk ist wütend. Und besorgt. Wütend über weichgespülte Wahrnehmungen der unmenschlichen SED-Diktatur, einseitiges Opfergehabe und Geringschätzung der Freiheit in Teilen Ostdeutschlands. Besorgt, dass er eines Tages erneut in einem autoritären politischen System aufwachen könnte. Kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September hat der streitbare Historiker einen engagierten Essay vorgelegt, der die ostdeutsche Geschichte seit dem Zusammenbruch der DDR als „Freiheitsschock“ erzählt und vor einem Rückfall in die Unfreiheit warnt.
Kein Diplomat, sondern wütender Kanalarbeiter
Mit der Wut ist es so eine Sache. „Sine ira et studio“, so wird es gelehrt, sollten Wissenschaftler an ihre Werke herangehen. Ein Ansatz, den Ilko-Sascha Kowalzuk, ohne ihn direkt zu zitieren, in seinem aktuellen Werk bewusst beiseite lässt: Das neueste Buch des Historikers und ausgewiesenen Kenners der DDR-Geschichte und des Kommunismus ist von Emotionen befeuert, die sich aber in seinem Fall als ungemein produktive Kraft erweisen.
Auf über 200 Seiten legt der Publizist und Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur pointiert dar, wie sich Ostdeutschland seit 1989 entwickelt hat und warum der liberalen Demokratie gerade hier, trotz erfolgreicher Freiheitsrevolution 1989/90, der Boden unter den Füßen zu entgleiten droht. Kowalczuk, der zuletzt nach jahrelanger Forschung 2023/24 die erste wissenschaftliche Biografie des DDR-Machthabers Walter Ulbricht in Band 1 und Band 2 nacheinander veröffentlichte, gilt als einer der schärfsten Intellektuellen in den Debatten um die DDR und Ostdeutschland.
Anpassung und Diskurs-Harmonie um jeden Preis sind, wohl auch biografisch bedingt, nicht die Sache des 57-Jährigen, der als Teenager mit dem DDR-System aneinandergeriet.
Hätte er immer nach „Regeln“ gespielt, wäre er heute vielleicht anders, hätte in seinem Leben womöglich mehr erreicht, bekennt der gebürtige Ost-Berliner. „Aber es braucht auch die Kanalarbeiter, sie tragen ihren Teil zum großen Ganzen, zum Funktionieren bei. Erst wenn sie ihre Arbeit einstellen, merken alle anderen, wie nötig, wie reinigend ihre Arbeit war, die sie immer wieder aufs Neue wütend macht“ (S. 21).
Schock der Freiheit
Flankiert von diesem Selbstverständnis begründet Kowalczuk die Kernthese seines Buches, wonach viele Ostdeutsche den Sprung in die Freiheit 1989/90 eben, anders als er selbst, nicht als Befreiung erlebt, nicht gefühlt hätten: „Ich nenne das Freiheitsschock“ (S. 11).
Folglich drängen sich Fragen auf, denen er in seinem Essay nachspürt: Warum scheint die ostdeutsche Gesellschaft so gespalten? Wie erklären sich ungezügelter Hass in „Social Media“ und auf den Straßen, woher kommt die starke Affinität zu Kräften wie der AfD oder dem BSW, teils mit unverhohlener Putin-Nähe, Demokratiefeindlichkeit und Diktatur-Verherrlichung?
Die Logik diktatorischer Systeme
Kowalczuk macht deutlich, dass er den oft von Autoritären gekaperten Freiheitsbegriff keinesfalls den Rechtsextremen vor allem in Gestalt der AfD und ihren völkischen Fantasien überlassen will. Doch auch zum linken Lager geht er auf Abstand, da dieses (natürlich unter anderen Vorzeichen und mit Literaturklassikern unterfüttert) ebenfalls gern für sich „wahre“ Freiheit und Demokratie in Anspruch nehme.
Nur: „Die historische Realität spricht überall dort, wo sie an die Macht kamen, gegen die linken und rechten Extremisten: Ihre totalen Staats- und Gesellschaftsvorstellungen führten regelmäßig zu totalitär verfassten Systemen, in denen systemlogisch kein Platz für jene war, die sich dem herrschenden Dogma nicht zu unterwerfen bereit zeigten oder die aus ‚objektiven‘ Gründen zu Feinden erklärt und entsprechend ausgemerzt, vertrieben, unterdrückt wurden“, argumentiert Kowalczuk (S. 17).
Diktaturen setzten und setzen dieses Prinzip erschreckend, aber in ihrer Logik folgerichtig um, wenn sie bestimmte Gruppen außerhalb der angeblichen Gemeinschaft stellen.
Dabei fehlt auch nicht der Verweis auf das heutige Russland: Wenn Wladimir Putin (dessen seit 2022 ausgeweiteter Krieg gegen die Ukraine, nebenbei bemerkt, auch der Angst entspringt, der Freiheitsdrang des Nachbarlandes könne eine Sogwirkung entfalten) Teile der Gesellschaft als „Unkräuter“ und „Ungeziefer“ bezeichnet (S. 177), ist der Weg zu Gewalt, Repression und Auslöschung nicht absurd, sondern die vorgezeichnete Konsequenz dieses manichäischen Feinddenkens.
Freiheit vs. „Diktatursozialisierung“
Freiheit beschreibt Kowalczuk als etwas Dynamisches, stets neu Auszuhandelndes, das keineswegs deckungsgleich mit sozialer Gerechtigkeit oder Gleichheit ist, niemals den „perfekten“ Endzustand erreicht (dass es keine absolute Freiheit gibt, sollte einleuchten).
Und klar: Jenseits theoretischer Freiheits-Reflexion (die ganze Bibliotheken füllt) bedeutet Freiheit für Kowalczuk vor allem konkret, sich in seine Angelegenheiten einzumischen, Eigenverantwortung zu leben, kurzum: „… das Heft des Handelns und die Gestaltung eigener Wege in die Hände zu nehmen“ (S. 10f.). Die Menschheit dürfe laut der berühmten Freiheitsformel von John Stuart Mill (1859) nur zum Eigenschutz und zum Abwenden der Schädigung anderer die individuelle Freiheit beschränken.
Zwar wurde dieses Prinzip auch im Westen bis heute nirgendwo perfekt umgesetzt, übt aber nach wie vor Strahlkraft auf viele liberal aufgebaute Staatswesen aus.
Im Kontrast dazu hatte die über 40-jährige SED-Diktatur das Prinzip individueller Verantwortungsabnahme quasi perfektioniert, indem der Lebensweg von Krippe, Kindergarten, Schule, Universität, Ausbildungsbetrieb und Arbeitsplatz bis hin zur Bahre weitgehend vorgezeichnet war. Umso heftiger war der Einschnitt, sich mit dem Ende des paternalistischen Vormundschaftssystems plötzlich selbst um Dinge kümmern zu müssen.
Ja, Freiheit und Verantwortung für das eigene Dasein sind anstrengend, unbequem, vielleicht sogar für manche eine Zumutung. In jedem Fall aber etwas, was erst ab 1989/90 mühsam eingeübt werden musste.
Folgen einer antifreiheitlichen Tradition und diktatorischen Sozialisierung wie in der DDR, die auch in Familien weitergegeben wurde, seien bis heute sichtbar, etwa in Form einer großen „Anzahl von Menschen, die mehr oder weniger durch die Demokratie irrlichtern“ (S. 95). Dazu kommt laut Kowalczuk auch die Globalisierung als Faktor der Unsicherheit für viele Personen, die sich auf der Verliererstraße sehen.
Wohlgemerkt geht es dabei oft weniger um einen realen Abstieg als die Angst davor, in Zukunft gesellschaftlich an den Rand gedrängt zu werden. Autoritäres, womöglich verschwörungsideologisches Denken allein in sozial-materieller Zurücksetzung zu verorten, greift nachweislich zu kurz.
Ostdeutschland war weder reines Objekt noch homogen
Überhaupt, das macht Kowalczuks Essay deutlich, bedeutet die Betrachtung des ostdeutschen „Transformationsschocks“ und seiner Folgen auch – vielleicht sogar eher – „weiche“, nämlich kulturelle, persönliche und politische Faktoren in den Blick zu nehmen, die sich freilich weniger scharf messen lassen.
Materiell waren die Folgen von Entindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit mit dem Umbau der DDR-Wirtschaft dank des bundesdeutschen Sozialstaats so erträglich wie in keinem anderen postkommunistischen Land. Aber es geht um mehr, denn der Verlust von Arbeitskollektiven, vertrauter Lebenswelt und einer Umgebung, in der man sich eingerichtet hatte, bedeutete nach 1989/90 eben millionenfach biografische Zäsuren, Erwerbsbrüche, gefühlte Zurücksetzung, den Verlust von Identität, Selbstzweifel, Zukunftsangst.
Kowalczuk nennt die Verwerfungen immens, und das waren sie ja auch. Doch es ist eine Stärke seines Buches, dass er die Ostdeutschen gerade nicht als eine der ominösen Übermacht namens Westen ausgelieferte Masse subsumiert und aus der Verantwortung entlässt (denke man nur an die ersten freien Wahlen vom März 1990).
Entsprechend harte Seitenhiebe bekommt, neben einigen anderen, unter anderem der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann ab, der mit seinem wütenden Bestseller „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“ die ostdeutsche Gesellschaft stark schematisiert, sie quasi zum handlungsunfähigen Objekt herabgestuft und Ursachen des Geschehens einseitig ausgelagert hätte.*
Eigene Kapitel zu AfD, BSW und Linken
Leidenschaftlich, gut lesbar und mit temperierter Furore schildert Kowalczuk weiterhin, wie es der völkisch-nationalistischen und rassistischen Nicht-Alternative AfD gelingt, unter Anschluss an dichotomische Welt- und Feindbilder („Wir hier unten, die da oben“) an unaufgearbeitete Befindlichkeiten im Osten anzuschließen.
Dem BSW von Sahra Wagenknecht bescheinigt der Buchautor, „programmatisch eine Schwesterpartei der AfD“ zu sein, die Namensgeberin ist für ihn „eine Person, die ungerührt russische Narrative verbreitet und ohne jede Empathie gegen die Ukraine hetzt, eine ungezügelte Antiamerikanistin zudem“ (S. 171), was durch Beispiele unterlegt wird.
Den Linken und ihrer Transformation von der SED über die PDS hin zur in Bundesländern (mit)regierenden Kraft widmet Kowalczuk ebenfalls ein kritisches Unterkapitel. Er thematisiert, wie sich der Westen den Osten „erfand“ (und hier liegt Dirk Oschmann natürlich nicht ganz falsch), genauso aber „erfand“ der Osten seinen Westen, oft idealisiert, sodass die Ent-Täuschung schon eingezeichnet war.
Nimmt man dann noch das rasante Tempo heutiger Umbrüche dazu (Beispiel KI und Digitalisierung), ist es nicht mehr weit zur Sehnsucht nach der sicheren Nestwärme einer rosarot verklärten Vergangenheit, die so nie existierte.
Bei der Freiheit gibt es keinen Kompromiss
In der Summe hat Kowalczuk in 20 Kleinkapiteln unabhängig davon, ob man jeder seiner Einzelheiten zustimmt, eine wirklich anregende Arbeit abgeliefert, die auf jahrzehntelange Forschung, Analyse und auch frühere Publikationen von ihm gründet (bspw. „Die Übernahme“, 2019 oder „Endspiel“, 2009, Neuauflage 2015). Das Gesamtprodukt ist neu.
Ein bis ins Detail verästeltes Geschichtsbuch ist „Freiheitsschock“ ausdrücklich nicht, wenngleich die Historie natürlich nicht zu kurz kommt, um die Genese bestimmter Zustände zu erklären. Es ist vielmehr ein zugespitzter, aufrüttelnder, aktueller und sehr persönlicher Essay, ein fulminantes Plädoyer für die Freiheit, weg von verbreiteter Meckerkultur und Opferrollen, eine klare Abfuhr in Richtung antiwestlicher, illiberaler Kräfte: „Demokratie und Freiheit werden auch bei uns dauerhaft nur Bestand haben, wenn der antitotalitäre Konsens stabil bleibt“ (S. 219).
Insofern kann Kowalczuks Schrift als Appell gelesen werden, im demokratischen und fairen Wettbewerb die Zukunft zu gestalten (und offene Baustellen gibt es in Europa und Deutschland wirklich mehr als genug). Demokratie, eine freiheitliche Verfassung sind dabei der Rahmen, in dem wir uns bewegen, eine „Aushandlungsarena“, wo es auch um Kompromissfindung und Zugeständnisse geht. Das kann gar nicht anders sein. Aber zwischen Freiheit und Unfreiheit gibt es nichts – und da ist das Buch zu recht kompromisslos.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock, Verlag C.H. Beck, München 2024, 22,00 Euro.
*Anmerkung zur scharfen Kritik an Oschmann: Dieser selbst hat bereits öffentlich mit Kowalczuk diskutiert und den Vorwurf, Ostdeutschland zu schematisch dargestellt und zum Objekt degradiert zu haben, nicht explizit zurückgewiesen. Jedoch verteidigte er seinen Ansatz im Kern als richtig, um anzuregen und eine entsprechende Wucht und Breitenwirkung zu erzielen.
Es gibt 8 Kommentare
Nein, lieber Autor, ich arbeite mich nicht ab, ich wollte nur daß Sie begründet wissen, daß Ihre Buchempfehlung bei mir beträchtliche Verwunderung ausgelöst hat, gelinde gesagt. Und jedenfalls mich nicht anspricht. Dem Buchautor von “Freiheitsschock” und seinem Verlag C.H.Beck sind noch viele Leser zu wünschen.
Hallo urs, ich werde aus Zeitgründen hier nicht auf jedes Detail eingehen können. Nur mal so viel:
1) (Zitat): “… dann widerspiegelt derlei einfach mal nicht mein diesbezügliches Vorleben. Gar nicht. Sie verwenden einfach eine Wessi-gängige, karikaturhafte Entstellung.” Da ich Sie nicht kenne, steht es mir nicht zu, über Ihr Leben zu urteilen. Was ich aber sicher weiß: Dass es auch in meiner Familie (die nicht zu Hardcore-Regimegegnern zählte, sondern zur großen Masse “dazwischen”) Beispiele gab, wo auf das Übelste von staatlichen Stellen gedemütigt wurde, und das einzig und allein bspw. aufgrund langer Haare oder einer eigenständigen Lebensentscheidung, die nicht ins offizielle Schema passte. Beispiele dieser Art gibt es zigfach und sie sind systembedingt. Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln halt nicht unbedingt (allgemein gesprochen). So wie ich Ihnen nichts unterstelle, unterstellen Sie bitte mir nicht, irgendwelche Klischees zu übernehmen.
2) Zitat: “Wenn heute jemand sagt, daß er oder sie in der DDR glücklicher gewesen sei, warum kann man diese Haltung nicht mal sacken lassen und sich fragen, was darin alles für Aspekte abseits des, sagen wir, erinnerungskulturellen Mainstreams liegen könnten? Derlei als Glorifizierung zu denunzieren, fänden Sie richtig?” – auch diese Thematik wird bei Kowalczuk angesprochen, und Sie könnten sich die Frage vielleicht besser beantworten, wenn Sie das Buch lesen. Gut, wollen Sie nicht, Ihre freie Entscheidung. Kurzum: Klar kann man auch in Dikaturen persönlich Schönes erleben, klar gibt es auch dort Bereiche, die mehr oder weniger funktionieren (das kann gar nicht anders sein, wenn ein System dauerhaft überleben will). Aber es war und blieb ein diktatorisches Gebilde, das schlecht mit Andersdenkenden, Abweichlern etc. umging, wirtschaftlich auf Dauer unfähig war und nicht umsonst 1989/90 von der Bildfläche verjagt wurde. Sie arbeiten sich weiter an etwas ab und das voller Überzeugung, wobei sich diese auf ein von Ihnen gar nicht gelesenes Buch gründet. Na, dann ist es so. Haben Sie noch einen schönen Sonntag. Grüße, LB
Wenn Sie. lieber Autor, schreiben, es hätte “die über 40-jährige SED-Diktatur das Prinzip individueller Verantwortungsabnahme quasi perfektioniert, indem der Lebensweg von Krippe, Kindergarten, Schule, Universität, Ausbildungsbetrieb und Arbeitsplatz bis hin zur Bahre weitgehend vorgezeichnet war.” dann widerspiegelt derlei einfach mal nicht mein diesbezügliches Vorleben. Gar nicht. Sie verwenden einfach eine Wessi-gängige, karikaturhafte Entstellung.
Und machen wir uns klar: Finger in Wunden zu legen wollen wir bitte Sadisten überlassen. Denn wenn schon Wunden, dann ginge es um Heilung. Und wenn Sie so wollen, gibt es mehrere Arten von Wunden: die der Opfer von DDR-Staats- und Partei-Willkür, und Opfer des Kahlschlags im Beitrittsgebiet. Die Ossis hätten es so gewollt, wird Kowalczuk an anderer Stelle zitiert. Ja, von Helmut Kohl und seinesgleichen in seiner Rede in Dresden vor der Frauenkirche sturmreif geschossene Leichtgläubige aus dem Tal der Ahnungslosen, denen von Kohls Mann für Wahlkampf, einem gewissen Karl Schumacher und dessen Helfern, etwa das Transparent mit “Kommt die DM, bleiben wir / kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!” in die Hand gedrückt wurde, mit Bambusstangen, einem Material, das in der DDR nirgendwo handelsüblich war. Die ARD- und ZDF-Journalisten, die damals 1989/90 vom seinerzeitigen Karl-Marx-Platz in Leipzig berichteten, verteilten selbst Fähnchen ohne Emblem, die sie in großen Stückzahlen aus ihren Autos holten, wie ein mir entfernt bekannter WDR-Mann, der damals auch dort war, glaubhaft versicherte. Es käme also schon darauf an, Wunden heilen zu lassen, finden Sie nicht? Kowalczuk bevorzugt absatzfördernden Grusel. Lesen Sie zudem einmal den gestern erschienenen Text von Peter Nowak auf Telepolis, dessen Ansicht ich weithin, aber schon nicht voilkommen teile und der besonders auf Kowalczuk bezugnimmt: https://www.telepolis.de/features/Wagenknecht-Partei-BSW-Ausgegrenzt-wegen-Friedenspolitik-und-Phantom-Kommunismus-9853372.html
Wenn heute jemand sagt, daß er oder sie in der DDR glücklicher gewesen sei, warum kann man diese Haltung nicht mal sacken lassen und sich fragen, was darin alles für Aspekte abseits des, sagen wir, erinnerungskulturellen Mainstreams liegen könnten? Derlei als Glorifizierung zu denunzieren, fänden Sie richtig?
Selbstverständlich drehen Sie, lieber Autor, mir meine Frage, was Kowalczuk denn damals erwartet hatte, wenn er aus seiner linientreuen Umgebung ausschert, im Munde rum, indem Sie die Abkürzung nehmen, ich würde Kowalczuk beschuldigen. Aber es war damals klar wie Kloßbrühe, daß der Apparat eingreift, um keine schlechten Beispiele aufkommen zu lassen. Die Tarife waren sozusagen bekannt. Es war auch nicht unbekannt, daß es nicht wenige gibt, die spitzelten. Letztlich hat man damals aber die Anzahl derer meist überschätzt (ein bedauerlicher Scheinerfolg des MfS). Sie finden ich verharmlose? Nöö, ich zähle im Geiste die, denen ich damals zurecht vertraute und heute noch vertraue. Wem vertrauen wir heutzutage neu und von Grund auf? Mehr? Hoffen wir mal.
Ich werde nicht zum von Ihnen, lieber Autor, vorgestellten neuen Buch Kowalczuks greifen, der, wie Sie betonen, gegen das Weichspülen der DDR anschreibt. Ich habe mich seit Jahrzehnten wirklich genug angestrengt, habe müsam eingeübt, bin sozusagen eine Selbstzumutung per excellance. Ich bleibe überzeugt davon, daß Bücher wie das Kowalczuks allenfalls nur einen kleinen Teil des Wesens des, sagen wir, bis heute andauernden Beitrittsgeschehens erfassen und damit einen wohigen Grusel des Überwundenhabens verbreiten, der uns aber wenig hilft, die Gegenwart zu durchdringen.
Und eins bleibt klar: Ossis und Wessis hatten und haben bis heute im realexistierenden Kapitalismus ungleichlange Spieße, um eine CH-übliche Metapher zu verwenden, und zwar insbesondere des Haus- und Grundeigentums. Machen Sie doch mal eine LZ-Recherche über die Eigentumsverhältnisse hinsichtlich von MFHs etwa in der Karl-Heine-Straße oder drumherum! Solange es der LZ aber um sog. Flächengerechtigkeit auf Fahrbahnen und Trottoirs geht, bleiben Sie ordentlich vom Kern von essentiellen gesellschaftlichen Problemem entfernt.
Freiheitsschock?
Für mich haben sich 89/90 nur die Diktaturen geändert – von der des Proletariats zu der des Kapitals.
Und so eine richtige Demokratie haben wir auch nicht, bestenfalls eine bürgerliche Demokratie.
Wer nicht paar hunderttausend Euro besitzt, also sich einen Rechtsstreit über mehrere Instanzen nicht leisten kann, ist doch nur schnödes Beiwerk.
Hallo Urs, ich stolpere bei Ihrer Art zu argumentieren über so manches.
1) “Man würde sich wünschen, Herr Kowalczuk würde mehr gute Haare an der Zone lassen …” – Wünschen kann man sich viel, bei einem Sachbich zählt die Realität. Soll ein Buchautor nur Schönwetterberichte abliefern, darf nicht provozieren und zuspitzen? Darf nicht den Finger in die Wunde legen, wenn bspw. eine signifikante Zahl der Menschen im Osten der demokratie skeptisch bis ablehnend gegenübersteht? Nein, der Autor weist auf Probleme hin und das ist richtig.
2) “Sie kennen Leute, die die DDR glorifizieren, lieber Autor?” – ja, ich hatte bereits Begegnungen und Gespräche bspw. im Familienkreis, in denen mindestens infrage gestellt wurde, ob es einem heute besser gehe als früher, und die DDR entsprechend gelobt wurde. Wobei ein ernsthafter Wille zur Rückkehr in damalige Verhältnisse wohl nur bei einer Minderheit besteht, nach meiner Ansicht.
3) “Was hat er in den Achtzigern denn gedacht, wie amüsiert die Staatsgewalt reagieren würde, wenn ein Parteikaderkandidat kraß ausschert?” – also der Betroffene ist schuld. Okay.
4) Wir haben viele Probleme in der Jetztzeit, und ich wage zu behaupten, dass der Buchautor das sofort unterschreiben würde (es kommt auch in seinem Essay zum Tragen, den Sie – korrigieren Sie mich gern – offenbar nicht gelesen haben. Jedenfalls klingt Ihre Kritik nicht präzise, eher sehr allgemein und frustriert). Und ja, Kowalczuk lässt keinen Zweifel, dass der Sprung in die Freiheit für ihn ein Gewinn gewesen ist. Aber der Schluss, weil eine problematische Vergangenheit und deren Weichspülung kritisiert wird, wird andersherum eine (unperfekte) Gegenwart in den Himmel gehievt, ist einfach absoluter Quatsch. Viele Grüße, LB
Sie kennen Leute, die die DDR glorifizieren, lieber Autor? Mir fällt niemand ein. Der Buchautor hat sich nichtsdestotrotz anscheinend entschlossen, Grusel aufleben zu lassen. Was hat er in den Achtzigern denn gedacht, wie amüsiert die Staatsgewalt reagieren würde, wenn ein Parteikaderkandidat kraß ausschert? Ich etwa war weder linientreu noch markant unangepaßt. Wobei, die Kirchenkreise in Leipzig, in denen ich mich in den Achtzigern bewegte, waren sogar Kirchen-intern unangepaßt.
Was die Heutzeit anbetrifft: es käme darauf an, diese weiter gefaßt zu analysieren, als I.-S. Kowalczuk willens oder imstande ist. Heute findet sich in jW ein lesenswerter Leitartikel eines gewissen Arnold Schölzel, der in den Siebzigern mit einem Panzerwagen aus der BRD in die DDR desertierte (und vom MfS zunächst für einen besonders originell daherkommenden Spion gehalten wurde): “Den Frieden wählen” https://www.jungewelt.de/artikel/482704.antikriegstag-den-frieden-w%C3%A4hlen.html
Man würde sich wünschen, Herr Kowalczuk würde mehr gute Haare an der Zone lassen, als bisher, und sich seine Thematik insgesamt in einem größeren Maßstab durch den Kopf gehen lassen.
Hallo Urs, das Schicksal Ihres Vaters ist schlimm und zeigt einmal mehr, dass eine Glorifizierung der DDR-Vergangenheit absolut falsch ist. Und was das Buch betrifft, dessen Lektüre ich Ihnen wirklich empfehlen kann: Ja, Herr Kowalczuk ist streitbar, ja, er spitzt pointiert zu und, hat einen klaren Standpunkt, provoziert (auch das ein Zeichen selbstgenommener Freiheit, das früher so nicht möglich war). Ob man ihm immer zustimmen will, würde ich für mich gar nicht mal sagen. Aber er ist für mich unverdächtig, die Gegenwart mit ihren vielen Problemen zu beschönigen. Beste Grüße, Lucas Böhme
Ilko-Sascha Kowalczuk hat das mit der Eigenverantwortung gut verstanden, um eigener Selbstvermarktung willen wirft er eine Kampfschrift auf den Markt, in der er, wie Sie, lieber Autor schreiben, vor einem Rückfall in die Unfreiheit warnt. Mein Vater vegetierte in den Fünfzigern im gelben Elend in Bautzen, als politischer Häftling. In den frühen Achtzigern starb er an den Spätfolgen. Mir würde es nicht in den Sinn kommen, bis heute mit betontem Zorn zurückzuschauen. Kowalczuk hingegen trägt, ganz wie Wolf Biermann, dazu bei, sich die Gegenwart noch tiefer schönzutrinken.