Ilko-Sascha Kowalczuk ist wütend. Und besorgt. Wütend über weichgespülte Wahrnehmungen der unmenschlichen SED-Diktatur, einseitiges Opfergehabe und Geringschätzung der Freiheit in Teilen Ostdeutschlands. Besorgt, dass er eines Tages erneut in einem autoritären politischen System aufwachen könnte. Kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am 1. September hat der streitbare Historiker einen engagierten Essay vorgelegt, der die ostdeutsche Geschichte seit dem Zusammenbruch der DDR als „Freiheitsschock“ erzählt und vor einem Rückfall in die Unfreiheit warnt.

Kein Diplomat, sondern wütender Kanalarbeiter

Mit der Wut ist es so eine Sache. „Sine ira et studio“, so wird es gelehrt, sollten Wissenschaftler an ihre Werke herangehen. Ein Ansatz, den Ilko-Sascha Kowalzuk, ohne ihn direkt zu zitieren, in seinem aktuellen Werk bewusst beiseite lässt: Das neueste Buch des Historikers und ausgewiesenen Kenners der DDR-Geschichte und des Kommunismus ist von Emotionen befeuert, die sich aber in seinem Fall als ungemein produktive Kraft erweisen.

Auf über 200 Seiten legt der Publizist und Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur pointiert dar, wie sich Ostdeutschland seit 1989 entwickelt hat und warum der liberalen Demokratie gerade hier, trotz erfolgreicher Freiheitsrevolution 1989/90, der Boden unter den Füßen zu entgleiten droht. Kowalczuk, der zuletzt nach jahrelanger Forschung 2023/24 die erste wissenschaftliche Biografie des DDR-Machthabers Walter Ulbricht in Band 1 und Band 2 nacheinander veröffentlichte, gilt als einer der schärfsten Intellektuellen in den Debatten um die DDR und Ostdeutschland.

Anpassung und Diskurs-Harmonie um jeden Preis sind, wohl auch biografisch bedingt, nicht die Sache des 57-Jährigen, der als Teenager mit dem DDR-System aneinandergeriet.

Hätte er immer nach „Regeln“ gespielt, wäre er heute vielleicht anders, hätte in seinem Leben womöglich mehr erreicht, bekennt der gebürtige Ost-Berliner. „Aber es braucht auch die Kanalarbeiter, sie tragen ihren Teil zum großen Ganzen, zum Funktionieren bei. Erst wenn sie ihre Arbeit einstellen, merken alle anderen, wie nötig, wie reinigend ihre Arbeit war, die sie immer wieder aufs Neue wütend macht“ (S. 21).

Schock der Freiheit

Flankiert von diesem Selbstverständnis begründet Kowalczuk die Kernthese seines Buches, wonach viele Ostdeutsche den Sprung in die Freiheit 1989/90 eben, anders als er selbst, nicht als Befreiung erlebt, nicht gefühlt hätten: „Ich nenne das Freiheitsschock“ (S. 11).

Folglich drängen sich Fragen auf, denen er in seinem Essay nachspürt: Warum scheint die ostdeutsche Gesellschaft so gespalten? Wie erklären sich ungezügelter Hass in „Social Media“ und auf den Straßen, woher kommt die starke Affinität zu Kräften wie der AfD oder dem BSW, teils mit unverhohlener Putin-Nähe, Demokratiefeindlichkeit und Diktatur-Verherrlichung?

Die Logik diktatorischer Systeme

Kowalczuk macht deutlich, dass er den oft von Autoritären gekaperten Freiheitsbegriff keinesfalls den Rechtsextremen vor allem in Gestalt der AfD und ihren völkischen Fantasien überlassen will. Doch auch zum linken Lager geht er auf Abstand, da dieses (natürlich unter anderen Vorzeichen und mit Literaturklassikern unterfüttert) ebenfalls gern für sich „wahre“ Freiheit und Demokratie in Anspruch nehme.

Nur: „Die historische Realität spricht überall dort, wo sie an die Macht kamen, gegen die linken und rechten Extremisten: Ihre totalen Staats- und Gesellschaftsvorstellungen führten regelmäßig zu totalitär verfassten Systemen, in denen systemlogisch kein Platz für jene war, die sich dem herrschenden Dogma nicht zu unterwerfen bereit zeigten oder die aus ‚objektiven‘ Gründen zu Feinden erklärt und entsprechend ausgemerzt, vertrieben, unterdrückt wurden“, argumentiert Kowalczuk (S. 17).

Diktaturen setzten und setzen dieses Prinzip erschreckend, aber in ihrer Logik folgerichtig um, wenn sie bestimmte Gruppen außerhalb der angeblichen Gemeinschaft stellen. Dabei fehlt auch nicht der Verweis auf das heutige Russland: Wenn Putin Teile der Gesellschaft als „Unkräuter“ und „Ungeziefer“ bezeichnet (S. 177), ist der Weg zu Gewalt, Repression und Auslöschung nicht absurd, sondern die vorgezeichnete Konsequenz dieses manichäischen Feinddenkens.

Folgen der „Diktatursozialisierung“

Freiheit beschreibt Kowalczuk als etwas Dynamisches, stets neu Auszuhandelndes, das keineswegs deckungsgleich mit sozialer Gerechtigkeit oder Gleichheit ist, niemals den „perfekten“ Endzustand erreicht (dass es keine absolute Freiheit gibt, sollte einleuchten).

Und klar: Jenseits theoretischer Freiheits-Reflexion (die ganze Bibliotheken füllt) bedeutet Freiheit für Kowalczuk vor allem konkret, sich in seine Angelegenheiten einzumischen, Eigenverantwortung zu leben, kurzum: „… das Heft des Handelns und die Gestaltung eigener Wege in die Hände zu nehmen“ (S. 10f.). Die Menschheit dürfe laut der berühmten Freiheitsformel von John Stuart Mill (1859) nur zum Eigenschutz und zum Abwenden der Schädigung anderer die individuelle Freiheit beschränken.

Zwar wurde dieses Prinzip bis heute nirgendwo perfekt umgesetzt, übt aber nach wie vor Strahlkraft auf viele liberal aufgebaute Staatswesen aus.

Im Kontrast dazu hatte die über 40-jährige SED-Diktatur das Prinzip individueller Verantwortungsabnahme quasi perfektioniert, indem der Lebensweg von Krippe, Kindergarten, Schule, Universität, Ausbildungsbetrieb und Arbeitsplatz bis hin zur Bahre weitgehend vorgezeichnet war. Umso heftiger war der Einschnitt, sich mit dem Ende des paternalistischen Vormundschaftssystems plötzlich selbst um Dinge kümmern zu müssen. Ja, Freiheit und Verantwortung für das eigene Dasein sind anstrengend, unbequem, vielleicht sogar für manche eine Zumutung.

Folgen einer antifreiheitlichen Tradition und diktatorischen Sozialisierung wie in der DDR, die auch in Familien weitergegeben wurde, seien bis heute sichtbar, etwa in Form einer großen „Anzahl von Menschen, die mehr oder weniger durch die Demokratie irrlichtern“ (S. 95). Dazu kommt laut Kowalczuk auch die Globalisierung als Faktor der Unsicherheit für viele Personen, die sich auf der Verliererstraße sehen.

Wohlgemerkt geht es dabei oft weniger um einen realen Abstieg als die Angst davor, in Zukunft gesellschaftlich an den Rand gedrängt zu werden. Autoritäres, womöglich verschwörungsideologisches Denken allein in sozial-materieller Zurücksetzung zu verorten, greift nachweislich zu kurz.

Ostdeutschland war weder reines Objekt noch homogen

Überhaupt, das macht Kowalczuks Essay deutlich, bedeutet die Betrachtung des ostdeutschen „Transformationsschocks“ und seiner Folgen auch – vielleicht sogar eher – „weiche“, nämlich kulturelle, persönliche und politische Faktoren in den Blick zu nehmen, die sich freilich weniger gut messen lassen.

Materiell waren die Folgen von Entindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit mit dem Ende der DDR dank des bundesdeutschen Sozialstaats so erträglich wie in keinem anderen postkommunistischen Land. Aber es geht um mehr, denn der Verlust von Arbeitskollektiven, vertrauter Lebenswelt und einer Umgebung, in der man sich eingerichtet hatte, bedeutete nach 1989/90 eben millionenfach biografische Zäsuren, Erwerbsbrüche, gefühlte Zurücksetzung, den Verlust von Identität, Selbstzweifel, Zukunftsangst.

Kowalczuk nennt die Verwerfungen immens, und das waren sie ja auch. Doch es ist eine Stärke seines Buches, dass er die Ostdeutschen gerade nicht als eine der ominösen Übermacht namens Westen ausgelieferte Menge subsumiert und aus der Verantwortung entlässt. Entsprechend harte Seitenhiebe bekommt, neben einigen anderen, unter anderem der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann ab, der mit seinem wütenden Bestseller „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“ die ostdeutsche Gesellschaft stark schematisiert, sie quasi zum handlungsunfähigen Objekt herabgestuft und Ursachen des Geschehens einseitig ausgelagert hätte.*

Eigene Kapitel zu AfD, BSW und Linken

Leidenschaftlich, gut lesbar und mit temperierter Furore schildert Kowalczuk weiterhin, wie es der völkisch-nationalistischen Nicht-Alternative AfD gelingt, unter Anschluss an dichotomische Welt- und Feindbilder („Wir hier unten, die da oben“) an unaufgearbeitete Befindlichkeiten im Osten anzuschließen.

Dem BSW von Sahra Wagenknecht bescheinigt der Buchautor, „programmatisch eine Schwesterpartei der AfD“ zu sein, die Namensgeberin ist für ihn „eine Person, die ungerührt russische Narrative verbreitet und ohne jede Empathie gegen die Ukraine hetzt, eine ungezügelte Antiamerikanistin zudem“ (S. 171), was durch Beispiele unterlegt wird.

Den Linken und ihrer Transformation von der SED über die PDS hin zur in Bundesländern (mit)regierenden Kraft widmet Kowalczuk ebenfalls ein kritisches Unterkapitel.

Bei der Freiheit gibt es keinen Kompromiss

In der Summe hat Kowalczuk in 20 Kleinkapiteln unabhängig davon, ob man jeder seiner Einzelheiten zustimmt, eine wirklich anregende Arbeit abgeliefert, die auf jahrzehntelange Forschung, Analyse und auch frühere Publikationen von ihm gründet (bspw. „Die Übernahme“, 2019 oder „Endspiel“, 2009, Neuauflage 2015). Das Gesamtprodukt ist neu.

Ein bis ins Detail verästeltes Geschichtsbuch ist „Freiheitsschock“ ausdrücklich nicht, wenngleich die Historie natürlich nicht zu kurz kommt, um die Genese bestimmter Zustände zu erklären. Es ist vielmehr ein zugespitzter, aufrüttelnder, aktueller und sehr persönlicher Essay, ein fulminantes Plädoyer für die Freiheit, weg von verbreiteter Meckerkultur und Opferrollen, eine klare Abfuhr in Richtung antiwestlicher, illiberaler Kräfte: „Demokratie und Freiheit werden auch bei uns dauerhaft nur Bestand haben, wenn der antitotalitäre Konsens stabil bleibt“ (S. 219).

Insofern kann Kowalczuks Schrift als Appell gelesen werden, im demokratischen Wettbewerb die Zukunft zu gestalten (und offene Baustellen gibt es in Deutschland mehr als genug). Demokratie, eine freiheitliche Verfassung sind dabei der Rahmen, in dem wir uns bewegen, eine „Aushandlungsarena“, wo es auch um Kompromissfindung und Zugeständnisse geht. Das kann gar nicht anders sein. Aber zwischen Freiheit und Unfreiheit gibt es nichts – und da ist das Buch zu recht kompromisslos.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock, Verlag C.H. Beck, München 2024, 22,00 Euro.

*Anmerkung zur scharfen Kritik an Oschmann: Dieser selbst hat bereits öffentlich mit Kowalczuk diskutiert und den Vorwurf, Ostdeutschland zu schematisch dargestellt und zum Objekt degradiert zu haben, nicht explizit zurückgewiesen. Jedoch verteidigte er seinen Ansatz im Kern als richtig, um anzuregen und eine entsprechende Wucht und Breitenwirkung zu erzielen.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar