Hinterher kann niemand sagen, er hätte es nicht gewusst. Jeder hätte es wissen können. Und Protest ist es schon lange nicht mehr, warum so viele Wähler in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, wo jetzt die Landtagswahlen anstehen, die AfD wählen wollen. Eine Partei, die schon im Vorfeld deutlich angekündigt hat, wie sie die Demokratie zerstören will. Denn wie man das macht, das kupfern die Populisten weltweit voneinander ab. Ihnen geht es nur um eins: ihre eigene Macht. Für immer.

Deswegen stellen sie Wahlergebnisse infrage, machen Gerichte lächerlich, reden von „denen da oben“, einer unsichtbaren Elite, die sich gegen „das Volk“ verschworen haben soll, wollen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen und Menschen mit Migrationshintergrund abschieben. Und das ist noch längst nicht alles, was die Vordenker der AfD sich alles ausgedacht haben, wie sie, wenn sie nur in die Nähe der Macht kommen, die Demokratie aushöhlen und in etwas verwandeln wollen, was mit Freiheit und Gerechtigkeit nichts mehr zu tun hat.

Und damit halten sie nicht mal hinter dem Berg, reden sogar öffentlich davon in der Überzeugung, dass ihren Wählern das alles völlig egal ist. Was da alles droht, wenn die AfD in Thüringen am 1. September auch nur 33 Prozent der Wählerstimmen bekommen sollte und im Landtag stärkste Fraktion wird, das haben engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter dem Dach des Verfassungsblogs einmal akribisch durchexerziert.

Denn Demokratie lebt davon, dass alle politische Akteure auch die gemeinsamen Spielregeln einhalten. Die sind zwar im Grundgesetz und in den geltenden Gesetzen festgelegt. Aber die Vordenker der AfD haben längst Strategien entwickelt, wie sie alle diese Spielregeln, die ein friedliches Miteinander ermöglichen, Stück für Stück aushebeln können.

Darum geht es im Thüringen-Projekt.

Wie ein Frosch gekocht wird

Und in diesem Buch hat der Jurist und Journalist Maximilian Steinbeis die Ergebnisse des Thüringen-Projekts ausführlich erläutert, all die längst schon durchdefinierten Strategien einer populistischen Übernahme der Macht, wie sie auch in Ländern wie Polen, Ungarn und Italien zur Blaupause für populistische Parteien geworden sind, die – wie in Ungarn – auch die Institutionen der Demokratie entkernen und gleichschalten und das ganze System so umbauen, dass andere Parteien auch bei Wahlen keine Chance mehr haben.

Eigentlich müssten die Thüringer längst erschrocken sein. Doch Steinbeis geht auch auf die Strategien ein, mit denen populistisch-autoritäre Parteien sich den Zugriff auf die komplette Macht nach und nach absichern. Es ist die Methode „Wie kocht man einen Frosch?“: „Sie kommen inkrementell: zwei Schritte vor und einen zurück. Man testet, womit man durchkommt und womit nicht, und wo man auf allzu viel Widerstand stößt, passt man die Maßnahme entsprechend an und täuscht dadurch noch Kompromiss- und Gesprächsbereitschaft vor. So werden, ganz allmählich, die Institutionen übernommen …“

Aber die Erpressungswerkzeuge werden vorher schon angewendet. Bei den letzten Thüringen-Wahlen war ja schon zu beobachten, wie leicht es fällt, etwa eine Partei wie die CDU an der Nase herumzuführen und einen FDP-Ministerpräsidenten von AfD-Gnaden zu küren.

Schon mit einer Sperrminorität von 33 Prozent kann eine AfD selbst dann, wenn sie nicht an der Regierung beteiligt ist, Entscheidungen blockieren und Stellenbesetzungen verhindern. Sehr genau geht Steinbeis darauf ein, wie es die AfD überall dort, wo sie schon in Parlamenten sitzt, mit Obstruktion (Wikipedia hat leider keinen eigenständigen Artikel zur politischen Obstruktion, sonst hätten wir den hier verlinkt.) schafft, nicht nur demokratische Prozesse zu lähmen. Sie nutzt das ganz gezielte Aushebeln von Absprachen und Regeln dazu, die Demokratie vorzuführen und ihren Wählern ein Bild zu vermitteln, als wären alle anderen Parteien faul, korrupt und unfähig. Nur sie nicht.

Im Spiegelkabinett

Im Spiegelkabinett der populistischen Blase funktioniert da. Natürlich streift Steinbeis kurz die Rolle der großen Internet-Plattformen, auf denen die AfD ihre Öffentlichkeitsarbeit gebündelt hat, wo sie als Partei massiv dominiert – von X bis YouTube. Orte, an denen es keine Regularien gibt, die Fake von Wahrheit trennen. Deswegen wüten AfD-Politiker auch so gern gegen die unabhängigen Medien (die ihrerseits längst durch diese gigantischen Internet-Plattformen unter Druck geraten sind) und werfen ihnen Parteilichkeit und Fehlinformation vor.

Das alles hat mit dem Wunsch anderer Parteien, die Wähler über ihre Arbeit zu informieren, nichts mehr zu tun. Es geht um die Erzeugung eines in sich geschlossenen Bildes, in dem nur noch die AfD als großer Sieger auftritt. Etwa in den Ausschüssen der Parlamente, wo man in der Regel kontrovers diskutiert und manchmal schwer zu Kompromissen kommt.

Keine andere Partei berichtet aus diesem zähen Ringen in den Ausschüssen und Parlamenten so exzessiv (und einseitig) wie die AfD und ihre massiv ausgebauten Social-Media-Teams. Aus den zähen Lösungsfindungen bastelt sie sich ein Bild einer nicht funktionierenden Demokratie. Auch wenn sie es am Ende allein war, die gemeinsame Beschlüsse verhindert hat. Denn das ist die Grundbedingung der Demokratie: Dass sich alle Bürger darin wiederfinden können und nicht eine Partei alle anderen fertigmacht.

Aber aus AfD-Sicht sieht das anders aus, wie Steinbeis feststellt: „Auch von den Beteiligungsrechten in den Ausschüssen und im Plenum macht die AfD regelmäßig auf eine Weise Gebrauch, die kaum zu etwas anderem taugt, als möglichst massenhaft billiges Material für die eigenen Blogs und Social-Media-Kanäle zu generieren und damit ihre Erzählung von der Korruption des Parteiestablishments und des ganzen Systems mit oft eigens zu diesem Zweck provozierter Evidenz zu filtern.“

Man provoziert, verbreitet Fakenews, beleidigt andere Abgeordnete. Und wenn es dann Protest gibt, wird das verkauft, als hätte man die anderen Parteien einfach so fertiggemacht. Es geht in diesen extra zurechtgeschnittenen Videoclips meist zu wie beim Mobben auf dem Schulhof. Und irgendwie scheint das eine Menge Leute zu begeistern, denen es herzlich egal ist, wie damit ein sowieso schon komplexes demokratisches System in einen Rummelplatz verwandelt wird. Und wie das Ringen um Kompromisse geradezu lächerlich gemacht wird. Es ist wie in ganz schlechten Western.

Wie man ein Land übernimmt

Aber was passiert, wenn die Wähler der AfD die nötigen Stimmen geben, dass sie tatsächlich in Regierungsbeteiligung kommt und die Macht hat, Ämter mit ihren Leuten zu besetzen? Geht das nicht vorüber, wenn die Partei nach fünf Jahren nichts Nennenswertes an Erfolgen vorzuweisen hat und ihre ganze Politik sich als Debakel erweist?

Das interessiert die AfD überhaupt nicht. Wenn man in ihre politischen Programme schaut, findet sich nicht ein einziger Ansatz, irgendeines der heutigen Probleme zu lösen und das Land erfolgreicher zu machen. Dieser Partei geht es genau wie der Fidesz in Ungarn oder den radikalisierten Republikanern in den USA nur um die Macht. Und zwar die dauerhafte Machtübernahme. Und dazu müssen sie die wichtigsten demokratischen Institutionen in ihre Hand bekommen.

Nicht nur die Parlamente oder einzelne Ministerien, sondern auch die staatliche Verwaltung, die Verfassungsgerichte, die Justiz überhaupt. Wenn man überall seine Leute sitzen hat, die die Regierungspolitik absegnen und durchsetzen, dann kann man das ganze Land umformen. Akribisch haben die Aktiven im Thüringen-Projekt gezeigt, wie das funktioniert.

Fast liest sich das Buch wie eine Handlungsanleitung für Populisten, die die Macht an sich reißen und das Land in eine autokratische Diktatur verwandeln wollen. Aber alle diese Gedankenspiele haben die Juristen und Vordenker der AfD längst durchgespielt. Genau das planen sie, wenn sie die nötigen Mehrheiten bekommen. Und mit jedem Zipfel Macht, den sie bekommen, erreichen sie weitere Handlungsmöglichkeiten, die Institutionen der Demokratie zu entkernen.

Bis die Bürger eines Tages in einem Land aufwachen, in dem Wahlen nur noch Alibi sind und in allen Bereichen, wo es jetzt noch die Freiheit gibt zu denken, zu leben und sich zu äußern, wie man will, auf einmal wieder Duckmäusertum um sich greift, weil jedes falsche Wort bedeuten kann, dass man seinen Job verliert, seinen Lebensunterhalt oder seine Freiheit.

Autokratische Liebesgefühle

Deswegen liebt die AfD Russlands Präsidenten so sehr, denn der regiert genau so ein Land, in dem jede freie Meinungsäußerung im Knast enden kann. Wo jede Opposition mit Polizei und Gerichtswillkür unterbunden wird. Wo nur noch eine Meinung zählt.

Das Seltsame für viele Wähler ist natürlich, dass die AfD genau das den anderen demokratischen Parteien vorwirft, wohl wissend, dass man Falschbehauptungen nur oft genug wiederholen muss, bis die Leute das falsche Bild im Kopf haben und alles glauben, was sie im Spiegelkabinett der AfD erleben. Wo auch emsig das Bild vom „homogenen Volk“ propagiert wird, also lupenreiner Rassismus.

Und damit es die Veführten nicht merken, wird den diversen politischen Gegnern einfach Ideologie vorgeworfen. Darin ist die AfD nicht allein – derart böswillige Behauptungen kennt man leider auch aus der Argumentation von CDU und FDP. Mit der Ideologie-Keule kann man alles verunglimpfen, was einem nicht passt. Und den Leuten einreden, es ginge doch nur um die eigene zu schützende Wertegemeinschaft.

Also die fiktive Volksgemeinschaft, die etlichen Leuten immer noch in den Köpfen wabert, heimelig angereichert mit verlogenen Familienidyllen, die auch im so gern gefeierten „widerständigen Osten“ schon lange nicht mehr funktionieren. Ganz andere Weichenstellungen sind notwendig, um die nun nicht mehr so neuen Bundesländer wettbewerbsfähig zu halten. Aber das kommt in den Rezeptboxen der AfD nicht vor. Sie feuert nur ihre Bilder einer homogenen Volksgemeinschaft an, die es so nie gab.

„Welche fürchterliche Gewalt ein autoritäres Regime auf die ihr Unterworfenen ausüben kann, vergisst man im warmen Schutz der demokratischen Verfassung leicht“, schreibt Steinbeis. „Sie trifft auch nicht alle gleichermaßen. Im autoritären Doppelstaat lebt es sich für diejenigen, die sich dem ‚wahren Volk‘ zugehörig fühlen dürfen und deshalb nicht die Willkür des Maßnahmenstaats, sondern weiterhin den regelgebundenen Schutz des Normenstaats spüren, noch eine Weile vergleichsweise angenehm.

Andere trifft es früher, direkter, härter. Je weniger sie auf die Solidarität derer, die (noch) nicht direkt betroffen sind, zählen können, umso mehr.“

Demokratie lebt von Fairness und Respekt

Die Kuschelwärme der Volksgemeinschaft trügt, hat schon immer getrogen. Denn dann regieren Willkür, Duckmäusertum, Feigheit und Opportunismus. Und natürlich Korruption – so wie in Ungarn und Russland. Dann „hält man lieber wieder die Klappe“ und heult mit den Wölfen. Die Meinungsfreiheit ist dann nur noch die Freiheit für eine Meinung – nämlich die der Herrschenden. Wer sich nicht fügt, gerät in den Befriedungsapparat der nun Herrschenden.

Denken Wähler nicht so weit? Sehnen sie sich tatsächlich nach solchen Zuständen zurück? Oder überlassen sie es dann wieder den Anderen, von der Demokratie zu retten, was vielleicht noch zu retten ist?

Natürlich hat das Thüringen-Projekt auch untersucht, wo die Grenzen durch Grundgesetz und die Verfassungen der Länder gesetzt sind – und wie leicht sich diese Grenzen aushebeln oder umgehen lassen. Etwas, was demokratische Parteien wohlweislich unterlassen, weil sie wissen, dass nur so dauerhaft ein faires politisches Miteinander gewährleistet ist. Aber Fairness gibt es im Kosmos populistischer Parteien nicht. Sie zielen auf die alleinige Macht, die durch die Übernahme aller wichtigen Institutionen durch ihre Leute abgesichert ist.

Und so hat selbst eine wehrhafte Verteidigung der Demokratie ihre Fallstricke – denn je repressiver der Staat dann auftritt, um Populisten und Autokraten den Zugriff auf die Macht zu verunmöglichen, umso mehr nimmt der demokratische Staat genau den Charakter an, den Autokraten so lieben. Weshalb sich Bundes- und Landespolitiker (mit Ausnahmen) bislang immer gehütet haben, diese Entwicklung loszutreten.

Was tun?

Was also tun, außer die Institutionen (wie das Bundesverfassungsgericht) jetzt möglichst wetterfest zu machen und dem möglichen Zugriff von autoritär-populistischen Parteien zu entziehen? Denn das Thüringen-Projekt zeigt ja, wie sehr die Demokratie gerade deshalb funktioniert, weil ihre Parteien all die ausgehandelten Spielregeln respektieren und einhalten und dass im Gegenzug der sture Wille zur Macht genügt, um all diese Vereinbarungen und Regeln zu demolierten und außer Kraft zu setzen.

Steinbeis appelliert deshalb dringend an die Wählerinnen und Wähler selbst, ihre Verfassung und ihre Demokratie dadurch zu schützen, dass sie an der Wahlurne die so leicht zerstörbare Demokratie wählen und den Populisten keine Stimme geben. Eigentlich etwas Selbstverständliches. Aber augenscheinlich glauben noch viel zu viele Wähler, dass ein Sieg populistischer Parteien unschädlich ist und sie dann einfach mal eine Legislatur lang zeigen können, ob sie es besser können.

Doch der Blick in die Praxis insbesondere der AfD zeigt eben, dass sie das gar nicht vorhaben, dass sie von Anfang an alles dafür tun werden, um den Zugriff auf demokratische und staatliche Institutionen zu bekommen. Oder – wenn die gewonnenen Prozente nicht reichen – durch Obstruktion die demokratischen Abläufe zu stören oder gleich in Misskredit zu bringen.

Bis die Leute glauben, es sei tatsächlich die Demokratie, die nicht funktioniert, obwohl nur eine einzige Partei alle Hebel nutzt, das demokratische Miteinander zu verunglimpfen und in ein Hauen und Stechen zu verwandeln und mit ihrem Gewicht auf der Waage Entscheidungen zu verhindern oder zu verzögern, bis ohne sie nichts mehr geht.

Dass man dann in ein juristisch überhaupt noch nicht abgeklärtes Feld kommt, wenn die AfD in Thüringen (oder Sachsen) tatsächlich an die Macht kommt und ihre Regierungsmacht dazu nutzt, auch Bundesgesetze und Bundesentscheidungen zu konterkarieren, erläutert das Buch auch. Wer sich mit den ganzen Plänen der AfD und ihrer rechtsextremen Verbündeten noch nie beschäftigt hat, für den dürfte Einiges an den Ergebnissen des Thüringen-Projekts sehr erschreckend vorkommen.

Aber das Erschrecken ist wichtig. Es ist keine heile Welt, die man mit autoritär-populistischen Parteien bekommt, sondern eine Welt, in der die Angst regiert. Auch bei denen, die glauben, qua Geburtsort und Hautfarbe zur richtigen Meute zu gehören.

Das ganze Buch ist ein einziger Appell, am 1. September lieber eine demokratische Partei zu wählen. Und sich vom heiligen Volksgesülze nicht einlullen zu lassen. Denn genau das ist das Problem des Frosches, der langsam gekocht wird und viel zu spät merkt, dass er den Topf nicht mehr verlassen kann.

Maximilian Steinbeis Die verwundbare Demokratie. Strategien gegen die populistische Machtübernahme“ Hanser Verlag, München 2024, 25 Euro.

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