Im Grunde hat sich der Historiker und Philosoph Jürgen Große schon in seiner dreibändigen Miniaturen-Veröffentlichung „Der gekränkte Mensch“ im Leipziger Literaturverlag mit dem Thema beschäftigt, dem er jetzt einen ganzen Theorie-Band widmet: dem Ressentiment. Denn Kränkung und Ressentiment sind aufs engste miteinander verwandt, auch wenn sich das beliebte Vorwurfs-Wort Ressentiment philosophisch nicht wirklich festnageln lässt. Denn an Ressentiments leiden wir alle. Wirklich: alle.

Was auch damit zu tun hat, dass die von Menschen geschaffene Zivilisation nicht wirklich menschengerechte Lebenswelten hervorbringt. Darüber philosophierten schon die alten Griechen. Aber so richtig Dampf bekamen die Überlegungen kluger Köpfe über diese misslichen Befindlichkeiten just in der Zeit der Aufklärung. Was kein Zufall ist: Um über das falsche Leben im richtigen (oder umgekehrt) überhaupt erst einmal nachdenken zu können, muss die erlebte Welt infrage gestellt werden können.

Was nun einmal eine Menge mit dem Infragestellen der alten feudalen Hierarchien und ihren Moralnormen zu tun hat. Und mit der gewaltigen Hoffnung, die vor allem die Französische Revolution von 1789 entfachte: Dass man jetzt endlich – demokratisch – daran ginge, eine freie und gerechte Gesellschaft für alle zu schaffen.

Nur ist das Dumme an der Freiheit, dass der Mensch dann – scheinbar – für alles selbst verantwortlich ist, was ihm zustößt. Ganz zu schweigen davon, dass Freiheit ein ziemlich oft missbrauchtes Wort ist, mit dem suggeriert werden soll, der Mensch könne ohne seine Einbindung in eine höchst komplexe Gesellschaft tatsächlich alleinbestimmt existieren. Ein Anspruch, der manchmal geradezu der Kern bürgerlicher Selbstdefinition zu sein scheint.

Alles nur Gefühl

Und so steht nicht ganz überraschend das bürgerliche Selbstbild im Zentrum von Jürgen Großes Reise durch die Welt des Ressentiments – angefangen mit einem ausführlichen Teil zur Theorie, der im Grunde die Entstehungs- und Umdeutungsgeschichte des Begriffs nachzeichnet – von den französischen Moralphilosophen über den gerade in Deutschland wirksam gewordenen Umwertungsschritt durch Friedrich Nietzsche (der die eigenen Ressentiments geradezu lustvoll ausblendete, während er über die Ressentiments der Kleinbürger wetterte) und insbesondere Nietzsche Nachwirkungen bei Klages, Cioran, Sartre und wie sie alle hießen.

Zwischendurch durcheilt man auch noch die Zeit der Romantik, die durchaus auch ihre ambivalente Haltung zum Gefühl artikulierte, in der neu entstehenden bürgerlichen Welt ihr Ideal vom ganzheitlichen Menschen nicht leben zu können. Da begegnet man dann auch Lieblingsautoren wie Novalis, Schlegel, Tieck und Arnim. Und natürlich den verschriftlichen Anfängen des Künstlertyps, der sich mit einem Federstrich über alle Malaisen des (spieß-)bürgerlichen Lebens erhob und zum selbstgemachten Genie verklärte.

Ein Typus, der in der späteren Ressentiment-Geschichte immer wieder auftaucht – auch bei Nietzsche, der so gern selbst ein sich derart über alles Philistertum erhebender, frei schwebender Geist gewesen wäre.

Kurz streift man die französischen Schwerter des Ressentiments – nämlich das Sentiment, mit dem genau das in die Literatur hereingeholt wurde, was die deutsche Romantik in ihren Auswüchsen zu einem Schaumbad der Gefühligkeit gemacht hat. Das Dichtergenie fliegt nicht nur in überirdische Höhen, sondern schwelgt auch lustvoll in seinen verletzten (und deshalb authentischen) Gefühlen.

Die Mitte in ihren Ängsten und Vorurteilen

Und je detaillierter man mit Große in die Interpretation der Philosophen schaut, die dieses Unbehagen und Grollen mit der tatsächlichen Welt versucht haben zu sezieren und zu katalogisieren, umso deutlicher wird, dass die Literatur hier tatsächlich einen zentralen Aspekt (klein-)bürgerlichen Selbstempfindens gestaltet, überhöht und romantisiert hat. Obwohl es am Ende nur um die ganz banale Befindlichkeit des Bürgers in einer Welt geht, in der Status alles ist – und immer gefährdet ist.

Und so wird das letztlich zu einer mentalen Analyse just jenes Teils der Gesellschaft, der sich so gern als „Mitte“ versteht, von Abstiegs- und Abgrenzungsängsten geplagt ist, sich ein Leben lang abstrampelt, um alle Merkmale des Erfolgs zu versammeln, und mit – zumeist stiller, innerlich kochender – Wut auf alle schaut, denen diese Regeln völlig egal zu sein scheinen. Und auf einmal merkt man: Die ach so wohltemperierte Mitte ist voller Radikalisierungstendenzen, Selbstüberhöhungen und letztlich unehrbarer Wünsche.

Oder mit Große: „Nicht wilde, sondern kalte Wut ist der Alias-Name des Ressentiments.“ Der brave Bewohner der Neuzeit steckt im Dilemma seiner eigenen Ansprüche und verwechselt sein Angepasstsein mit dem Vorwurf an jeweils durchaus andere Gruppen, sie würden aus dem Rahmen fallen, die Regeln nicht respektieren (Ordnung und Sicherheit!), sich unverschämte Freiheiten nehmen. Galt der hochmütige Blick des Kleinbürgers einst den provinziellen Konkurrenten, die die unausgesprochenen Regeln des Großstadtlebens nicht begriffen, erscheint heute alles als Provinz – und jeder als Herrscher (und Wärter) eines eigenen, nur zu gern als elitär verstandenen Reiches.

Frustriertes Gleichheitsverlangen

Gerade der Praxis-Teil des Buches zeigt dann anschaulich, wie sehr das Ressentiment als Ventil funktioniert und damit scheinbar unersetzlich ist in einer Gesellschaft, die zwar verspricht, alle Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen, dieses Versprechen naturgegebenermaßen aber nicht halten kann. „In der fortgeschrittenen Moderne ist der Bezug zum christlich-ritterlichen Motiv des Racheverzichts geschwächt“, schreibt Große. „Ressentimentgefühl und Ressentimentbegriff werden zusehends mit Fragen sozialer Gerechtigkeit konnotiert, insbesondere mit frustriertem Gleichheitsverlangen.“

Denn: Wem will man denn eigentlich gleich sein? Wo definiert eine Wirtschaftsordnung, in der Gier, Neid und Selbstverwirklichung treibende Kräfte sind, eigentlich das erfüllende Gleich-Sein? In der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft ist das ja gerade das Nicht-Erfüllbare, weil sie davon lebt, dass sie immer neue Wünsche, immer neue Sehnsüchte und Bilder von dem erzeugt, was einem zusteht.

Ergebnis ist eine Gesellschaft der permanenten Unzufriedenheit, in der dann auch noch der Raum des Sprechenkönnens ungerecht verteilt ist. Denn der gehört nicht denen, die in der Erwartungsschlange ganz hinten stehen. Der gehört den Leuten, die Zeit genug haben, über alle Zumutungen nachzudenken, die ihr Leben zwangsläufig als fremdbestimmt erscheinen lassen.

Und die auch die Freiheit haben, ihrem Missmut, ihrer Verletztheit, ihrem Gekränktseins öffentlich Gehör zu verschaffen und das Lamento zu zelebrieren. Die modernen Medien geben ihnen allen Raum dafür und zeigen – wenn man dann wie Große genauer hinschaut – ganze Blasen von Menschengruppen, die sich alle auf unterschiedlichste Weise gekränkt fühlen. Und ihren Groll auch gern wutschnaubend äußern, wenn sich das Gefühl der Verletzung auch noch mit dem Gefühl der Machtlosigkeit paart.

Was weniger daran liegt, dass die Träger des Ressentiments tatsächlich machtlos sind. Das führt jetzt schon ein wenig über das Buch hinaus, das ja letztlich in vielen Facetten zeigt, wie eng das Ressentiment mit dem Problem der eigenen Identifikation zusammen hängt – und damit der als respektiert oder abgewertet empfundenen Rolle in einer Gesellschaft, in der man für die eigene Identifikation tatsächlich angefeindet, herabgewürdigt und ausgegrenzt werden kann.

Oder sich auch stellvertretend angegriffen fühlen kann. Es ist ja nicht so, dass unsere Gesellschaft keine Hierarchien kennen würde und den verbissenen Kampf der Mitglieder dieser Hierarchien um einen Platz weiter oben in der Konstruktion, wo man vielleicht weniger gedisst, dafür mehr beneidet wird.

Falsche Glücksverheißungen

Aber selbst dem Künstler ist es unmöglich, sich – siehe Nietzsche – dem Gefühl der Zurücksetzung und fehlenden Anerkennung zu entziehen, auch wenn sein Zarathustra deswegen auf einsame Bergeshöhen entflieht, um dem Lärm der Philister in der Stadt zu entkommen. Sehr schön zeigt Große, dass man sich eben nicht darauf versteifen kann, nur in den Provinzlern, Kleinbürgern, Philistern deren Ressentiments zu sehen. Auch die Philosophen der ach so abgehobenen Elite stecken voller Ressentiments und leben in ihren eigenen Provinzen. Und manche reflektieren das wenigstens und zeigen nicht immer nur mit dem Finger auf Andere.

Erlösung gibt es am Ende des Buches sowieso nicht, denn wenn eines klar geworden ist, dann ist es die simple Tatsache, dass mit dem generalisierten Versprechen an alle Bürger, ihnen den Weg zum Glück zu eröffnen (in der amerikanischen Verfassung steht es ja sogar explizit), tatsächlich der Weg eröffnet wurde zu einem großen, alle umfassenden Unglücklichsein. Erstens, weil die Maßstäbe nicht stimmen und es immer Andere gibt, die man beneiden und betrollen kann. Und zweitens, weil Wohlstand und Glück weder deckungsgleich sind, noch in dieselbe Kategorie gehören.

Dafür lassen sich Ressentiments schön schüren und missbrauchen. Mit ihnen kann man Politik machen, weil es immer eine Menge Leute gibt, die sich benachteiligt und übersehen fühlen und selbst mal den Platz an der Sonne einnehmen möchten. Und da taucht natürlich die Frage auf, die bei Große immer mitschwingt, wenn er die Entwicklungen des Ressentiments insbesondere seit Nietzsche genauer betrachtet: Können wir das irgendwie bändigen?

Oder sind wir jetzt verdonnert dazu, jedes Mal zuzuschauen, wenn mit Ressentiments nicht nur die kalte, sondern auch die heiße Wut geschürt wird und Neid und Rachsucht die politische Agenda besetzen?

Eine heillose Familie

Eigentlich ein überraschender Befund, wo doch Demokratie vom aufgeklärten, vernunftgesteuerten Bürger lebt. Doch die Wucht des Ressentiments entdeckt Große eben nicht nur bei den „kleinen Leuten“, sondern just da, wo eigentlich der bürgerliche „Erfolg“ zu Hause sein müsste: in der konservativen Politik, die ihren Schwerpunkt ganz offensichtlich darin hat, ihr „Ressentiment gegen Arme, Alte, Arbeitslose und andere vermeintliche Wohlfahrtsparasiten“ öffentlich zu machen. „Naturalistischen Zynismus“ nennt es Große.

Wenn man schon keine Neider hat, dann erfindet man sich eben ein paar und drischt wortgewaltig auf sie ein. Und so landet man mitten in einer zersplitterten Gesellschaft, in der sich hinter lauter Neiddebatten die Unfähigkeit zeigt, sich anders zu denken als ein benachteiligtes oder gar bestohlenes Mitglied einer heillos kaputten Familie.

Und auch wenn sich der Begriff philosophisch nicht festnageln lässt und gerade die Reise zu den Anfängen zeigt, dass er ursprünglich gar nicht das beschrieb und markierte, als was er heute funktioniert, wird doch deutlich, dass das Ressentiment geradezu ein wesentlicher Baustein der modernen Konsumgesellschaft ist und von Anfang war. Einer Gesellschaft, die den Status des Individuums stets danach bemisst, was einer besitzt und darstellt, nicht nach dem, was einer ist.

Und so stecken viele sonst ziemlich disziplinierte Bürger in einem Unbehagen fest, das ihnen suggeriert, ihnen würde immerfort Unrecht geschehen. Doch sie können nicht wirklich fassen, warum und durch wen. Und so blüht der Verdacht, dass es da draußen doch allerlei Verschwörer und Individuen geben muss, die einen auf heimtückische Weise daran hindern, ein erfüllendes und erfülltes Leben zu leben.

Wer es dann genau ist, der schuld an der Misere sein darf, ist dann fast schon egal. Hauptsache, man hat ein Feindbild und ein Gesicht, an denen man seinen stillen Groll alleweil auslassen kann.

Ein nicht ganz leicht zu lesendes Buch, was eben auch an der ganzen Verzwicktheit des Ressentiments liegt. Oder besser: der Ressentiments. Denn selten kommt eines allein. Und je mehr beisammen sind, um so schöner ist es, gemeinsam die belämmerten Zustände zu beklagen.

Jürgen Große „Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments“ Büchner Verlag, Marburg 2024, 39 Euro.

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