Es gibt Menschen, dir haben ganz einfach ein poetisches Verhältnis zu ihrem Leben. Deswegen sehen sie auch das Seltsame und Verstörende in all dem, was ihnen geschieht, das es sich lohnt, in kleinen Texten einzufangen und festzuhalten. Sie haben sich das Wundern über die Welt und ihr Leben bewahrt. So wie Daniel Schenk, der sich als Künstler Califax nennt und unter anderem zauberhafte Sitzbänke in Leipziger Parks gestaltet. Am 24. April feierte er im Salon Similde Premiere für seinen ersten Gedichtband.

Der versammelt nicht nur lauter Gedichte, die Califax seit den 1990er-Jahren geschrieben hat, sondern auch eindrucksvolle Schwarz-Weiß-Fotografien, die den Blick des Dichters auf die Welt ergänzen, die aber auch zeigen, wie seltsam die Landschaften sein können, in denen wir leben.

Und seltsam ist diese Welt. Wer sich nicht bedudeln lässt von der großen Unterhaltungsmaschinerie, sondern sich auf die Wirklichkeit einlässt, der merkt, was für ein unerhörter Moment das ist, in dieser Welt zu sein. Einer Welt, in der sich eine Menge Leute bemühen, sie für die anderen Menschen unaushaltbar zu machen – getrieben von Gier und Egoismus.

Die besten Brocken

Wer wie Califax den ganzen Tumult seit 1990 im wilden Osten miterlebt hat, der hat eigentlich einen sehr nüchternen Blick auf das, was da geschieht. „Meine Welt / zerbröselt / der Mut sinkt / Köter knurren / um die besten Brocken/ Raben / Spatzenbanden / für jeden ist etwas dabei“, schreibt er 2016. So wie es einem, der offenen Auges seiner Wege geht, eben auf- und einfällt. Das tierische Leben auf der Straße wird zum Spiegelbild einer Gesellschaft, in der sich hungrige Köter um die besten Brocken balgen.

Während wir einander versichern, dass alles in Ordnung ist. Wir haben ja gelernt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, die Augen zu verschließen und uns abzuwenden, wenn die Rücksichtslosen wieder beginnen, die Arena an sich zu reißen. Schon 2003 schreibt Califax: „Es läuft schon / geht schon / nee, ist schon gut …“

Und gar nichts ist gut. Schon gar nicht der Zustand unserer Welt. Da lässt er es natürlich zu, traurig zu sein, auch das Selbstmitleid lässt er zu, ganz für sich allein. Denn wenn man die Trauer auch noch teilt, wird man sie erst recht nicht los.

Denn manchmal sind Menschen wie Califax ja doch nur diejenigen, die mit den Sorgen der Anderen zugeschüttet werden, weil er zuhört und ganz offensichtlich noch eine dünne Haut hat, die nichts abhält. Dabei will er doch auch nur „einen Bissen Leben in der Hand / um daraus Kraft zu schöpfen / für die Ängste / und Sorgen anderer“, wie er 1998 schrieb.

Denn das weiß er ja auch: Wo sollen die Anderen hin, wenn keiner mehr zuhört?

Herr Meier will

Dann geht es einem ja wie Herrn Meier in einem 2020 geschriebenen Gedicht, in dem Herr Meier auch mal will: „Nein! Das ist mein Förmchen! / ziehen sie / stampfend mit dem Fuße / zum Reichstag hin.“

Da hat der Dichter ja sogar Verständnis für – und fühlt sich trotzdem weder gemeint noch gefragt. Dafür zutiefst frustriert, weil diese Lauten den ganzen Raum ausfüllen mit ihrem „Will! Will! Will!“ Und nicht merken, wie sie damit den Stilleren, den Einfühlsamen die Luft nehmen und die Hoffnung. Denen, die im Kleinen das Leben sehen, das zu Bewahrende und Vergängliche, in dem sich die Erinnerung an Kindheit und Ermahnung mischt mit dem Begreifen der allgegenwärtigen Vergänglichkeit. Denn wofür sind wir da?

Natürlich benutzt er kein „wir“. Er bleibt bei sich. Es ist seine Sicht auf die Dinge. Manchmal eine zutiefst melancholische: „Abstand halten / fernhalten / erst mal / zurückziehen / und grübeln / sich den Kopf / zerbrechen“, beginnt er 2016 ein Gedicht. Das ihn zerbrechlich zeigt und vorsichtig. Scheinbar ein Eigenbrötler, wie die Lauten und Immergerechten sagen würden.

Die gar nicht merken, dass sie nichts merken. Dass etwas sie stören und verstören sollte. Und still sein lassen. So wie Califax, der im Sich-Zurücknehmen nicht nur Schutz sucht, sondern sich auch seiner Verunsicherung bewusst wird. Der eigenen Fehlerhaftigkeit, die wir meist so schwer aushalten: „und ich lernte / die gleichen Dummheiten / anders zu begehen!“

Platzen vor Angst

Anders lernt man gar nicht, sich einzufühlen und mitzufühlen. Zuzuhören und nicht nur so zu tun, als täte man das. Kein Wunder, dass ihn die Herren Meiers verstören, mit ihrem selbstgerechten Lärm. Als zählte die Verletzlichkeit der Anderen nicht. Vielleicht, weil man mit Lärm die eigene Verunsicherung wegschmettern kann.

Denn wo wir allein mit uns sind, konfrontiert mit unseren Unsicherheiten, lauern die Zweifel. „Und manchmal / weiß ich nicht wer ich bin / und schlage um mich / fühle ich mich so klein / und so hilflos / und könnte platzen / vor Angst“, schreibt er 2019.

Und beschreibt damit ein Gefühl, das auch die Herr und Frau Meiers kennen, aber ungern zulassen. Denn es ist so verstörend, nicht alles zu beherrschen, keine Macht zu haben, worüber auch immer. Auch nicht über das, was einem zustößt im Leben. Oder längst zugestoßen ist, irreparabel für den Rest des Lebens, wie die Nicht-Begegnung mit dem Vater in einem Gedicht, das Califax auch 2019 schrieb. Manchmal kommt die eigene Sprachlosigkeit genau daher – aus der Abwesenheit der Älteren, die sich nicht die Mühe geben wollten, die Menschlein in ihrem Schatten wahrzunehmen.

Viele erwachsen Gewordene dürften sich wiedererkennen in einer so intensiv wahrgenommenen Szene mit einem alten Bleistift des Vaters, der in einer Mauer steckte: „ich nahm den Bleistift / ein paar Kringel gab er noch her/ dann fiel er auseinander / und dennoch, so nah / waren wir uns nie.“

Der staunende Blick auf den Wassertropfen

Das sind zwar ganz persönliche, fast intime Gedichte. Aber in ihnen spiegelt sich eine Wirklichkeit, in der dieses Fremdsein derer, die einem eigentlich nahe sein sollten, das Normale ist. Das Immer-wieder-Erlebte. Und damit Nicht-Erlebte. All diese abwesenden Väter, die sich immer um „Wichtigeres“ kümmern mussten, aber keinen Nerv hatten für die Nächsten. Kein Wort, keine Geste, keine Zuneigung.

Und da ist es, als erkenne man sie wieder in den Meiers, die auf der Straße rufen und aufstapfen, weil sie nicht genug erhört werden. Obwohl sie nie zuhören und auch nicht zuhören wollen. So gesehen auch ein leicht bitterer Gedichtband über die Einsamkeit, mit der dann die Jungen zurückbleiben, während „Konsum, Konsum“ alles zudröhnt. Als könnte man sich damit Leben kaufen.

Und nicht mit dem staunenden Blick auf den Wassertropfen auf der Schulter, in dem die Sonne lacht und der Wind spielt. Ein so vergänglicher Moment, der einen aber gerade deshalb daran erinnert, wie vergänglich alles ist, was uns geschieht.

Califax „Tropfen auf der Schulter“, Selbstverlag, Leipzig 2024, Kontakt: artikulat.de

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