Es gibt Autoren, die wirklich erzählen können, bei deren Texten man merkt, dass sie die Leser wirklich fesseln und mitreißen wollen. Die eine oder der andere lebt sogar in Leipzig, der Stadt, in der man nicht wirklich glaubt, dass man hier auch nur einen einzigen vernünftigen Satz geschrieben bekommt, ohne dass einem Laubbläser, Rasenmäher, Motorradgeknatter und anderer wildgewordener Lärm das Gehirn zerschreddert. Aber Domenico Müllensiefen hat es geschafft. Schon zum zweiten Mal.

2022 überraschte der in Magdeburg geborene Wahl-Leipziger, der seine Kindheit auf einem Bauernhof in der Altmark verbrachte, die Lesewelt mit seinem Roman „Aus unseren Feuern“, der vor allem durch die gewaltige Erzähllust bestach, aber auch durch die Tatsache, dass er sich bildgewaltig und gefühlsheftig in die Welt der Underdogs begab, die tatsächlich diejenigen waren, die den Transformationsprozess nach 1990 auf ihren Schultern tragen mussten – und erlebten, wie es sich lebt mit mieser Bezahlung, bescheuerten Chefs, fehlenden Zukunftsaussichten und dem Tod der besten Freunde, die im Rennen um ein Plätzchen an der Sonne auf der Strecke blieben.

Und Müllensiefen, 1987 geboren, kann direkt aus dem Leben dieser gebeutelten Generation erzählen. Mit seinem neuen Roman geht er dorthin, wo auch für ihn alles begann: in die Altmark. In Orte, die er mit Jeetzenbeck, Altenwedel, Lötzek oder Obersfelde kräftig verfremdet. Aber wer sich schon einmal in diese flache Landschaft hinter Magdeburg verloren hat, erkennt die Orte wieder.

Und erkennt auch das Gefühl wieder, das einen dort überall beschleicht, ein Gefühl von Hier-passiert-nichts-mehr. Diese Gegend haben sie abgeklemmt. Hier fährt nicht mal mehr ein Zug nach Amerika ab. Und die letzte Bahnstrecke mit der „Ferkeltaxe“ wird jetzt auch noch stillgelegt, weil schon lange keiner mehr mit dem Zug fährt.

Wenn du nur noch abhauen kannst

„Wir waren die erste Generation, die im vereinigten Deutschland aufwuchs, wir waren die erste Generation, über die es nichts mehr zu berichten gab und für die sich niemand interessierte“, erzählt Marcel in seiner Geschichte an einer Stelle, an der er sich erinnert, wie seine Schulkameraden sich damals alle nach und nach in Nazi-Klamotten präsentierten, um auf dem Schulhof irgendetwas herzumachen.

Weder die Eltern noch die Schule noch die Gesellschaft interessierten sich für diese Generation, stellt Marcel fest, der im Moment der Erzählung als Drehspießverkäufer in der Nähe des Bahnhofs arbeitet, also so etwas hat wie einen Job, anders als sein einziger Freund Pascal, der sich nur noch durchs Leben säuft.

Doch eigentlich geht es um alte Geschichten – um Steffi, die vor 20 Jahren einfach aus Jeetzenbeck verschwunden ist, Tochter der Lehrerin, die Marcel die Schule zur Qual gemacht hat. Am Tag vor ihrer letzten Prüfung ist sie einfach verschwunden. Und wenig später hat sich Vanessa, Marcels kleine Schwester, mit dem „blauen Monster“ umgebracht, dem getunten Auto, das er aus der Werkstatt „ausgeliehen“ hat, in der er eine deprimierende Lehre als Automechaniker angefangen hatte.

Marcel lebt in lauter nicht zu Ende erzählten Geschichten. Die meisten Altersgenossen haben das Nest schon lange verlassen, um anderswo Jobs und eine Zukunft zu finden. Am Ortsrand stehen die Ruinen der Einfamilienhäuser, die sich die frisch vereinigten Bewohner des Kaffs vor 30 Jahren glaubten, auf Kredit leisten zu können. Zu Zeiten, als sie alle noch einen Job hatten, auch Marcels Vater Ralf, der damals ebenso schnell und gründlich aus dem Lebe seiner Familie verschwand.

Sprachlose Väter

Und so merkt man nach und nach, dass es auch die Geschichte von Vätern ist, die ihren Kindern gegenüber gründlich versagt haben, falsch abgebogen sind und auch 20 Jahre später nicht wirklich begriffen haben, was sie ihren Frauen und Kindern angetan haben. Die ihre Versprechen nie gehalten haben, aber sich wie die Zauberer benahmen, die gleich, gleich ein Wunder vollbringen würden.

In diesem seltsamen Jahr 2023, in dem scheinbar alles verfahren ist und Marcels Erinnerungen an Steffi nur noch traurig vor sich hin glühen, taucht dieser Vater wieder auf. Doch Marcel merkt schnell, dass der Ältergewordene nichts dazugelernt hat.

Man fühlt sich wie in einer dieser bitterbösen Geschichten von Roddy Doyle, nur dass dieses heruntergekommene Irland eben in der Altmark liegt. Es könnte auch in etlichen anderen Ecken Ostdeutschlands liegen, abgehängt, zum Stillstand gekommen, für junge Leute ein einziges Nirwana, in dem man irgendwie die Zeit mit Eltern herumbringen muss, die sich in ihren Vorwürfen und Jammertiraden eingesponnen haben.

Doch es ist auch der Tag, an dem Steffi wieder auftaucht – genauso wortkarg wie ihre Mutter. Sodass Marcel auch jetzt wieder nicht weiß, woran er mit ihr ist. Und es sind verblüffene Szenen, weil sie genau von der Sprachlosigkeit erzählen, die so viele (ost-)deutsche Provinzen so unaushaltbar macht. Liegt es an der Provinz? Liegt es an den Macken der Eltern, den falsch gelernten Lebensmustern, die man als Kind übernimmt, nur um damit dann als junge Erwachsener so richtig auf die Fresse zu fliegen?

Dieser doppelte Boden ist immer da. Und Marcel weiß nur zu gut, dass der beste Weg, dem zu entkommen, wohl gewesen wäre, tatsächlich irgendeine bescheuerte Ausbildung zu Ende zu bringen und dann abzudampfen und irgendwo anders in der Welt ein Leben ohne all diese bekloppten Erinnerungen, Vorwürfe und Nickligkeiten anzufangen. So wie es auch ein gewisser Klassenkamerad Mülle getan hat, den Domenico Müllensiefen in diesem Buch geradezu als Clown auftreten lässt.

Ramponierte Landschaften

Noch so eine Geschichte, die zu erzählen ist: Wie einer sich von der Provinz nicht festhalten lässt und dem es egal ist, ob ihn die Kumpel als Spinner bezeichnen und nicht ernst nehmen. Denn wenn sich von den Alten keiner für einen interessiert, dann bleibt nur die Flucht. Dann zieht man weg, in die nächstgrößere Stadt oder noch weiter, wo man wirklich zeigen kann, was man drauf hat. Und wo einem die Alten nicht ständig sagen, was man falsch macht und dass man schon immer ein Versager war.

Man erfährt zwar nicht wirklich, warum Steffi einfach von heute auf morgen verschwunden ist und nun nach 20 Jahren mit einem Sohn wiederkommt, der schon als Talent beim 1. FCM unter Vertrag steht. Aber man ahnt es. Genauso, wie Marcel ahnt, warum seine Schwester sich mit dem „blauen Monster“ an die Friedhofsmauer geknallt hat. Er hat ja ihr Verzweiflung miterlebt.

Die ein ganzes Stück weit auch seine Verzweiflung war, auch wenn er – Jungs sind ja cool – sich das nicht hat anmerken lassen. All diese Szenen von „es geht nicht“, „das können wir uns nicht leisten“, „die Ferienfahrt nach Österreich ist nicht drin“…

Eigentlich sind das auch noch sehr heutige Geschichten. Nur dass eben Marcels Generation das als erste und mit voller Wucht erlebte, wie das ist, in einem Land zu landen, in dem nur das Geld zählt. Und wer kein Geld hat, darf nicht mitspielen. Der kann bestenfalls so tun, als spiele er mit, auch wenn die Adidas-Klamotten vom Essen abgespart wurden. Und auch kein Geld da ist, sein Mädchen mal ins Kino auszuführen oder mal schick zum Tanzen zu gehen.

Also die ganz normale Lebenswelt für viele Jugendliche, die in den ramponierten ostdeutschen Landschaften aufgewachsen sind, die von der Politik eigentlich nur verwaltet wurden, irgendwie. So nebenbei taucht auch das Problem der leidigen ostdeutschen Demokratiemisere auf, die nicht erst mit der AfD begann, sondern mit konservativen Politikern, die nie eine Idee hatten, was sie mit diesem kaputten Landstrich eigentlich anfangen sollten. Einem Landstrich, über den eine Bundeskanzlerin in einer Rede in Stuttgart sagen konnte, „dass Altewedel zwar einen Bahnhof, aber trotzdem den Anschluss verpasst habe“.

Verwaltete Orte

Ein Satz, für den Marcel garantiert nicht geklatscht hätte wie alle die Gutgekleideten in Stuttgart. Denn er beinhaltet nicht nur die westdeutschen Vorurteile, sondern auch den großkotzigen Vorwurf, die Leute in der Altmark wären nur zu blöd gewesen, den Anschluss zu finden.

Ein Vorwurf, der heute immer noch mitschwingt, geboren aus der Ignoranz des Geldes und dem Hochmut derer, die immer am längeren Hebel sitzen.

Auf einmal merkt man: Die Region ist genauso wie ihre Menschen. Man versteht sogar, warum Ralf und Dirk, Pascals Vater, irgendwie auf dubiose Geschäfte kamen, um irgendwie aus diesem Garnichts-geht-hier-Sumpf herauszukommen. Wenn man keine echte Chance hat, kann manmversumpfen oder auf blöde Gedanken kommen. So ganz nebenbei wird Müllensiefens Roman zu einer Geschichte der ostdeutschen Provinz und so manche einstmals prosperierende Kleinstadt wird sich darin wiedererkennen. Mitsamt der Trauer, die entsteht, wenn die Dagebliebenen daran denken, wer alles weggegangen ist und wie viel Leben mal in der Bude war.

„Altenwedel war mal ein bedeutender Ort“, stellt Marcel fest. „Altenwedel hat einen Bahnhof. Sollte Altenwedel tatsächlich abgehängt sein, liegt es nicht an den Menschen, die hier leben. Es liegt an den Menschen, die es verwalten.“

Die aber in dieser Geschichte nicht vorkommen, weil Politik in den ostdeutschen Provinzen unsichtbar geworden ist. Verwaltet eben irgendwo fern ab von Leuten, von Verwaltern, denen die Kinder in den Nestern ringsum völlig egal sind.

Zeit zum Anschnallen

Und so könnte die Geschichte auch ausgehen. Doch die Rückkehr von Steffi hat einiges ausgelöst. Nicht nur in Marcels Erinnerungen. Und als dann auch noch sein Vater auftaucht, der geradezu zur Karikatur eines harten Jungen geworden ist, in dessen Muskelmasse aber immer noch der Feigling von früher steckt, gibt Marcel wirklich Gas, geht es noch einmal mit Karacho auf die Friedhofsmauer zu, taucht das SEK auf und durchsucht den Hof von Dirk, weil dessen faule Geschäfte mit Kumpel Ralf längst schon wieder die Staatsanwaltschaft beschäftigen. Und es wird tatsächlich getanzt.

Weil Marcel endlich den Mut findet, zu handeln und etwas zu tun. Vielleicht brauchte es dazu wirklich erst die ganzen Gespräche mit Steffi und ihrem Sohn Yanko und die Szene mit seinem Vater, der sich nach all der Zeit mit Geld von seinem schlechten Gewissen loskaufen wollte. Aber natürlich kann man sich ein Leben lang einspinnen in diesem Gefühl, dass nichts mehr geht. Und dass alle Züge abgefahren sind.

Oder man schnappt die Gelegenheit beim Schopf und macht einfach etwas, was man sich ein Leben lang nicht getraut hat. Auch weil man dieses väterlich geerbte Gefühl hat, dass man eh zu nichts taugt. Da gibt es mehrere Stellen im Buch, da dürften eine Menge erwachsen gewordene Jungen sich an die dämlichen Sprüche ihrer Väter erinnern, die in ihre Kinder das Gefühl eingepflanzt haben, sie wären nichts wert. Und die sich so selbst aufgeblasen haben zu göttlichen Über-Vätern, die allmächtig sind. Manchmal braucht es wirklich 20 Jahre, um die ganze heiße Luft rauszulassen aus diesen Typen.

Nur dass Marcels Vater nicht einmal jetzt fertigbringt, sich zu seinem Sohn zu bekennen. Der Rest ist dann eigentlich nur noch ein furioses Finale, in dem man merkt, dass dieser Marcel wirklich für sich beschlossen hat, Gas zu geben. Und die Geister der Vergangenheit lieber in den Knast zu schicken. Eine späte und heiße Wut. Ein Happyend, das man eigentlich nicht erwartet hat.

Aber wer erst mal Gas gegeben hat, um diese von allen Verwaltern vergessenen Landschaften zum Tanzen zu bringen, der weiß, was das für ein Gefühl ist. Und dass man genau dieses Gefühl braucht, um endlich das eigene Leben zu leben. Und nicht mehr das, das sich die Väter mal für einen ausgedacht haben, obwohl sie sich nie für ihre Kinder interessiert haben und dafür, wovon sie wirklich träumen und was sie wirklich brauchen. Auch in kaputten Familien, in denen das Geld hinten und vorne nicht reicht.

Aber man ahnt: In diesen Provinzen stecken noch eine Menge richtig starker Geschichten, die einer wie Müllensiefen erzählen kann. Und wohl auch wird.

Domenico Müllensiefen „Schnall dich an, es geht los“ Kanon Verlag, Berlin 2024, 25 Euro.

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