Bücher haben ein eigenes Leben. Sogar ein Vorleben. Besonders jene, die postum erscheinen, also nach dem Tod ihrer Autoren, die oft bis zum Schluss daran gefeilt haben und gehofft hatten, den Erscheinungstag noch zu erleben. Doch dieser mit Kurzgeschichten von Rainer Klis gefüllte Band erscheint sieben Jahre nach dem Tod des Autors. „Diverse Instanzen“ standen der Veröffentlichung bisher im Weg, schreibt der Verlag.

Und zitiert gleich mal den Autor selbst aus einer seiner Geschichten: „Geduldig wie die Mohrrübe im Sandkasten harrte es seiner Entdeckung …“

Obwohl Rainer Klis nicht erst entdeckt werden muss. 1983 veröffentlichte er sein erstes Buch im Mitteldeutschen Verlag: „Aufstand der Leser“. Zwischenzeitlich machte er nicht nur echte Expeditionen nach Nordamerika ins Land der Indianer, über die er auch mehrere Bücher veröffentlichte. Er reiste auch durch diverse Verlage, landete 2011 kurz beim Plöttner Verlag in Leipzig, war aber auch selbst Buchhändler und wohnte nicht ganz zufällig in dem Ort, wo 1842 der bis heute berühmteste aller sächsischen Autoren geboren wurde, nämlich Karl May.

Und eine seiner in diesem Band versammelten Geschichten beschäftigt sich natürlich mit dem Phänomen, dass in Hohenstein-Ernstthal gefühlt an jedem Gebäude eine Tafel hängt, die erzählt, was der kleine Karl hier so alles getrieben hat.

(In Leipzig fehlt eine, obwohl er da sogar einen Pelz klaute.)

Die 2022 losgetretene Debatte um Karl May hätte Klis garantiert kommentiert. Und zwar bissig und deutlich. Und das Wort Heuchler hätte er wohl auch verwendet. Vor einer deutlichen Schreibweise hatte er (geschult an Capote, Carver und Cheever, wie er selbst schreibt) keine Angst. Nicht in der DDR, wo er tatsächlich so eine Art Underdog war, und auch nicht danach, nach seinem Engagement in der Friedlichen Revolution, wo er erst das Neue Forum mitgründete und dann die SPD. Auch so eine fast vergessene Zeit, als es noch richtig revolutionär war, eine sozialdemokratische Partei zu gründen.

Schreiben ist kein Schönheitswettbewerb

Und zu Karl May hätte er nicht nur gesagt (geschrieben hat er es sowieso), dass er der größte Schriftsteller aus Sachsen war. Er hätte auch klargemacht, dass Schriftsteller keine Kirchenheiligen und keine Sonntagsschüler sind, sondern dafür geliebt werden, dass sie spannende Geschichten schreiben. Die Wahrheit des Schreibens zeigt sich beim Lesen. Auch wenn vielleicht nicht mehr so viele Leute etwas mit Karl Mays Romanen anfangen können, die im weit ausholenden Stil des 19. Jahrhunderts geschrieben sind.

Auch deshalb hat Klis seinen Ruhm auch nicht auf dickleibigen Romanen aufgebaut und konnte mit Verlegern, die herumnörgeln, dass das Manuskript keine 200, 400 oder 600 Seiten hat, nichts anfangen. Es gibt einige Verleger, die in diesem Band ihr Fett wegbekommen. Etliche Kollegen und Kolleginnen aus der Schreibzunft ebenso, vor allem all jene Selbstdarsteller, die glauben, man müsste den Leuten nur vorspiegeln, was für eine schräge und rätselhafte Person man sei, dann würde der literarische Ruhm von ganz alleine kommen.

Nur: Was schreiben diese Leute eigentlich? Meist verschwinden sie ziemlich unverhofft wieder von der Bildfläche, weil Schreiben eben nicht wirklich etwas mit Posieren zu tun hat, sondern mit der Lust am Erzählen. Und manchmal der Verzweiflung, weil es im vollgestopften Arbeitstag einfach keine ruhige Stunde gibt, in der man sich endlich mal auf die Idee konzentrieren könnte, die einem schon die ganze Zeit im Kopf herumspukt.

Den Leuten aufs Maul …

Wer Kurzgeschichten schreiben möchte und das Gefühl hat, dass er auch was zu erzählen hat, der findet in Klis’ kurzen Geschichten eine Menge Hinweise aufs Schreiben. Und auf die Lästigkeit etlicher Mitmenschen, die ihre Berufung ganz offensichtlich darin gefunden haben, anderen Leuten ständig auf den Keks zu gehen. Eine ganz typische Klis’sche Redewendung.

Man merkt ziemlich schnell, dass Klis einer war, der sich von Anfang an bemüht hat, Klartext zu schreiben. Hinzugucken, was die Leute so treiben, und ihnen auch – ganz im Sinne Luthers – aufs Maul zu schauen. Denn da geht es nicht nur um derbe Worte, da geht es um Verhältnisse. Echte Verhältnisse, die Menschen miteinander eingehen, wenn sie miteinander reden. Mal ehrlich, oft genug aber auch durch Busch und Rauch.

S dass man mit dem Erzähler regelrecht zuschauen kann, wie seine vertrackten Heldinnen und Helden aneinander vorbeireden. Wie im richtigen Leben, wo sich zwar eine Menge Leute einbilden, sie würden ehrlich und offen reden – aber wer aus der Position des Underdogs auf seine Mitmenschen schaut (auch auf all ihre Borniertheiten, Verklemmtheiten und kleinen und großen Eitelkeiten), der sieht auch, wie sie emsig aneinander vorbeireden.

Das wird in Bayern und Schwaben nicht anders sein. Aber man erkennt auch seine so geliebten und verstörenden sächsischen Hinterwäldler, die einen Großteil ihrer Zeit damit beschäftigt sind abzuklären, ob einer dazugehört oder nicht. Dass sich dann auch kurze Geschichten hineinmogeln, in denen dann klar wird, dass die in ihrer kleinen Provinz Verlorenen selbst die Leute verwechseln, mit denen sie noch vor sechs Wochen Umgang hatten, macht die landläufige Verpeiltheit noch deutlicher.

Denn hinter dem Beharren darauf, den blöden Nachbarn besser zu kennen als der sich selbst, steckt in Wirklichkeit ein Waten in Oberflächlichkeiten. Deswegen funktionieren Vorurteile so gut: Man interessiert sich nicht wirklich – nicht mal für die schöne Nachbarin, um deren Haus einer Abend für Abend wie ein Stalker rennt. Hauptsache, man kann sich gegenseitig versichern, dass man dazu gehört. Wozu auch immer.

Unter Eingeborenen

Aber darum geht es bei Klis eigentlich nie. Er hat immer mit dem Schalk im Nacken geschrieben, wissend, dass man in so einer Provinz nur mit dicker Haut durchkommt und der Fähigkeit, sich selbst nicht so ernst zu nehmen. Weshalb in etlichen Geschichten ein durchaus von abenteuerlichen Begegnungen geschundener Autor Dinge erlebt, für die man eigentlich die Welt nicht bereisen will. Reisegeschichten, wie sie für gewöhnlich nicht im Buche stehen.

Aber bei Klis stehen sie, der ja ab 1996 wirklich die Gelegenheit genutzt hat, die Welt zu bereisen, in der sein berühmter Nachbar Karl May nie gewesen ist, zumindest nicht so gründlich und sich auf die tatsächlichen Eingeborenen einlassend. Weshalb Klis eben tatsächlich mehrere Bücher schreiben konnte darüber, wie es im Indianerland tatsächlich aussieht. Und auch noch ein dickes über seine geliebten Zigarren, mit denen er nicht nur Verleger und Schreibkollegen beeindrucken konnte.

Und wer dann durch Klis’ wirklich kurze Geschichten, mit denen er im Land der langatmigen Prosa kaum eine Konkurrenz hatte, auf die Lust kommt, jetzt selber welche schreiben zu wollen, dem wird das Kapitel „Wer redet, stirbt“ sehr hilfreich sein, in dem vor allem die Geschichten versammelt sind, die sich mit dem Abenteuer des Schreibenden beschäftigen. Und natürlich all den Dingen, die ihn am Schreiben hindern. „Von Kollegen weiß ich, dass ihr Unterbewusstsein weiterschreibt, während sie schlafen. Am Morgen stehen sie ausgeruht auf, wissen, wie der Hase läuft, und machen los.“

Wozu man freilich eine ruhige Wohnung braucht an einem Ort, an dem einem keine lärmenden Handwerker, nervigen Paketzusteller, neugierigen Nachbarn und irren Telefonanrufe auf den Keks gehen. Den der Held in dieser Geschichte natürlich nicht hat.

Wie man zu Geschichten kommt

Da und dort blitzt in diesem Kapitel auch die Arbeit von Rainer Klis für diverse Zeitschriften und Magazine durch, die manchmal sogar froh sind, wenn sie wirklich kurze Stücke für ihr Heft bekommen. Vielleicht sogar welche über das richtige Leben, so wie es passiert. So wie es auch dem ein oder anderen Ratsuchenden passiert, der hofft, beim Schriftsteller mal kurz einen richtig guten Rat aus dem richtigen Leben zu bekommen. Und dann wird über wilde Löwen geredet und eben nicht über den Brief vom Scheidungsanwalt.

Was dann eine Frage aufwirft, die Klis in mehreren Nicht-wirklich-Liebes-Geschichten thematisiert: Was will Mensch eigentlich vom Leben? Worum geht es wirklich? Und wie tief ist das Loch, in das man fällt, wenn Weib, Haus und Kinder weg sind? Was bleibt dann eigentlich, wenn man nicht gerade Pilzesuchen als Hobby hat und den Rest der Zeit mit einem Jagdschein in die sächsische Wildnis ziehen kann?

So ist das nämlich. So kommt man zu Geschichten. Man muss sich nur nicht von der schönen lackierten Oberfläche täuschen lassen. Dann kommt das menschliche Alltagsdrama ganz von alleine zum Vorschein, manchmal schön bildhaft und deftig ausgeschmückt, damit es die Leser auch genießen können. Manchmal nur angedeutet in einem letzten so hingesagten Satz, der einen gar nicht wirklich umschmeißt. Und dann merkt man eben doch, dass da einer, der gerade lässig den Raum verlassen hat, gerade einen echten Bolzen hat gucken lassen.

Natürlich verfällt man dann auch ein bisschen in die derbe, unverfälschte Sprache von Rainer Klis. Aber was soll’s? Ziselierende Schönschreiber/-innen gibt es viel zu viele, die sich über Probleme 600 Seiten lang den Kopf zerbrechen, die gar keine sind.. Aber sich heraustrauen aus der Bude und sich zu den Skatbrüdern setzen, die sich von einer dicken Zigarre durchaus noch beeindrucken lassen, dazu braucht man die kindliche Neugier eines Rainer Klis.

Nun ist sein letztes Buch endlich da. Und es ist eins der Bücher, die man nicht heimlich lesen muss. Das darf betont sein.

Rainer Klis„Blumen für den Underdog Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024, 20 Euro.

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