Mit seiner Tetralogie „Verloschene Lichter“ hat Mordechai Strigler etwas geschaffen, was in diese Art als Bericht direkt aus der Welt jüdischer Zwangsarbeiter im Rüstungssystem der NS-Kriegswirtschaft einzigartig ist. Auf mehrfache Weise einzigartig, nicht nur, weil es auch ein Bericht aus einem Zweigbetrieb des Leipziger Rüstungskonzerns HASAG ist, dem 1939 von der HASAG übernommenen polnischen Rüstungsbetrieb in Skarżysko-Kamienna, wo die jüdischen Zwangsarbeiter durch die Arbeitsbedingungen systematisch vernichtet werden sollten.

Wikipedia zitiert Anne Friebel von der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig zu den Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter so: „Die Lebenserwartung in Skarżysko-Kamienna, im Werk C, betrug drei Monate. Wenn man dort neu hinkam als Zwangsarbeiter, sind die Leute in kürzester Zeit gestorben, weil der Umgang mit dieser Pikrinsäure und diesen anderen hochgiftigen Substanzen sofort die Körper angegriffen hat.“

Die Pikrinsäure war Teil der Sprengstoffe in der von der HASAG hergestellten Munition. Und normalerweise hätte die hochgiftige Säure nur unter strengen Schutzmaßnahmen verarbeitet werden dürfen, die es aber für die jüdischen Zwangsarbeiter nicht gab. „Von den zwischen 25.000 und 30.000 Zwangsarbeitern der HASAG-Werke in Skarżysko-Kamienna haben nach Schätzungen polnischer Historiker 18.000 bis 23.000 den Lageraufenthalt nicht überlebt“, stellt Wikipedia fest.

Vier Bücher über 15 Monate Grauen

Mordechai Strigler wurde 1942 in die Zwangsarbeit des NS-Regimes verschleppt, im Juni 1943 kam er nach Majdanek, von wo aus er nach sieben Wochen ins Werk C von Skarżysko-Kamienna gebracht wurde. Sein alter ego in der Tetralogie „Verloschene Lichter“ ist Mechele, der das Leben in den diversen Konzentrations- und Arbeitslagern mit dem aufmerksamen Blick des Dokumentaristen beobachtet, auch etwas verträumt ist – ein Dichter. Noch während der Haftzeit schrieb er auf, was ihn bewegte, so wie Strigler selbst.

Doch Striglers Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind verschollen. Und so machte er sich noch 1945, nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald, daran, seine Erinnerungen an die „fünzfehn Monate Hitlerhölle“ aufzuzeichnen. Doch es sind nicht bloß trockene Aufzeichnungen geblieben.

Und zum Besonderen gehört eben auch, dass er nicht nur den Blick auf die Täter und die Mordmaschinerie der Nazis richtet, auch wenn die massenhaften Erschießungen und die systematische Vernichtung der Leichen auch in diesem vierten Band der Reihe thematisiert werden. Erstaunlich unaufgeregt. Denn dieses sinnlose Töten von Menschen ist für den Inhaftierten längst zum Alltag geworden.

Auch wenn der Wille zu Leben noch in ihm vorhanden ist, gibt es in dieser Hölle eigentlich keinen Maßstab mehr, an dem die Unmenschlichkeit dessen, was den Menschen hier geschah, festgemacht werden konnte. „Schicksale“ ist der vierte Band der Tetralogie, deren erster Band – „Majdanek“ – 1947 auf Jiddisch erschien, genauso wie auch die Folgebände auf Jiddisch erschienen – „In den Fabriken des Todes“ 1948, „Werk C“ 1950 und „Schicksale“ dann 1952. Eigentlich sollte noch ein fünfter Band über Buchenwald folgen, aber den hat Mordechai Strigler nicht mehr geschrieben.

Trügerische Idylle

Der vierte Band endet im Grunde mit der Auflösung des Lagers bei Werk C, ein Vorgang, der sich lange Zeit nicht ankündigt. Man merkt, dass Strigler hier wirklich alles erzählen wollte, was er erlebte – und zwar, solange es noch im Gedächtnis war.

Die konsequenteste Art, Zeitzeuge zu sein, mitfühlend, sich selbst immer wieder in Frage stellend, das Menschliche suchend nebst all den Motiven, die die Menschen im Lager bewegten, wie sie versuchten, sich durch kleine Nebengeschäfte etwas mehr zum Essen zu besorgen, wie manche versuchten, ihren Rang im Lagersystem zu verbessern, um ihre Überlebenschancen zu vergrößern. Es entstehen Abhängigkeiten, Formen von Nähe, die Mechele nicht wirklich als Freundschaft bezeichnet.

Anfangs entsteht sogar fast ein idyllisches Bild, als er das beinah luxuriöse Leben der Lagerkommandantin Fela und der ihr untergebenen Polizeitruppe zeichnet, so dass man geradezu irritiert ist, warum ausgerechnet eine Jüdin Lagerkommandantin ist. Aber nach und nach taucht man ein in diesen Lagerkosmos, in dem die Deutschen innerhalb des Lagers die Jüdinnen und Juden selbst dazu bringen, den geregelten Ablauf zu organisieren und die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Die tatsächlichen Wachtruppen bekommt man da gar nicht in den Blick. Die sieht man erst später mit den Meistern in der Fabrik, den ukrainischen Wachleuten, die schwarzgekleideten SS, die gerade da auftaucht, als es die nächste Selektion im Lager gibt.

Zeiten der Ruhe und des Friedens sind trügerisch. Mechele spürt es direkt, so wie er auch all die Hoffnungen spürt, die seine Mitgefangenen mit jeder Nachricht von der Front verknüpfen. Denn in diesem Sommer 1944 sind die deutschen Truppen längst auf der Verliererstraße, auch wenn jeden Tag Züge mit Munition aus dem Werk C an die Front rollen, die zuletzt schon mit dumpfem Grollen am Horizont zu hören ist.

Das Ende von Werk C

Dass das auch das Ende von Werk C bedeutet, wissen eigentlich alle. Nur wie dieses Ende aussehen wird, das wissen sie nicht. Manche schmieden Fluchtpläne, die dann doch blutig scheitern. Wie groß ist die Chance zu überleben eigentlich noch, wenn die Deutschen hinter sich nur noch verbrannte Erde hinterlassen? Und wie verändert dies das Miteinander der Eingesperrten?

Mit Mordechai Strigler ist man mitten drin – auch mitten im Kopf dieses Mechele, der sich immerfort auch versucht, in die Gefühlswelt seiner Mitgefangenen einzufühlen, der vorher unscheinbaren Männer, die als ernannte Polizisten auf einmal ihrer Brutalität freien Lauf lassen, der Frauen, die sich einen Beschützer suchen, der Menschen, die Tag für Tag in Kolonnen ins Werk ziehen müssen, der Kranken, die stets als Erste bedroht sind, wenn wieder Selektionen anstehen.

Es ist ein eigener Kosmos, der sich hier aufbaut, der in Manchem an die Welt draußen erinnert und gleichzeitig eine Normalität vortäuscht, die nicht stabil sein kann. Was gerade dieser Mechele besonders intensiv wahrnimmt, der am liebsten von niemandem abhängig sein möchte, nicht angewiesen auf den guten Willen von Leuten, die cleverer sind und scheinbar bessere Überlebensstrategien entwickeln.

In seinem Kopf rattern immerzu die Überlegungen, welche Entscheidung nun die richtige ist, welche Folge das eigene Handeln nun haben könnte. Ob Nichthandeln vielleicht doch die bessere Alternative ist. Und was in den Köpfen der anderen wohl vorgeht.

Man ahnt den Druck der Erinnerung, mit dem Strigler nach dem Krieg begann, seine Erinnerungen genau so aufzuschreiben, geradezu romanhaft, denn jedes einzelne Kapitel ist ja ein Stück Lebensroman. Voller Begegnungen und Schicksale, in denen Strigler viele seiner damaligen Leidensgenossen noch einmal auftreten lässt, ihnen ein Schicksal gibt, damit sie nicht namenlos bleiben unter den vielen Toten, die die Shoah hinterließ.

Leipzig und die HASAG

Und es bleibt nicht einmal Zeit zum Erschrecken, wenn diese Menschen, die eben noch stolz und zuversichtlich auf den Platz getreten sind, wenig später einfach von den Aufsehern erschossen werden. Auch die „Lagerkommandantin“ Fela und ihre protegierten Polizisten entgehen dem nicht.

Während Mechele mit den Überlebenden des Lagers zusammen in Waggons gesperrt auf die Fahrt Richtung Leipzig geschickt wird, wo irgendjemand die jüdischen Arbeitskräfte angefordert hat, um die Produktion im Leipziger HASAG-Werk aufrechtzuerhalten. Denn längst hat auch Leipzig seine ersten Bombenangriffe erlebt. Der Krieg sucht auch die eben noch so siegestrunkenen Deutschen heim.

Dieses letzte Kapitel aber deutet Strigler nur an. Auch die Radikalität, mit der die jüdischen Gefangenen in Buchenwald die Verräter und Peiniger aus den eigenen Reihen bestrafen. Strigler hat im Grunde mit diesem furiosen Niederschreiben seiner Erinnerungen den vielen jüdischen Zwangsarbeitern ein Denkmal gesetzt, die in der deutschen Rüstungsindustrie verheizt wurden.

Kein blankes, heldenhaftes Denkmal, sondern eines, das die Menschen in all ihrer Betroffenheit, Verletzlichkeit und Verführbarkeit zeigt. Gerade dadurch wird die Erzählung lebendig, dass er keine Helden zeigt, sondern Mencshen, die unter unmenschlichsten Bedingungen zu überleben versuchen und doch eigentlich längst verinnerlicht haben, dass sie alle getötet werden sollen.

So wie die vielen Millionen getöteter Jüdinnen und Juden aus Polen, die in diesem Sommer 1944 längst von den Vernichtungslagern der Nazis verschlungen worden waren. Aber weil Strigler die Verhältnisse im Werk C der HASAG schildert, ist das nun einmal auch eine Leipziger Geschichte, eine, die eine der schwärzesten Seiten Leipzigs im Zweiten Weltkrieg zeigt. Mit einigen Meistern, die aus Leipzig in das Außenlager in Skarżysko-Kamienna geschickt worden waren und sich dort unterschiedlich brutal oder schäbig benahmen.

Zeit für eine mitreißende Übersetzung

Wie erschütternd das ist, was Strigler erzählt und seinen Mechele erleben lässt, merkt man oft gar nicht, weil das Grauen, die Grausamkeit und die Todeserwartung längst zum Alltag im Lager geworden sind.

Nur hat Striglers Tetralogie ihre Wucht auf dem Buchmarkt nie wirklich entfalten können, weil sie nicht auf Deutsch vorlag. Weshalb sich Frank Beer als Herausgeber vornahm, alle Bände in deutscher Übersetzung herauszubringen. Die Übersetzung aus dem Jiddische hat Sigrid Beisel übernommen.

2016 erschien der erste Band –„Majdanek“ – auf Deutsch, 2017 und 2019 folgten die nächsten beiden Bände im zu Klampen Verlag. Mit diesem jetzt erschienenen vierten Band ist die Tetralogie komplett und jeder, der wissen will, wie es den zur Zwangsarbeit gezwungenen Jüdinnen und Juden erging, kann hier mit Mechele direkt eintauchen in diese Welt.

Eine Welt, die nur deshalb aushaltbar erscheint, weil sich Menschen an solche Zustände zwar nicht gewöhnen – aber irgendwann übernimmt das Wissen die Regie, dass man von den Tätern längst zum Tod verurteilt ist, dass das eigene Leben keinen Pfifferling mehr wert ist und die eigene Würde keinen Preis hat.

Das gräbt sich tief in die Seele ein. Weshalb es nicht wirklich viele Zeugnisse dieser Art gibt, die derart detailliert und anschaulich aus dieser Todeszone berichten und dennoch das Menschliche zeigen, das sich die Erniedrigten und Gepeinigten bewahrt haben.

Ein Fünkchen Stolz, das auch dann aufblitzt, wenn Mechele seine Begegnungen mit den Tätern schildert und auch in ihnen noch die Menschen sieht, und nicht nur die Uniformen. Menschen, die einem fanatischen Glauben anhängen und trotzdem alles, was ihnen wirklich wichtig ist im Leben, verlieren können. Kurz hat man Mitleid mit ihnen, so wie Mechele es hier aufbringt – nur um sie später genauso sinnlos und gnadenlos töten zu sehen.

Die Erschütterung über das, was Mechele schildert, kommt erst spät, ist eher ein stilles Entsetzen darüber, wie hier mit Menschen umgegangen wurde. Und wie wenig es noch diejenigen erschüttert, die genau wissen, dass auch sie einen dieser namenlosen und sinnlosen Tode hätten sterben können. Sie wissen, dass sie nur Verschonte sind. Und dass jede Hoffnung trügerisch ist.

Erzählen konnten am Ende nur die wenigen, die überlebt haben. So wie Mordechai Strigler. Gerade deshalb sind seine Bücher auch heute noch aktuell.

Mordechai Strigler „Schicksale. Verloschene Lichter IV“ zu Klampen Verlag, Springe 2024, 48 Euro.

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