Fünf Jahre hat der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk seiner Walter-Ulbricht-Biografie gewidmet – und damit einem Mann, den er eigentlich gar nicht mag. Aber eine Frage, die den Experten für die Geschichte der DDR schon seit seiner Jugend beschäftigt hat, ist die Frage: Wie funktionieren eigentlich Diktaturen? Was natürlich gleich einen Rattenschwanz von Fragen nach sich zieht: Wie werden ganz normale Leute – zum Beispiel ein Schneidersohn aus Leipzig – am Ende zu Diktatoren?

In den Genen liegt das nicht, auch wenn man es bei dem ein oder anderen durchgeknallten Diktator vermuten könnte. In der Erziehung eigentlich auch nicht (auch wenn eine autoritäre Erziehung die beste Grundlage dafür sein könnte). Aber woran dann?

Im ersten, 2023 erschienenen Band „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist“ hat Ilko-Sascha Kowalczuk schon anhand aller ihm verfügbar gewordenen Quellen nacherzählen können, wie aus dem Schneidersohn erst ein fleißiger Parteikämpfer wurde, der beim Organisieren von Parteiarbeit seine größte Erfüllung fand und der damit geradezu prädestiniert war dafür, in der neu entstehenden KPD in höchste Funktionen aufzusteigen, ohne als ein besonders begnadeter Theoretiker oder gar charismatischer Politiker aufzufallen.

Im Schatten von Persönlichkeiten wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg oder auch dem Hardliner Ernst Thälmann wäre er einfach nicht aufgefallen, hätte seine Partei nicht den Weg zu einer „Partei neuen Typus“ eingeschlagen, wie ihn Lenin erfunden hatte.

Aus Sicht eines Lenins war das eine straff organisierte Partei, in der es keine Fraktionen und keinen Richtungsstreit gab (bzw. zu geben hatte), die Führung straff in den Händen der Parteispitze lag und die organisiert war wie eine militärische Kampfeinheit. Oder eine zentral gesteuerte Bürokratie. Es kam aufs selbe raus.

Die Partei hat immer recht

Anschaulich zeigte Ilko-Sascha Kowalczuk aber auch, wie diese Parteistruktur geradezu zwangsläufig in all die Führungs- und Machtkämpfe mündete, in denen eben noch gefeierte Vertreter der Parteiführung zu Feinden und Freiwild wurden. Wer die Beschlüsse der Parteiführung infrage stellte, stellte die Weisheit der Partei infrage.

Atmosphärisch dicht konnte Ilko-Sascha Kowalczuk zeigen, wie der brave Parteifunktionär sich in diesem Haifischbecken auch immer wieder seiner Haut erwehren musste und sich seine Netzwerke aufbaute. Denn wer da überleben wollte, musste im richtigen Augenblick die richtigen Verbündeten haben. Und den Rückhalt der Moskauer Parteiführung.

War es schon im ersten Band auffallend, wie sehr die deutsche KP von den Weisungen und Entscheidungen Moskaus abhängig war, verblüfft der zweite Band noch viel mehr, in dem Ilko-Sascha Kowalczuk den zweiten Teil von Ulbrichts Leben erzählt – von der Ankunft der „Gruppe Ulbricht“ 1945 im von der Sowjetarmee besetzten Teil Deutschlands bis zu Ulbrichts Tod während der Weltfestspiele von 1973. Eine Zeit, in der Ulbricht tatsächlich wie ein Diktator agieren konnte.

Ein Punkt, an dem man stoppen möchte. Denn seine Allmacht war immer begrenzt. Ohne die sowjetische Besatzungsmacht konnte er nichts entscheiden. Regelmäßig belegt Kowalczuk Ulbrichts Reisen nach Moskau, wo der sich seine neuen Entscheidungen absegnen ließ. Ohne Rüchversicherung in der Moskauer Parteispitze konnten nicht mal die Leute im Politbüro der SED ausgewechselt werden.

Die eigentlich allesamt eingefleischte Leninisten und Stalinisten waren. Und trotzdem kam es schon in der Frühzeit der – auch unterm Druck der Besatzungsmacht – aus KPD und SPD entstandenen SED zu „Säuberungen“, auch im politischen Führungszirkel um Ulbricht, wurden verdiente Genossen in die „Produktion“ geschickt oder gar ins Zuchthaus. Und das mit Vorwürfen, die ihnen die schlimmsten Abweichungen von der Linie der Partei unterstellten.

Da genügte schon eine abweichende Meinung zum starken Mann an der Parteispitze – der zwar nominell Wilhelm Pieck hieß, doch tatsächlich war es Ulbricht. Und der hatte schon in der Weimarer Zeit und dann erst recht im Moskauer Exil gelernt, wie man als Funktionär in so einem Machtzirkel überlebt.

Steuern und kontrollieren

Und das auch in einer Situation, in der sich ziemlich schnell herausstellte, dass auch die eigentlich mit Blick auf Gesamtdeutschland geschaffene SED bei Wahlen nie die absolute Mehrheit würde holen können. Schon gar nicht in einem Landstrich, in dem noch wenige Jahre zuvor die Mehrheit widerspruchslos das nationalsozialistische Regime mitgetragen hatte.

Da wird selbst Kowalczuks Betrachtung der Entstehung und der Metamorphose der SED spannend. Und erst recht das, was Ulbricht so gern „direkte Demokratie“ nannte. Womit keine fairen, freien und geheimen Wahlen gemeint waren, sondern die Schaffung einer Millionenpartei, über die das komplette Land gesteuert werden konnte.

Und die selbst gesteuert und kontrolliert werden musste, weshalb es schon früh zur Gründung eines der Partei zugeordneten Geheimdienstes nach sowjetischem Vorbild kam. „Für die Nachkriegszeit ist dieser Überwachungswille aus vielerlei Gründen sogar nachvollziehbar“, schreibt Kowalczuk, der immer auch versucht, die Entscheidungen Ulbrichts direkt aus der Logik seiner ganz konkreten Machtposition zu verstehen.

„Dass sie ihn nie wieder zähmten, sondern kontinuierlich ausbauten und so einen modernen Überwachungsstaat formten, der weitaus mehr Elemente enthielt als ‚nur‘ geheimpolizeiliche Strukturen, folgte sowohl der unausgesprochenen Einsicht, gegen eine signifikante gesellschaftliche Großgruppe anzuregieren, als auch dem Zweifel, dass die marxistisch-leninistische Theorie überhaupt gesellschaftstauglich sei.“

Starker Tobak, wo sich doch die SED-Funktionäre immerfort auf ihre „wissenschaftliche Weltanschauung“ beriefen. Doch wissenschaftlich war daran wenig bis nichts. Viele wesentliche Entscheidungen, die die DDR frühzeitig prägten, wurden in Moskau angewiesen. Manchmal wurden sie von Ulbricht und Genossen auch etwas freier interpretiert oder im Hauruck-Verfahren umgesetzt (wie bei der „Kollektivierung der Landwirtschaft“).

Und man schüttelt nur den Kopf, wenn man merkt, dass die platten Herleitungen dessen, was die Genossen in Moskau und Ostberlin unter Sozialismus verstanden, tatsächlich ohne jegliche wissenschaftliche Expertise umgesetzt wurden. Hauptsache, es genügte den Lehrsätzen. Bis hin zur Etablierung der Planwirtschaft, die in erster Linie eine immer stärker zentral gesteuerte Wirtschaft war, in der an oberster Stelle die Zielzahlen für die nächsten fünf bis sieben Jahre vorgegeben wurden – und dann mussten die verstaatlichten Betriebe versuchen, die Vorgaben irgendwie umzusetzen.

Aufstand und Mauer

Tatsächlich scheiterte die Planwirtschaft schon 1953, als ein SED-Beschluss zu höheren Normen das ganze Land zum Kochen und die Arbeiter zu Hunderttausenden auf die Straße brachte. Ein Moment, in dem die SED-Führung ihre Handlungsunfähigkeit eingestehen musste und nur die sowjetischen Panzer dafür sorgen, dass Ulbricht die Macht nicht verloren ging.

Aber es war auch ein Moment, der deutlich machte, dass im Ostblock nichts lief ohne das Wohlwollen Moskaus. Gar nichts. Auch nicht der spätere Mauerbau, für den sich Ulbricht ebenfalls die Zustimmung aus Moskau einholen musste.

Ein Akt der Abriegelung, der ganz profane ökonomische Gründe hatte. Schon in den 1950er Jahren war die DDR ökonomisch gegenüber der Bundesrepublik ins Hintertreffen geraten und die Versorgungskrisen häuften sich. Erst in der Dichte, in der Kowalczuk diese Phase im Leben Ulbrichts erzählt, wird deutlich, warum viele DDR-Bürger (und selbst ein Großteil der Westpresse) die 1960er Jahre in der DDR als eine Zeit des Aufschwungs und des zunehmenden Wohlstands erlebten.

Die Mauer festigte auch Ulbrichts Macht und gab ihm Freiräume für eine neue Wirtschaftspolitik, die wieder einige (wenige) marktwirtschaftliche Elemente einführte.

Dass Honecker ihn später auch mit der Begründung dieser aus seiner Sicht verfehlten Wirtschaftspolitik stürzen würde, hätte Ulbricht Mitte der 1960er Jahre, auf dem Gipfel seiner Macht, ganz gewiss nicht ahnen können. Jahre, die ihrerseits wieder voller Widersprüche waren, wenn man zum Beispiel an Ulbrichts rabiate Kulturpolitik denkt – das harte Vorgehen gegen Beatgruppen, unangepasste Schriftsteller und zu mutige DEFA-Filme.

Doch wenn man dann genauer liest, merkt man, dass sich hier – als kulturpolitisch Verantwortlicher der SED-Spitze – schon der Hardliner Erich Honecker warmlief, der von langer Hand auch den Sturz Ulbrichts vorbereitete.

Wie Genossen eben miteinander umgehen

Ein Szenario, das Kowalczuk geradezu akribisch aufarbeitet und dabei mit vielen Legenden, die auch in History-Inszenierungen im Fernsehen immer wieder zitiert werden, aufräumt. Gewaltsam war dieser Sturz nicht. Es kam auch niemand dabei zu Tode. Perfide war der Sturz sehr wohl – aber eben auch darin keine Ausnahme.

Auch das lernt man dabei: Die „führenden Genossen“ gingen miteinander seit Stalins Zeiten nicht zimperlich um. Und der große Führer, der eben noch mit harter Hand seine Weisungen durchsetzte, konnte über Nacht regelrecht zum „Revisionisten“ erklärt werden, regelrecht zum Feind der sozialistischen Gesellschaft.

Wobei Honecker und die zu ihm übergelaufenen einstigen Ulbricht-Getreuen es längst mit einem gesundheitlich angeschlagene Ulbricht zu tun hatten. Ein Thema, das Kowalczuk auch deshalb sehr ausführlich behandelt, weil er bei all seinem tiefgründigen Quellenstudium auf einen Mann gestoßen ist, der sich der Arbeit für die „Sache“ vollkommen verschrieben hatte.

Ein Arbeitstier, ein regelrechter Workaholic, der zeitlebens ein Arbeitspensum ableistete, das auch unter sozialistischen Funktionären die Ausnahme gewesen sein dürfte.

Dieses Pensum war aber eben auch – so lange er körperlich fit war – Grundlage seiner Macht: Er hatte alle Papiere studiert, kannte jeden entscheidenden Funktionär, kümmerte sich wirklich um jedes, aber auch jedes Thema. Und das oft mit der Besserwisserei eines Mannes, der gar nicht merkte, wie er andere Leute mit seiner ruppigen und bevormundenden Art nervte und schikanierte.

Weshalb er sich eben auch berufen sah, in Dingen – wie der Kunst und Kultur – mitzureden, obwohl er ganz offensichtlich nicht auf der Höhe der Zeit war.

Ein Land nach seinem Maß

Und immer wieder, wenn Kowalczuk dann doch einmal Einblicke in Ulbrichts Privatleben bekommt, wird ein Mann sichtbar, der im Grunde „kein Exzentriker“ war, und „sich offenbar in alle Lebenslagen im Griff“ hatte. Und gleichzeitig ist das Bild, das selbst westliche Medien von ihm zeichneten, viel farbiger als das seines Nachfolgers Honecker.

Auch mit einer Spur Bewunderung gemischt, denn dass er über 20 Jahre unangefochten regierte und auch für alle Welt sichtbare Krisen überstand, das änderte auch bei westlichen Kommentatoren spürbar seine Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Denn darin scheint er dann doch ähnlich wirksam geworden zu sein wie Adenauer.

Ein Bild, das natürlich kontrastiert mit dem jenem, das von Ulbricht nach seiner Entmachtung durch Honecker im Osten gemalt wurde, denn da wurde Ulbricht genauso schleunigst aus Schriften und Dokumentationen entfernt, wie es früher mit den von Ulbricht Gestürzten passiert ist. Selbst in diesem letzten Kapitel von Ulbrichts Leben wird noch einmal deutlich sichtbar, wie eine Diktatur – und damit der Führungszirkel – in einem Land nach dem Vorbild des stalinschen Moskau funktionierte. Auch Honecker holte sich die Erlaubnis, Ulbricht zu entmachten, aus Moskau.

Aber natürlich ist es keine Honecker-Biografie, sondern eine, die letztlich akribisch nachzeichnet, wie Ulbricht zum „kommunistischen Diktator“ und damit auch zum eigentlichen Schöpfer der DDR wurde. Daran kam auch ein Honecker nicht vorbei, dem später wirklich nicht mehr viel einfiel dazu, wie er das bis zuletzt von Moskau abhängige Land besser machen konnte. Selbst die in den 1970er Jahren spürbare Anerkennung der DDR als „zweiter deutscher Staat“ war noch von Ulbricht angeschoben worden.

Eine Frage der Macht

Aber so oft Kowalczuk die Möglichkeit nutzt, Ulbrichts Privatleben zu beleuchten und auch Lotte Ulbrichts Rolle an der Seite ihres Mannes, wird am Ende dann doch deutlich, dass etwas Wesentliches fehlt. Denn Ulbrichts persönliche Aufzeichnungen wurden nach seinem Tod vernichtet. Auch eine Form der Säuberung, die zum Handlungsmuster bei Machtwechseln gehörte. Der „Alte“ sollte auf keinen Fall mehr in das hineinreden, was sein Nachfolger anstellte.

Aber selbst die verfügbaren Aktenbestände zeigen den Menschen Ulbricht in seinen Siegen und Niederlagen als Funktionär – samt den Situationen, in denen er ratlos war und ohne das Einschreiten „des großen Bruders“ nicht weiterkam. Wobei Streiflichter auch zeigen, wie trocken und pragmatisch die Genossen im Kreml auf ihren kleinen Vasallenstaat da im Westen schauten.

Man ist bei vielen Ereignissen, die die DDR prägten, direkt dabei. Nicht auf den Straßen und Plätzen, sondern in all den Zirkeln und Beratungen, in denen Ulbricht agierte. Manchmal ratlos, manchmal hilflos. Oft aber sehr selbstbewusst, weil er zutiefst überzeugt war, das Richtige zu tun.

Aber bis zur Ablösung Chruschtschows 1964 war er auch derjenige Funktionär im Ostblock, der am unerschütterlichsten zu jeder aus Moskau vorgegebenen Linie stand. Und der auch keine Skrupel kannte, alte Kampfgenossen abzuservieren, um seine Machtstellung zu zementieren.

Und so merkt man eben auch, dass die „Machtfrage“, wie sie Lenin diskutiert hat, letztlich die Sackgasse für die ganze schöne kommunistische Idee war. Das stellt auch Kowalkczuk am Ende fest: „Den ‚Sozialistenmarsch‘ steuerten die Kommunisten an die Wand. Ihnen war nichts anderes als eine Diktatur auf Dauer eingefallen, um die Menschen, die sie ins vermeintliche irdische Paradies führen wollten, zu ihrem Glück zu zwingen. Walter Ulbrichts Werk wird historisch für immer damit verbunden bleiben.“

Walters Werk

Und das Wort „Werk“ ist nicht untertrieben, denn die DDR, wie sie entstand, fußt auf seinen Ansichten, wie das Ganze zu bewerkstelligen war. Wobei Kowalczuk ihm auch etwas attestieren kann, was den meisten kommunistischen Funktionären nicht gegeben war: die Fähigkeit, dazuzulernen und auf sich ändernde Verhältnisse zu reagieren.

Was lange Zeit nach seinem Tod noch so manche Gutgläubigen dazu brachte, gerade die 1960er Jahre als Blaupause für eine mögliche andere Entwicklung des Sozialismus zu betrachen, als eine Chance, die mit der Absetzung Ulbrichts verspielt wurde.

Aber das trügt wohl. Denn auf die Vorgänge in Prag 1968 reagierte Ulbricht genauso rabiat – wenn nicht noch schärfer – als die andere Spitzenfunktionäre im Ostblock. Wenn es um die Machtfrage ging, kannte er keine Zugeständnisse und hätte nur zu gern auch die NVA in Prag gesehen. Doch dieses Bild wollten die Machthaber im Kreml nicht zulassen.

Und trotzdem erlebten eben auch viele DDR-Bürger die Niederschlagung des Prager Frühlings als Ende eines großen Traums, dass es tatsächlich einmal einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geben könnte. Den muss man also bei Ulbricht nicht suchen. Aber man entdeckt mit der Biografie von Ilko-Sascha Kowalczuk einen Cheffunktionär, der ganz offensichtlich mehr Format hatte als seine Nachfolger.

Auch wenn riesige Lücken bleiben, weil eben auch die Archive nicht alles enthalten, was der Historiker eigentlich vorzufinden gehofft hat. Aber mehr, als es die meisten Ulbricht-Biografien bisher geboten haben.

Ilko-Sascha Kowalczuk „Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator“ C. H. Beck, München 2024, 58 Euro.

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