Auf den ersten Blick scheint das Buch auf den Krieg gemünzt zu sein, der seit dem Überfall durch russische Truppen in der Ukraine tobt und der seitdem auch das Leben in Deutschland verändert hat. Und der damit auch zunehmend die politischen Debatten bestimmt, verzerrt und rücksichtsloser macht. Doch Krieg beginnt in den Köpfen. Und mit Lügen. Und mit Menschen, die andere Menschen ab- und entwerten. Und das passiert mitten unter uns. Wir müssen es nur sehen.

Stefan Seidel ist studierter Theologe und leitender Redakteur der evangelischen Wochenzeitung „Der Sonntag“. Logisch, dass er am Ende auch ausführlich auf die Bergpredigt zu sprechen kommt und das, was dahinter steckt, wenn Jesus empfiehlt, auch die andere Wange hinzuhalten. Es ist die radikalste Form der Entfeindung.

Aber bekanntlich hat diese Haltung eben nichts daran geändert, dass sich Menschen immer wieder in blutigen Kriegen wiederfanden und ganze politische Konzepte darauf aufbauten, andere Menschengruppen zu Unwerten, Monstern und Feinden zu machen.

Der zerrissene Sozialvertrag

Das ist das eigentlich Ermunternde an diesen Essay, dass Seidel im Grunde – auch wenn er es nicht beim Namen nennt – den Zustand unserer eigenen Gesellschaft beschreibt, wenn er von Feindbildern schreibt und wie diese gemacht werden. Denn was zwischen Völkern und Nationen funktioniert, die man mit der Verteufelung des „Feindes“ aufeinander hetzen kann, das passiert auch – zunehmend aggressiver und offener – in unserem Alltag und unserer Politik. Und in unserer Wirtschaft.

Denn das Prinzip, das Gegeneinander und den völlig enthemmten Wettbewerb zur Grundlage des Wirtschaftens zu machen, hat Folgen, die die Gesellschaft regelrecht zerreißen – in Sieger und Verlierer. So eine Art der „Verteilung“ produziert geradezu Frust, Verzweiflung und Aggression.

Mit dem Bezug auf den Schriftsteller Pankraj Mishra schreibt Seidel: „Vielmehr führe das Gesetz dieses Zeitalters – das sozialdarwinistische Recht des Stärkeren – zu tiefen Rissen und Verwerfungen, sowohl zwischen Nationen und Gesellschaften, als auch innerhalb der Gesellschaften. Es herrsche ein ‚globaler Bürgerkrieg‘, der aus einer eskalierten Konkurrenz erwachse, die die Welt und die Gesellschaften in Gewinner und Verlierer aufspalte, so Mishra.“

Und es sind eben nicht nur die Milliarden Menschen in den ausgeplünderten Ländern, die in einem „sozialdarwinistischen Albtraum“ leben. Denn „selbst in den fortgeschrittenen Demokratien hätten eine dem Management gleichende Form der Politik und neoliberale Ökonomie den Sozialvertrag zerrissen.“

Eigentlich eine nüchterne Bestandsaufnahme.

Würde das nicht Folgen haben, nicht nur in einer zunehmenden Wahlenthaltung all der abgehängten Menschen, die noch vor Jahren zu konstatieren war. Denn inzwischen haben einige politische Akteure begriffen, dass man daraus Gewinn ziehen kann. Fustrierte und desillusionierte Menschen sind manipulierbar.

Wenn die Demokratie für sie nicht (mehr) funktioniert, sind sie bereit, neuen Botschaften zu folgen. Den Botschaften der Populisten, die die Wut schüren und nichts besser beherrschen, als Feindbilder in die Köpfe der Menschen zu pflanzen.

Die Scheindebatten der Populisten

Die Populisten setzen genau da an, wo Sozialprobleme nicht mehr durch eine ehrliche Sozialpolitik gelöst werden, wo Menschen nicht mehr das Gefühl haben, die Zukunft mitgestalten zu können oder überhaupt gefragt zu werden. Sie sind verführbar für die „neuen“ Welterklärungen der Populisten, egal, wie verdreht die sind. Und sie lassen sich auch gern einfangen durch die Bilder der „Reinheit“, die die Populisten nur zu gern verkaufen. Denn ihre Weltbilder sind Konstrukte der Reinheit. Nur das reine „Volk“ hätte ein Recht, im Zentrum von Politik zu stehen.

Wer anders aussieht, denkt, glaubt, lebt, der wird aussortiert, angeprangert, stigmatisiert. Mit solchen Rezepten wird die Spaltung der Gesellschaft regelrecht konstruiert – und auch das solidarische Denken, das eigentlich für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft unersetzlich ist, regelrecht zerstampft. Hier kommt Seidel nämlich zum Kern der Entfeindung, die ein ganz bewusster und sehr rationaler Schritt ist, wenn einem ringsum eigentlich alle möglichen Leute sagen, man müsse dem Anderen eins in die Fresse …

So, wie es sich gerade in den „Social Media“ austobt, ungefiltert und unreguliert: der systematische und völlig entfesselte Hass.

Doch: „Das einzige Pfund, mit dem Populisten und Fundamentalisten wuchern können, ist die Spaltung und die Überführung von Rationalität in diffuse Irrationalität“, schreibt Seidel. „Das Gegenmitel besteht demnach logischerweise darin, sich nicht spalten zu lassen, auf sachliche Lösungen orientiert zu bleiben und das Bedürfnis nach Irrationalität auf anderen ‘‚Spielwiesen‘ auszuleben.

Das heißt vor allem, sich keine Scheindebatten aufnötigen zu lassen und Probleme dort zu lösen, wo sie verursacht sind. Gerechtigkeit, Anerkennung, Teilhabe befrieden eine Gesellschaft, entschärfen soziale Spannungen und beugen Spaltungen vor.“

Nicht nur die Wange hinhalten

Sein Wort in Gottes Ohr, möchte man meinen. Denn genau das ist eben leider nicht die aktuelle Politik, die nur zu gern ökonomisch argumentiert, wenn ganzen Menschengruppen Teilhabe, Anerkennung und Gerechtigkeit vorenthalten werden.

Man hat es schon nicht leicht als friedlicher Mensch. Erst recht, wenn man gar keinen Zugang zur Macht hat. Und auch nicht bekommt. Das fehlt in Seidels Essay. Denn was nutzt es einem, die andere Wange hinzuhalten, wenn man doch nur neue Ohrfeigen bekommt? Womit man bei Jesus wäre und der Frage, was er in seiner Bergpredigt tatsächlich gemeint hat: Alles erdulden, hinnehmen, dankbar sein dafür, dass man schikaniert und geplagt wird?

Dass eine Lösung für menschliche Konflikte darin steckt, ahnt man zumindest, wenn Seidel die Botschaft der Gewaltlosigkeit und des bewussten Gewaltverzichts von allen Seiten beleuchtet. Denn es steckt nicht nur eine passive Haltung darin, die den eh schon Unterdrückten nicht aus seiner erniedrigenden Stellung heraus bringt und auch das Unrecht nicht beseitigt.

Im Grunde bietet Jesus hier einen Ausweg aus dem Dilemma der sich immer weiter aufschaukelnden Gewalt an. Kriegslogik ist nämlich nicht nur irrational und schafft irrationale Feindbilder, sie ist auch eskalativ und kennt eigentlich nur immer ein Ziel: die Vernichtung des Gegners.

Die Angst überwinden

Solange Kriegsherren glauben, den „Endsieg“ erreichen zu können, hören sie nicht auf, ziehen ihre Truppen nicht zurück und sind auch nicht bereit, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Das ist der aktuelle Fall Putin.

Der bekanntlich auch fest davon überzeugt ist, dass sich der dekadente Westen im Niedergang befindet und er nur die Spaltung immer weiter vorantreiben muss, dann brechen die Staaten des Westens zusammen. Dafür lässt er seine Propagandaabteilung ja auch Manifeste schreiben, die bei den populistischen Parteigranden dann erstaunlich schnell zur politischen Rede werden, wie jüngst „Spiegel“ und „Tagesspiegel“ berichteten.

Das Motto aller Kriegsherren und Populisten ist im Grunde dasselbe: Verfeindet euch!

Aber wo hilft dann Seidels Essay?

Eigentlich an der Stelle, die möglicherweise auch Jesus meinte. Und das ist nicht die Politik, nicht die große und nicht die kleine, sondern es ist der ratlose, von seinen Ängsten getriebene Mensch. Denn bei seinen Ängsten packen ihn die Verfeinder – indem sie ihm einen Feind geben, den er hassen, beleidigen und treten kann. Was der erste und sichere Schritt in die Eskalation ist. Denn es löst kein einziges seiner Probleme, schürt aber die Ängste, Vorurteile und die Bereitschaft, selbst zur Gewalt zu greifen.

Ideologien leben davon, dass sie Mensche dazu erziehen, ihre Empathie für andere Menschen zu negieren. Doch genau dafür wirbt Jesus in der Bergpredigt: unbedingte Empathie, das Wahrnehmen des – verletzlichen – Menschen im Gegenüber. Und dann?

Ein Tisch voller Optionen

Dann eröffnen sich Handlungsräume, Möglichkeitsräume. Seidel verweist ganz zentral auf die Erfahrungen der Ostdeutschen mit der Friedlichen Revolution, als der christliche Gedanke der Gewaltlosigkeit auch die Demonstrationen beherrschte. Und damit auch den Umgang mit den Herrschenden. Was übrigens überhaupt erst den Weg eröffnete, diese Revolution friedlich zu beenden – mit einem friedlichen Machtverzicht.

Eine Logik, die, nebenbei gesagt, auch Michail Gorbatschow anwandte, als er den Amerikanern eine bedingungslose Abrüstung vorschlug. Christlicher geht es gar nicht: Auf das Schwert verzichten und dem Anderen die Hand reichen.

Und das funktioniert im Großen wie im Kleinen. Und: Es öffnet Möglichkeitsräume. Denn wenn ich das Gegenüber nicht als Feind betrachte, sondern als einen Menschen, mit dem ich Kompromisse schließen kann, dann habe ich auf einmal einen Tisch voller Optionen vor mir, der sich komplett unterscheidet von der Alternativlosigkeit der Feind-Ideologie, die nur ein „Für mich“ und ein „Gegen mich“ kennt und eskaliert, bis einer flennt.

Auf einmal werden die 99 Prozent der Optionen sichtbar, die zwischen Alles und Nichts liegen. Und der Gegenüber wird zum Spielpartner statt zum Gegner, den ich niederschlagen muss. Aber: Damit sollte man bei sich selbst anfangen. Darum geht es eigentlich im größten Teil von Seidels Essay. Es ist eine Übung, auch eine Anstrengung, auf die irrationalen Bilder der Ideologen zu verzichten. Es entstehen, wie Seidel schreibt, „Gegen-Realitäten“.

Zukunft ist möglich

Die vorgefundene Realität hört auf, ein Dogma zu sein, sondern wird zu einem Ort, den man gemeinsam verändern kann. Möglichst zum Besseren. Was natürlich leichter ist, wenn sich mehr Menschen als Handelnde verstehen und die bestehenden Konflikte als Ausgangspunkt zur Suche nach einer möglichen anderen Zukunft.

Denn Zukunft ist immer anders. Auch anders, als es sich Ideologen und Populisten so gern denken. Aber sie wird friedfertiger und erfüllter, wenn ich meine Mitmenschen nicht als Gegner betrachte, denen ich alles mit Gewalt abringen muss, sondern als Mitmenschen und Mitgestalter.

Deutlich wird bei Seidel eben auch, dass Ideologien davon zehren, dass Menschen die Welt und auch ihr eigenes Leben als nicht veränderbar betrachten. Und sich selbst nicht als Schöpfer ihres eigenen Daseins. Sondern ausgeliefert – was dann all den Verschwörungstheorien Tür und Tor öffnet. Denn wer sich hilflos fühlt, glaubt jeden Quatsch über finstere Mächte.

Denken im Wir

So wird in der Bergpredigt, die scheinbar so harmlos daher kommt, auf einmal ein menschlicher Anspruch sichtbar, der über das Hinnehmen unverdienter Schläge hinausgeht, der im Friedfertigbleiben auf einmal die Handlungsmöglichkeiten zeigt, die uns tatsächlich erst zu Menschen machen. In der Mehrzahl.

Denn nur der Verzicht darauf, andere Menschen auszuschließen und abzuwerten, für „unrein“ zu erklären, schafft die Grundlage für Kooperation und Solidarität. Also für das Schaffen einer gemeinsamen Welt, an der alle mitbauen dürfen. In der es tatsächlich ein gelebtes „Wir“ gibt.

Und auch ein Verständnis dafür, was dieses „Wir“ eigentlich ist, wenn wir einmal über den deutschen provinziellen Tellerrand hinausschauen und aufhören, den Rest der Welt für unterentwickelt, unfähig und unwillig zu erklären. Also tatsächlich gemeinsam mit anderen Menschen Dinge gestalten und nicht immer so zu tun, als müsste unser Eigeninteresse zuerst bedacht werden.

Genau darum geht es in der Bergpredigt nämlich nicht. Da geht es um das Begreifen, dass es auch uns besser gehen wird, wenn es den anderen besser geht, dass wir also mit großem Herzen sprechen müssen und lernen müssen, in den anderen uns selbst zu sehen.

Als leidensfähige, aber auch als lernfähige Menschen, die eigentlich alle nur ein großes Projekt bewerkstelligen müssen (und da bin ich eigentlich schon wieder in einem der nächsten hier zu besprechenden Bücher): Es besteht darin, das Leben auf diesem einzigartigen Planeten zu bewahren und unsere gemeinsame Zukunft zu retten.

Und eins ist eigentlich klar: Nichts ist dabei so sinnlos wie die Psychologie von Krieg und Gewalt.

Stefan Seidel „Entfeindet euch!“ Claudius Verlag, München 2024, 20 Euro.

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