Leipzig-Kochbücher gab es in der Vergangenheit immer wieder welche, auch so berühmte wie das der Susanna Eger, das 1706 erstmals erschien und bis 1745 mehrere Nachauflagen und Erweiterungen erfuhr. Aber in jüngster Zeit gab es kein solches. Was Jörg Färber dazu animierte, selbst eines zusammenzustellen. Er ist ausgebildeter Koch, auch wenn er, wie er schreibt, seine Kochschürze an den Nagel gehängt hat.
Denn ihn reizte noch etwas ganz anderes im Leben: Menschen zu retten. Oder mit seinen Worten: „Der C-Schlauch und das EKG sind meine neuen Arbeitsgeräte. Ich bin mittlerweile Hauptbrandmeister und Notfallsanitäter bei der Berufsfeuerwehr in Leipzig. Täglich darf ich Menschen hier in Leipzig helfen. Ein Privileg, welches ich sehr schätze.“
Doch obwohl er die Berufs-Kochschürze an den Nagel gehängt hat, hat er seine Leidenschaft fürs Kochen nicht begraben. Im Gegenteil. Ihn interessierte, was denn nun die Leipziger Küche eigentlich ausmacht. Gibt es sie überhaupt? Oder muss sie sich verstecken hinter all den berühmten Regionalküchen in der Nachbarschaft? Oder ist es gar eine Resteküche?
Hier wird nichts weggeschmissen
Was kein abwertender Terminus ist. Das wusste selbst Susanna Eger, die keineswegs einem reichen Haushalt vorstand. Im Gegenteil: Nach dem frühen Tod ihres Mannes war sie von Armut bedroht, machte sich selbstständig und kochte für die großen Leipziger Bürgerhäuser, war also Berufsköchin.
Aber in ihrem Kochbuch findet man eben nicht nur die prächtigen und teuren Speisen, die sie zu „Gastereyen und Hochzeiten“ auf den Tisch brachte, sondern auch die Gerichte, die sich die ganz gewöhnlichen Leipziger mit schmalem Geldbeutel tagtäglich kochten.
Dass das Kochen mit wenig Geld für viele Leipziger Haushalte auch 1887 noch immer Alltag war, belegt das von Therese Niese damals herausgegebene Kochbuch. Sie betrieb eine richtige Kochlehranstalt, in der Frauen eben nicht nur lernten, anspruchsvolle Gerichte aus den Gaben der Jahreszeit zu zaubern, sondern auch sparsam mit allen Zutaten umzugehen und Reste fantasievoll zu verwerten.
Auch aus ihrem Kochbuch hat Färber einige erstaunliche Gerichte übernommen – wie Therese Nieses Oblaten-Würstchen mit dem eigentümlichen Namen „Frutures“. Ebenso ein Reste-Gericht, knusprig und lecker und von Färber leicht abgewandelt, wie alle Gerichte, die er in alten Kochbüchern fand – oder namenlosen Rezepte-Sammlungen im Kulinarik-Archiv.
Viele Hausfrauen haben ja ihre Rezepte einst eifrig gesammelt und aufgeschrieben, aber nie als Buch veröffentlicht. Wenn so eine anonyme Rezeptsammlung auftaucht, ist sie eine wahre Fundgrube. Denn noch viel stärker als die Kochbücher von Eger und Niese erzählen sie vom Alltag und dem Einfallsreichtum der Frauen, die mit wenig Geld ihrer Familie trotzdem eine abwechslungsreiche Küche bieten wollten.
Und stärker als heute, wo es in Supermärkten meistens alles zu kaufen gibt, waren sie immer darauf angewiesen, was es gerade frisch auf dem Markt zu kaufen gab.
Eine gabenreiche Landschaft
Wobei Färber – unter anderem in einem umfangreichen Kapitel „Leipziger Allerlei“ – auch daran erinnert, dass Leipzig einst in einer begnadeten Landschaft lag, in dem das Obst und Gemüse direkt vor den Toren wuchs (woran bis heute die Kohlgartenstraße erinnert), die Flüsse jede Menge guten Fisch bereithielten – bis hin zur Forelle (was dann im 19. Jahrhundert mit der zunehmenden Verschmutzung und der Kanalisierung der Flüsse ein jähes Ende nahm).
Es gab Flusskrebse in Mengen, Muscheln und Spitzmorcheln. Womit man schon die wichtigsten Zutaten des „Allerlei“ beisammen hat, von dem einige Kochexperten ja meinen, es wäre mal ein Reiche-Leute-Esen gewesen.
Aber Färber beweist eigentlich das Gegenteil, hat auch bei Susanna Eger nach ersten Spuren des „Leipziger Allerlei“ gesucht und sie auch gefunden. Auch wenn das Gericht noch nicht so hieß. Aber das Prinzip hatte sich in Leipziger Küchen schon damals etabliert. Das Ergebnis ist eigentlich logisch: Es gibt nicht das eine Allerlei-Rezept.
Jörg Färber: „Es gibt kein Original und keinen, der es erfunden hat. Kein Rezept, welches in ‚Stein gemeißelt‘ ist. Liest man sich durch historische Kochbücher, wurden immer wieder Dinge geändert, Zutaten ergänzt oder ausgetauscht.
Aber ein Grundprinzip festigte sich, weil es auf typisch regionale Zutaten aus der Leipziger Umgebung zurückgriff, wie Jörg Färber feststellt: „Edelflusskrebse aus den Leipziger Flüssen sowie Spitzmorcheln aus den Leipziger Auenwäldern, serviert mit frischem Gemüse von den Leipziger Feldern. Dieses ‚Allerlei‘, bekannt über die Stadtgrenzen hinaus, konnte nur zu Leipzig gehören.“
Und weil dieses Arrangement mit jeder Menge Gemüse so wandelbar ist, hat Färber gleich eine ganze Garnitur von „Allerleis“ zusammengestellt und gekocht. So wie die „Allerlei“-Gemüsepfanne, die zeigt, was man aus „Resten“ tatsächlich alles machen kann, aber eben auch ein „Besser-Esser-Leipziger-Allerlei“ mit Spitzmorcheln und Flusskrebsschwänzen.
Beides – wie alle Gerichte in diesem Buch – in einem deftigen Foto präsentiert. Wer nach Durchblättern dieses Kochbuches keinen Hunger hat, der hat garantiert starke Nerven.
Wenn’s an Krebsen fehlt
Aber wo er schon einmal beim Spiel mit dem Allerlei ist, zaubert Färber eben auch gleich noch Frühlingseierkuchen, Erbsensuppe mit Rohkost-Salat und – nach Therese Niese – gefüllte Kohlrabi. Mit Lust am Nachjustieren und immer wieder kleinen Verweisen auf die Gegenwart, in der immer mehr Menschen sowieso mehr Appetit auf Vegetarisches haben und auf Fleisch zunehmend verzichten.
Nur war das auch im 19. Jahrhundert vor allem auch eine Frage des Geldes. Fleisch hatte damals noch einen Preis, der dem Fleisch angemessen war. Es kam in der Regel wirklich nur sonntags auf den Tisch. Auch wenn Färber Fleisch – oder in diesem Fall Hack – doch da und dort mit in die Rezepte bringt, wissend darum, dass im 19. Jahrhundert eben auch mal Mettwurst die Krebse und Morcheln ersetzen musste.
Doch natürlich belässt er es nicht bei den beiden berühmtesten Leipziger Köchinnen. Mit Idas Wickelklößen würdigt er zum Beispiel auch das beste Rezept seiner Uroma Ida, das in der Familie über Generationen bewahrt und bewundert wurde. Aber auch Lokales hat er aufgegriffen, wie es sich in alten Kochbüchern auch bewahrt hat – so wie das Leutzscher Kutschergulasch, die Mölkauer Mostrich-Suppe (die daran erinnert, dass in Mölkau auch mal Senf produziert wurde) oder Stötteritzer Hemdbohnen.
Mit dem „Gefüllten Krautkopf“ erinnert er an den „Luna-Park“ in Wahren und mit der „Gelben Rathssuppe“ daran, dass sich die Leipziger Obrigkeit zu gemeinsamen Festschmäusen auch Gerichte gönnte, die schon beim Anrichten zeigten, dass hier an nichts gespart wurde.
Wer dann freilich im süßen Teil nach zwei berühmten Leipziger Gebäcken sucht – den Lerchen und den Räbchen, wird sie nicht finden. Da hat sich Färber lieber anderen „Süßkram“ vorgenommen, der ebenso lokaltypisch ist – so wie die Äpfel-Klösser, die dem berühmten Borsdorfer Apfel huldigen, „Dräggische Quarkkeulen“ oder Mandelbrezeln, wie sie die Leipziger Brezel-Frauen anno 1799 zubereiteten. Es ist also so nebenbei auch ein kleines kulinarisches Geschichtsbuch, das eben nicht nur die Festtagsküche darbietet, sondern auch die kleinen Essfreuden der ärmeren Leipziger, die immer in der Mehrzahl waren.
Kochen mit Einfallsreichtum
Bleibt nur noch Goethe, der kulinarisch aber keine Spuren in Leipzig hinterlassen hat, auch wenn ihm Färber die Sauerampfer-Rahmsuppe widmet, die er mit seinen Kommilitonen möglicherweise in Auerbachs Keller gegessen haben könnte. Obwohl Bernd Weinkauf bei allen Recherchen keinen Hinweis darauf gefunden hat, dass der junge Goethe tatsächlich in Auerbachs Keller einkehrte.
Was wohl nichts an der Beliebtheit er dort servierten Gemüse-Rahmsuppen ändert. Schon gar nicht bei Jörg Färber, der mit vielen farbenfrohen Gerichten zeigt, dass vegetarische Mahlzeiten aller Art schon immer zur Leipziger Küche gehörten, manchmal regelrecht exotisch wie die Zitronensuppe aus Susanna Egers Kochbuch oder die Mairübchen, in Butter geschmort, die schon mit in das große Experimentierfeld „Allerlei“ gehören, das für manchen Hobbykoch und manche junge Köchin eine echte Anregung sein wird.
Denn oft steht man ja vor dem frischen Gemüseangebot auf dem Markt, könnte sich den Beutel vollpacken mit den Gaben der Natur – und dann fehlt das richtige Rezept.
So wie es ganz bestimmt auch den Leipzigerinnen der Vergangenheit ging. Die dann kreativ wurden und alle Dinge zusammen in Topf und Tiegel warfen und schmoren ließen, bis wieder ein unverkennbar Leipziger Gericht daraus geworden war. Und wenn die Hungrigen am Tisch dann fragten, wie es denn heiße, lag es schon immer nahe, es Leipziger Allerlei zu nennen.
Nur eine Melange hat den Namen nie verdient und kommt hier auch nicht vor: Möhren-Erbsen-Gemüse.
Denn eins ist nach dem Durchstöbern dieses Kochbuches klar: Leipziger Küche lebt von der Vielfalt der Zutaten. Und von der Finesse von Koch und Köchin, die dieses Allerlei dann verlockend fürs Auge auf dem Teller platzieren. Manchmal auch fürs Ohr, wenn etwa zum Schluss das Semmelgerassel aufgetragen wird – frisch aus dem Ofen.
Da sind dann alle mal still und lauschen dem Knistern, bevor der Puderzucker draufkommt und die Kirschpfanne mit Semmeln aufgeteilt wird für die lüsternen Mäuler.
Jörg Färber„Das Leipzig Kochbuch“ Buchverlag für die Frau, Leipzig 2024, 22 Euro.
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