Nicht nur die Welt steckt aktuell in lauter akuten Krisen, die von Menschen in Gang gebracht wurden. Auch die linke Bewegung steckt in der Krise, scheint völlig marginalisiert zu werden, während rechte und populistische Parteien den Leuten ihre faulen Rezepte von vorgestern als neuen heißen Scheiß verkaufen. Was ist da los mit der Linken, fragte sich deshalb einer der bekanntesten Linken der Republik, Klaus Lederer. Von 2016 bis 2023 war er Kulturbürgermeister in Berlin.
Dann kam ja bekanntlich jene Landtagswahl mit den vielen Unregelmäßigkeiten durch einen parallel stattfindenden Marathonlauf, die dann wiederholt werden musste. Und wie das so ist mit dem Wähler, dem unberechenbaren Wesen: Der wählte beim zweiten Urnengang die CDU zur stärksten Kraft und die Linke flog raus.
Und damit hatte Klaus Lederer endlich mal Zeit, sich hinzusetzen und etwas intensiver darüber nachzudenken, warum die Linke – womit er nicht nur seine Partei meint – derart in die Defensive geraten konnte.
Hat sie keine Angebote mehr für die Menschen im Land? Sind ihre Rezepte veraltet? Gibt es niemanden mehr, für den sie Politik machen könnte? Oder ist es schlicht ihre offen ausgetragene Zerstrittenheit, die dann Anfang 2024 in der Gründung einer neuen Splitterpartei mündete, welche die Linke zusätzlich schwächte?
Womit anfangen?
Lederer fängt da lieber ganz vorn an, bei sich selbst und den Gründen, warum er als junger Mensch 1992 in die PDS eintrat – und nicht etwa bei SPD oder Grünen, wo ihn so mancher Zeitgenosse eher verortet hätte. Das geht einem mit manchem Linken so, nicht mit allen. Und natürlich hat das Gründe in der gemeinsamen Wurzel, die viele Wahlkämpfer scheinbar völlig vergessen haben.
Und die heißt nicht Karl Marx, auch wenn Lederer sich in diesem Buch auch intensiv mit dem beschäftigt, was Marx tatsächlich geschrieben hat – und was nicht. Denn ein Bleigewicht, das ein Teil der Linken bis heute mit sich herumschleppt, ist ein marxistischer Dogmatismus, oft verbunden mit einem linken Sektierertum. Was dann für eine verlässliche Regierungsarbeit in linken oder liberalen Bündnissen praktisch keine Grundlage bietet.
Aber dass man das, was Marx als Sozialismus bezeichnete, nicht geschenkt bekommt, dürfte sich ja in den vergangenen 170 Jahren herumgesprochen haben. Und auch, dass Revolution in den Schriften des Dr. Karl Marx nicht unbedingt gewalttätige Umwälzung bedeutet. Eine Lehre, die ja bekanntlich schon die deutsche Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert zog und fortan auf einen Kurs der Reformen setzte.
Dass die organisierte Arbeiterschaft dabei bis weit in die 1960er Jahre die wichtigste Rolle spielte, um den Kapitalismus zu zähmen, darauf geht Lederer natürlich auch ein.
Wer die eigene Geschichte nicht kennt, der lernt natürlich nichts draus. Auch nicht aus den Fehlern, die gemacht wurden. Und für Lederer steht fest, dass die Linke sich nach 1990 viel zu wenig mit der Aufarbeitung des 1989 endlich überwundenen Stalinismus beschäftigt hat.
Denn erst das öffnet den Weg zu begreifen, was eigentlich in der neuen geschichtlichen Phase passierte, für die der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama schon „das Ende der Geschichte“ diagnostizierte, obwohl es lediglich das Ende des Kalten Krieges und des „Realsozialismus“ war. Was klügere Zeitgenossen dann in dem schönen Spruch zusammenfassten: Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist nur übrig geblieben.
Was natürlich die Frage aufwirft: Was ist dann aus den ganzen sozialistischen Ideen geworden? Stehen sie nur noch in den Wahlprogrammen der Linkspartei?
Liberté, Égalité, Fraternité
Nicht wirklich, stellt Lederer fest, dem noch bewusst ist, dass auch die Ideen des Sozialismus ihren Ursprung in der Französischen Revolution von 1789 haben, in jenem „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, das bis heute keine einzige Gesellschaft je verwirklicht hat, bestenfalls in Ansätzen. Was in einem längst pervertierten Freiheitsbegriff seinen Grund genauso hat wie in den ökonomischen Grundlagen und Zwängen der Gesellschaft, die Karl Marx in seinen vielen dickleibigen Schriften zu verstehen versuchte.
Denn wenn man die zugrunde liegenden Prozesse einer (entfesselten) kapitalistischen Gesellschaft nicht verstanden hat, kann man sie weder reformieren noch reparieren oder gar einhegen, wenn sie – wie wir das aktuell erleben – die Grundlagen unserer Existenz auf der Erde systematisch zerstören.
Ein politisches Thema, auf das Lederer ebenfalls ausgiebig eingeht. Denn in der Klimakrise, im Artensterben und der Zerstörung irdischer Ressourcen bündelt sich auch das zentrale Thema linker Politik: das der sozialen Gerechtigkeit. Denn das unregulierte Wachstumsdenken greift ja nicht nur mit Gewalt auf alle verfügbaren Rohstoffquellen, auf Wälder, Böden und Wasservorräte zu.
Es verfügt auch über die Arbeitskraft der Menschen, produziert nicht nur die Armut im globalen Süden (und tut alles, um diese Armut zu erhalten), sondern auch die Armut in den hoch entwickelten Ländern, denen es eigentlich ökonomisch ein Leichtes sein sollte, allen ihren Bürgern ein gutes und menschengerechtes Leben zu ermöglichen.
Und Lederer ist sich nur zu sehr dessen bewusst, was die meisten einstigen DDR-Bürger immer verdrängt haben: Dass man 1990 eben nicht Teil jener bewunderten alten Bundesrepublik wurde, die mit dem Wirtschaftswunder und dem Versprechen eines Wohlstands für alle Bürger jahrzehntelang über die Bildschirme flimmerte.
Was 1990 mit ungebremster Wucht zuschlug, war schon der 1983 durch Kohls „Wende“ eingeleitete Neoliberalismus, der nach der deutschen Einheit mit der Privatisierung einst verlässlicher Staatskonzerne (wie Bahn und Post) ein neues Kapitel eröffnete.
Im Zeitalter des Neoliberalismus
Der Neoliberalismus, der geistig auf den theoretischen Vorarbeiten von Friedrich August von Hayek und Milton Friedman beruht und in den frühen 1980er Jahren von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien zur Staatsdoktrin erhoben wurde, will nicht nur den sogenannten „schlanken Staat“ (für den Sozialausgaben des Teufels sind).
Sondern er will auch unregulierte Märkte (auf denen den dort agierenden Konzernen keine Hemmnisse in den Weg gelegt werden) und vor allem das, was so gern als „Steuersenkung“ verkauft wird, obwohl es dabei stets nur um die Senkung der Steuern der Reichen und Besitzenden geht. Um es einfach kurz zusammenzufassen.
Lederer ist ja nicht der Einzige, der bemerkt hat, dass mit der FDP eine neoliberale Partei mit in der Regierung sitz und alles verhindert, was die Bundesrepublik eigentlich dringend braucht, um sich den aktuellen Krisen anzupassen. Nicht nur wird bei den dringend notwendigen Investitionen für die Energiewende gespart. Mit Verweis auf die Schuldenbremse (eine neoliberale Erfindung) begründet der Bundesfinanzminister auch immer neue Vorstöße zu sozialen Einschnitten.
Die soziale Frage steht also mitten im Raum. Und Lederer ist sich nur zu gut dessen bewusst, dass die multiplen Krisen, in denen (nicht nur) Deutschland steckt, nur gelöst werden können, wenn die Lösungen auch sozial abgefederr sind und nicht immer nur die Armen und Schlechtbezahlten dafür blechen. Und er hat auch nicht vergessen, wie die Corona-Krise überall offen legte, dass die Grundversorgung, die dieses Land eigentlich einmal zu sichern versprach, überall morsch und kaputtgespart ist – von den Gleisen der Bahn über die heruntergesparten Krankenhäuser und Pflegeheime bis zum Bildungssystem.
Überall fehlen die Leute – und das auch wegen unzumutbar gemachter Arbeitsbedingungen. In der kapitalistischen Verwertungslogik nur zu folgerichtig. Wenn man die Gewinne für die Aktionäre steigern will, muss man beim Personal sparen, werden Schichtbesetzungen ausgedünnt und Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeiten für selbstverständlich erklärt. Verfügbarkeit, Flexibilität, Karriere. Eine Sprache, die sich in den vergangenen 34 Jahren so tief eingefressen hat, dass die meisten Bundesbürger sie gar nicht mehr infrage stellen.
Vermarktet bis in die Privatsphäre
Und ebenso wenig stellen sie in Frage, dass selbst ihrr Privatsphäre mittlerweile verwertet wird und übermächtige IT-Konzerne aus den USA unsere Medienlandschaft zerstören, während a-soziale Netzwerke zum Tummelplatz rechter Verschwörungstheorien und Falschbehauptungen geworden sind. Genau dort haben sich rechtsextreme Parteien ihren Resonanzraum geschaffen, mit dem sie den Menschen wieder einreden, die Lösung für alle Probleme liege in Abschottung, weißem Rassismus und Nationalismus.
Ein Angebot, das gerade jene Menschen abholt, die sich in ihrem Alltag nicht mehr wirklich wertgeschätzt und gleichberechtigt fühlen. Jene Menschen, die eigentlich die prädestinierten Wählerinnen und Wähler der Linken sein müssten.
Ein Thema, das Lederer anhand der alten, längst überholten Vorstellungen von Proletariat, der so gern gefeierten Arbeiterklasse abhandelt, um zumindest den Lesern deutlich zu machen, dass es die klassische Arbeiterklasse, wie sie sich Karl Marx im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 vorstellte, schon längst nicht mehr gibt. Vielleicht auch nie gab.
Im Grunde geht es schon immer um alle Menschen, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen, um einen Lebensunterhalt zu haben. Da gehören die Industriearbeiter natürlich genauso dazu wie die Dienstboten, die Päckchenausfahrer, Putzkräfte, Callcenter-Bienen und so weiter. Die Welt der abgehängten und trotzdem abhängigen Menschen ist heterogen und unter dem antiquierten Begriff Arbeiterklasse schon lange nicht mehr zu fassen.
Doch weil sie sich von keiner Partei mehr vertreten fühlen, gehen sie immer seltener zur Wahl und überlassen damit die Regierung immer stärker den Parteien der Reichen.
Lederer beschreibt es so: „Ich zweifle nicht daran, dass die Abwendung vieler Menschen von der Politik auch daher rührt, dass sie sich bei den wachsenden Zumutungen des Alltagslebens auf sich selbst gestellt sehen und alleingelassen fühlen. Die marode Infrastruktur und die Erosion der öffentlichen Daseinsfürsorge führen unmittelbar zu Politikverdrossenheit. Sie sind Brandbeschleuniger des Populismus.“
Wenn der Staat versagt
Wer den Staat und seine Einrichtungen der Daseinsfürsorge schwächt, zerstört direkt und nachhaltig den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Aber was folgt daraus? „Soziale Deprivation wird ursächlich für gesellschaftliche Desintegration. Kooperation, gegenseitige Sorge und Solidarität müssen nämlich gesellschaftlich organisiert werden“, schreibt Lederer. „Wenn sich die Politik in ihren Sonntagsreden darauf beschränkt, Solidaritätsappelle auszurufen, ist es das Pfeifen im Walde – und das Weiterreichen einer genuin politischen Aufgabe an den einzelnen Bürger, die zum Puffer des Staatsversagens gemacht wird.“
Was eben auch auf Klima- und Energiepolitik zutrifft: Es ist der Staat, der die Mittel hat und nutzen muss, das Land auf Klimakurs zu bringen. Die Niedriglöhner, all die Menschen, die sowieso schon am Existenzminimum malochen, die können das aus eigener Kraft nicht stemmen. In Konturen sieht man schon, wie eine wirkliche linke Politik aussehen müsste.
Auch wenn Lederer sein Buch vor allem als eine Bestandsaufnahme betrachtet, eine Verortung, wo eigentlich linke Politik stattfinden müsste und welchen Platz sie eigentlich in einer Gesellschaft hat, die sich seit über 30 Jahre so rücksichtslos dem neoliberalen Diktat unterworfen hat.
Es geht also – wie 1789 – immer noch um dieselben unerfüllten Ansprüche von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, um eine Gesellschaft, in der alle Menschen Teilhabe und Anerkennung finden und nicht durch gnadenlose Sparpolitik auf sich selbst zurückgeworfen werden. Was für Lederer den alten linken Internationalismus mit einschließt – die gelebte Solidarität mit den Armen und Ausgebeuteten weltweit.
An die wir durchaus denken sollten, wenn wir fröhlich drauflos konsumieren und dabei vergessen, dass die Waren in unseren Läden nur deshalb so billig sind, weil wir sie weit weg von Billigarbeitskräften herstellen lassen.
Nationalismus ist nicht links
Und daran müsste sich auch eine Sahra Wagenknecht orientieren, findet Lederer. Doch er findet bei dieser einstigen Gallionsfigur der Linken nicht mehr viel Linkes.
Die „umtriebige Medienunternehmerin Sahra Wagenknecht“ nennt er sie. Dem Anspruch des Internationalismus aber entziehe sich Wagenknecht, „indem sie ihn als ‚Kosmopolitismus‘ – als elitären Luxus vom Wohlstand verwahrloster ‚Lifestyle-Linker‘ – denunziert. Sie verhandelt die Gleichheit populistisch als nationale Frage, bei deren Beantwortung der Rest der Welt mit gutem Gewissen ignoriert werden darf.“
Das aber wird nicht funktionieren, denn die Krisen sind längst allesamt global. Linke müssen sich also zwingend auch Gedanken darüber machen, wie man international an Lösungen arbeiten kann. Und Lederer sieht auch, dass die Bürger der Bundesrepublik viel differenzierter auf Ursachen und Lösungsmöglichkeiten der gegenwärtigen Krisen schauen, als es das Gepolter auf dem politischen – und medialen – Parkett suggeriert.
„Die Gegenüberstellung ‚abgehobener‘ Eliten und ‚bodenständiger‘, ‚vergessener‘ Arbeiter*innen ist eher ein Produkt des ‚Meinungskampfes‘ in politischen und medialen Arenen, als es die gesellschaftliche Wirklichkeit abbildet“, schreibt er. „Die Unterstellung, dass die ‚Eliten‘ in besonderer Weise progressiv seien, die arbeitenden Massen dagegen besonders reaktionär, drückt eine gehörige Portion Klassendünkel aus.“
Es geht um alle Menschen
Aber so kann man Ressentiments schüren und den Leuten einreden, „die da oben“ seien schuld. Obwohl es tatsächlich um ganz simple Dinge wie Gleichberechtigung, echte Teilhabe und echte Mitbestimmung geht. Und um eine faire Lastenverteilung, von der wir Lichtjahre weit entfernt sind.
Und um Angebote einer solidarischen Gesellschaft, in der nicht die einen immerfort ausgenutzt, ausgegrenzt und überfordert werden, während die andere glauben, sie wären auserwählte „Leistungsträger“. Es geht um alle Menschen, bringt es Lederer auf den Punkt. Die Ideale der Französischen Revolution gelten nicht nur für „Proletarier“, sondern müssen für die gesamte Gesellschaft eingelöst werden – und damit endlich auch wieder politisch artikuliert werden.
Und fast am Ende zitiert er deshalb auch Albert Einstein: „Unter der Verkümmerung des sozialen Wesens im Kapitalismus leiden, wie schon der Physiker Albert Einstein in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für einen humanen Sozialismus feststellte, ‚alle Menschen, unabhängig von ihrer Stellung in der Gesellschaft‘.“
Denn die Vereinsamung trifft eben nicht nur „die da unten“, sie durchfrisst die ganze Gesellschaft, macht sie rau und aggressiv, weil jeder scheinbar gegen jeden immerfort im Wettstreit steht. Während das Gemeinsame, ohne das wir nicht existieren und nicht überleben können, vor die Hunde geht.
Ein Buch, das eben nicht nur Linken zeigt, dass es beim Politikmachen um mehr geht als um Wirtschaftswachstum, schwäbische Hausfrauen und beleidigte Konzerne.
Klaus Lederer „Mit links die Welt retten“ Kanon Verlag, Berlin 2024, 22 Euro.
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