In der englischsprachigen Wikipedia hat sie ganz selbstverständlich ihren Platz. In der deutschsprachigen wird sie (noch) nicht erwähnt. Vielleicht ändert sich das mit diesem Buch, mit dem Simone Scharbert die Schwester zweier berühmter Brüder würdigt: Alice James, Schwester des Schriftstellers Henry James und des Philosophen und Psychologen William James. „eine anrufung“ hat sie ihre poetische Annäherung an die Schwester genannt.

Eine Ansprache ist es schon, denn in ihren assoziationsreichen Texten spricht sie Alice direkt an, erschafft quasi ihr Leben, in dem sie ihrer Alice deren Leben noch einmal erzählt, sich in ihre Person hineinversetzt und damit auch das Schicksal einer jungen Frau in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnet, der – anders als ihren Brüdern – der Besuch des Gymnasiums und ein Studienabschluss versagt blieben.

Obwohl Alice genauso begabt war wie ihre beiden berühmten Brüder. Zwei jüngere, nicht berühmt gewordene Brüder hatte sie auch. Die kommen in ihrer Lebensgeschichte, die Simone Scharbert hier erzählt, aber praktisch nicht vor.

Denn wirklich enge und in ausgiebigen Briefwechseln dokumentierte Beziehungen hatte sie nur zu Henry und William. Und in einigen von Henrys Romanen (insbesondere in „The Bostonians“ von 1886) kommt sie genauso vor wie die anderen Mitglieder ihrer Familie und viele andere Persönlichkeiten der Bostoner Gesellschaft, verwandelt, verändert und trotzdem erkennbar. Denn Henry James war ein sehr genauer Beobachter.

Die Risse einer traditionellen Gesellschaft

Und er hatte auch ein Gespür dafür, wo die gutbürgerliche Gesellschaft seiner Zeit ihre Risse zeigte, die Spuren einee Veränderung, für die auch Alice James steht, auch wenn sie es selbst zeitlebens nicht ausleben konnte. Der Hauptgrund dafür waren ihre Krankheiten, die sie oft wochenlang ans Bett fesselten.

Aber es geht natürlich auch um die Scheuklappen einer Gesellschaft, die die traditionellen Rollenbilder der Frau nicht hinterfragten. Rollenbilder, in die sich Alice meistens schickte – dafür stehen symptomatisch die sperrigen Krinolinen, die sie trug, und das eng geschnürte Korsett, das Frauen zu steifen Puppen machte.

Doch es war eben auch die Zeit der beginnenden Frauenbewegung in den USA. Und einige der bekanntesten Vorkämpferinnen der Frauenrechte gehörten zum Freundeskreis von Alice James – Elisabeth Palmer Peabody zum Beispiel.

Aber auch ihre Lebensgefährtin – wenn man das damals schon so nennen konnte – Katharina Loring engagierte sich für die Frauenbewegung, insbesondere für die Bildung der Frauen, die nicht studieren durften. Und mit ihrer Cousine Minni Temple hatte Alice auch eine Altersgefährtin in der Nähe, die mutig auf die Konventionen ihrer Zeit pfiff – aber dann sehr früh an Tuberkulose starb.

Auch das gehört dazu, wenn Simone Scharbert eintaucht in diese Zeit, in der die moderne Medizin noch in ihren Anfängen steckte und die Ärzte vielen Krankheiten noch rat- und hilflos gegenüber standen. Einige Berühmtheiten der Zeit tauchen auch in der Lebensgeschichte von Alice auf.

Tapfer unterwarf sie sich sogar den damals zuweilen abenteuerlichen Behandlungsmethoden – auch wenn das alles nichts half. Nicht gegen ihre Lähmungserscheinungen. Und schon gar nicht gegen den Krebs, der am Ende auch ihr Leben verkürzte.

Der Ruhm kam erst postum

Doch ihr Denken und Fühlen hat überdauert. Denn drei Jahre vor ihrem Tod begann sie ein Tagebuch zu schreiben. Und bestimmt hat Simone Scharbert recht, wenn sie hier ein „endlich“ anklingen lässt. Denn viel spricht dafür, dass sie durchaus schon früher als Autorin hätte Furore machen können. So wie ihr Bruder.

Sie hat zwar kein Gymnasium besucht – aber ihr Vater Henry James sen. besaß eine große Bibliothek, die Alice ganz bestimmt weidlich nutzte. Und im Haus der James in Boston verkehrten Autoren, die noch heute berühmt sind – wie Nathaniel Hawthorne, Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und William Makepeace Thackeray.

Es war ein geistig lebendiger Haushalt, in dem die neuen Ideen der Zeit allgegenwärtig waren, auch wenn die Frauen noch immer im Korsett steckten. Im Grunde ist „du, alice“ auch eine Geschichte darüber, wie lange es dauert, bis ganz normale Ansichten und Gedanken in einer Gesellschaft Fuß fassen und überlieferte Stereotype zu Fall bringen. In diesem Fall eine Gesellschaft, in der Männer durchaus schon große Freiheitsgedanken hegten – aber für Frauen in Öffentlichkeit und Gesellschaft scheinbar kein Platz war.

Das Tagebuch von Alice James bewahrte Katharina Loring auf, vervielfältigte es auch für die Brüder. Doch sowohl Henry als auch William lehnten eine Veröffentlichung ab. Sodass Katharina Loring die Tagebücher erst 1934 veröffentlichte – da war sie selbst schon im hohen Alter. Und mit der Veröffentlichung wurde Alice dann auf einmal zu einer Ikone der amerikanischen Frauenbewegung. Denn in ihren Tagebüchern reflektierte sie alle ihre Gedanken über Gleichberechtigung und Selbstständigkeit der Frauen.

„Henry“, so kann man in der englischsprachigen Wikipedia lesen, „las dieses Werk mit tiefer Beunruhigung (wegen seiner offenen Indiskretionen gegenüber Familie und Freunden), aber auch mit enormer Bewunderung.“

In einem Brief an William schrieb er, „dass er nun verstehe, was die Schwäche ihrer Schwester verursacht habe.“ Ihr katastrophaler, tragischer Gesundheitszustand sei für sie gewissermaßen die einzige Lösung für die praktischen Probleme des Lebens gewesen. Eine Flucht in die Krankheit quasi, weil ein selbstständiges Leben in Gleichheit und Gleichwertigkeit für Alice nicht möglich war.

Im Schatten der Brüder

Anders als für Henry, dem es als Mann kein Problem war, sich mit seinen Büchern Anerkennung zu schaffen. Aber es waren eben nicht die eigensinnigen Gedanken von Alice, die ihn beunruhigten, sondern die Details über die James-Familie. Was dann eben dazu führte, dass Alice – obwohl ihre beiden Brüder berühmt waren – selbst zeitlebens im Schatten blieb und erst durch die Tagebuch-Veröffentlichung ihren Platz neben den begabten Brüdern einnehmen konnte.

Natürlich ein zutiefst tragisches Schicksal, ob die Vermutung von Henry nun stimmt oder nicht. In Scharberts Erzählung werden Krinoline und Korsett regelrecht zu Bildern eines eingesperrten Lebens, eines Lebens, in dem die Konventionen die Rolle der Frau resolut auf Heim und Herd, Heirat und Kinderkriegen beschränkte. Eine Rolle, die auch dafür sorgte, dass die vielen klugen und lebenslustigen Freundinnen, die Alice hatte, nach und nach aus ihrem Leben verschwanden, weil sie heirateten und damit in den Haushalten ihrer Männer unsichtbar wurden.

Wahrscheinlich braucht es den intensiven Blick einer Frau, um diese ganz elementaren Folgen dieses alten Denkens über Frauen und Ehe spürbar zu machen. Da will man von den Folgen heutiger Konventionen noch gar nicht reden. Denn von vollendeter Gleichberechtigung kann noch lange keine Rede sein. Im Gegenteil – die geistigen Tiefflieger, die all die Errungenschaften der Emanzipation zurückdrehen wollen, trumpfen ja überall wieder auf.

Und scheinbar reicht es nicht, ihr unsinniges und geistloses Wüten zu sehen, um sie davon abzuhalten, wieder an die Macht zu kommen. Und sie daran zu hindern, Frauen wieder zu entrechten, unmündig und machtlos zu machen. Und damit die Welt wieder in ein starres Korsett zu sperren.

Die „Freiheit“ der Männer

Eine Welt, die Alice ganz offensichtlich gequält und bedrückt hat. Ebenso wie ihren Bruder Henry, der ihre Nöte wahrscheinlich nur zu gut verstand. Indem Simone Scharbert sich in kleinen, sehr emotionalen Texten ihrer Heldin annähert, erschließt sie die bisher in deutschen Breiten fast unbekannte Schwester auch den hiesigen Leserinnen und Lesern.

Und das wird nicht nur Freunde der Henry-James-Romane freuen, die hier eben auch einige der Personen kennenlernen, die Henry James in seinen Büchern in verwandelter Form hat auftreten lassen.

Es ist auch ein Einfühlen in eine Zeit, in der „Freiheit“ nur für den männlichen Teil der bürgerlichen Gesellschaft galt, Frauenwahlrecht und Gleichberechtigung noch Utopien waren und talentierte Frauen wie Alice an den Unmöglichkeiten scheiterten, welche die Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft für sie bereithielten.

Eigentlich ist das Buch vor allem eine poetische Hommage an eine Frau, die nicht mehr miterleben konnte, wie viel Echo ihr so eindrucksvolles Tagebuch in der Welt ausgelöst hat.

Simone Scharbert „du, alice“ Edition Azur im Verlag Voland &; Quist, 22 Euro.

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