Es ist eine Zeitreise in ein fremdes Land, was dieser Fotoband zu bieten hat. Ein Land, das 1990, als Cordia Schlegelmilch 1990 auf der Suche nach einem Ort für ihre Forschungen durch die noch existierende DDR fuhr, noch zu sehen war. Ein Land, das die Mehrheit seiner Bewohner so nicht mehr wollte. Ein farblos gewordenes Land, das die Sozialforscherin Cordia Schlegelmilch auf hunderten Filmen festhielt, als es noch sichtbar war.

Damals war sie auf der Suche nach einer Kleinstadt, in der sie die Veränderungen im deutschen Osten aus Sicht einer geradezu typischen kleinen Industriestadt verfolgen wollte. Ein echtes Forschungsprojekt, für das die Ostdeutschen damals weder Zeit noch Ruhe hatten, während ihr ganzes Leben sich binnen weniger Jahre komplett veränderte. Den Prozess der frühen Vereinigung verfolgte Schlegelmich dann aus dem kleinen Wurzen heraus.

In zwei Bänden im Sax-Verlag hat sie diese Erlebnisse aus ihrem Forschungsfeld Wurzen schon für ein breiteres Publikum aufbereitet – in „Eine Stadt erzählt die Wende“ und in „Wurzen. Ankunft in einer anderen Zeit“.

Ein Land auf Abruf

Dieser Band hier zeigt ihre fotografischen Erkundungen im Jahr 1990, dem Jahr, in dem sich alles änderte – und zwar schon lange vor der offiziellen Wiedervereinigung am 3. Oktober. Noch im Sommer wurde die D-Mark eingeführt – sehr zur Freude der DDR-Bürger, die jetzt endlich die lang ersehnte harte Währung in Händen hielten. Und sehr zu ihrem Erschrecken, denn die Einführung der D-Mark machte über Nacht einen Großteil der DDR-Wirtschaft nicht mehr wettbewerbsfähig.

Noch im Sommer begannen die großen Entlassungswellen, während viele kleine Hände flugs neue Geschäfte aufmachten oder ihr altes DDR-Sortiment gegen die bunten Warenangebote aus dem Westen austauschten.

Pornozeitschriften fluteten die Kioske, Spielsalons eröffneten, Fastfood-Ketten machten Straßenstände auf und die Bürger des Ländchens standen Schlange. Bunte Zigaretten-Werbung flutete die Straßen, Westautos, egal in welchem Zustand, wurden als Schnäppchen gekauft, und im Frühjahr erlebten die wohl verwalteten Bürger erstmals, wie schreiende Wahlkampfplakate zum Wählen einluden.

Noch ist das Alte zu sehen. Ein Land, in dem der Putz von den Wänden fiel und grau die vorherrschende Farbe war. Der Verfall griff auch in den kleinen Städtchen um sich, die Cordia Schlegelmich erkundete – Calbe, Köthen, Halberstadt (wo gerade der Abriss der noch erhaltenen Altstadt begonnen hatte), Oschersleben, Zerbst, Döbeln, Senftenberg. Überall Baulücken, aber auch geschlossene Kinos und Kulturhäuser. Und trotzdem zeigten diese scheinbar so tristen Städte etwas, was Schlegelmilch im Westen vermisste.

Denn weil im Osten immer das Geld fehlte, blieb auch vieles konserviert, was in Westdeutschland gleich nach dem Krieg flächenmäßig abgerissen wurde im Furor einer gedachten Moderne, die sich schon wenige Jahre später als altbacken, langweilig und gesichtslos erwies. Während selbst die kleinen Städte in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg noch über Bauschätze aus vergangenen Jahrhunderten verfügten. Die zwar schäbig aussahen, eigentlich so, wie Häuser kurz vor dem Abriss.

Ein geflicktes Provisorium

Aber die Menschen lebten trotzdem drin. Man hatte sich dran gewöhnt, dass alles im Land irgendwie nur noch Provisorium war. Leidlich geflickt, notdürftig ausgebessert. Und dass die Parolen auf den Wänden mit der erlebten Wirklichkeit nichts zu tun hatten. Das prägt natürlich. Bis heute.

Denn während die Straßen und Plätze, die Schlegelmilch mit ihrer Kamera eingefangen hat, so heute nicht mehr zu sehen sind, weil sie allesamt mit großem Aufwand saniert, umgebaut und aufgehübscht wurden, wird man bei den Menschen im Bild das Gefühl nicht los, dass sie auch heute noch genauso unterwegs sind.

Die einen flott und sogar festlich gekleidet, die anderen nachlässig, als wäre schlechter Kleidungsstil auch eine Haltungsfrage. Es ist nicht nur das Vorübergehende, das Schlegelmilch hier abgelichtet hat. Sondern auch das Bleibende. Denn meist werden nur die radikalen Veränderungen betont, die mit der deutschen Einheit einhergingen.

Aber was ist geblieben? Warum wirken diese Menschen so vertraut, als könnte man sie heute noch genauso in nun sanierten Kulissen antreffen? Kann es sein, dass ein ganzes Land verschwinden kann? Aber nicht die Mentalität seiner Bewohner?

Menschen, die sich mit Feuereifer in eine Vereinigung stürzen, ohne daran zu denken, was das ökonomisch bedeutet und welche Ochsentour da auf ihre Stadt zukommen würde. Denn die Politiker warben ja mit blühenden Landschaften, obwohl sie genauso ahnungslos waren, wie man ein jahrzehntelang so vernachlässigtes Land wieder zu einem selbstverständlichen Teil Deutschlands machen kann.

Noch ist ja auf Schlegelmilchs Fotos das ganze, geradezu in Zeitlupe versetzte Leben in der schwindenden DDR zu sehen – die Tankstellen, an denen die Mittagspause genauso rigide eingehalten wurde wie in den heruntergewirtschafteten Fabriken. Man sieht die rostigen Haltestellenüberdachungen, die alten, im Grunde leeren Schaufenster der Geschäfte, die tristen HO-Gaststätten und verblassenden Losungen.

Geradezu wuchtig die Bahnhofsgestaltung in Dessau, in der scheinbar der Sozialismus triumphiert, während sich die paar Reisenden darunter regelrecht verlieren.

Der Blick von außen

Auch Leipzig hat mit einigen Fotos ins Buch gefunden, denn natürlich erstreckten sich Schlegelmilchs Erkundungen auch bis hier hin. Auch hier waren noch lange nach 1990 die Reste sozialistischer Tristesse zu sehen. Auch das Flair des Leipziger Hauptbahnhofs von 1990 hat Schlegelmilch eingefangen. Man spürt ihre Faszination von diesem scheinbar völlig fremdem Land, das in Teilen irgendwann im Jahr 1939 stecken geblieben zu sein schien – wie eine Zeitkapsel, die eine Schicht der deutschen Geschichte bewahrt hatte, die anderswo nicht mehr zu sehen war.

Und die Jahre seither haben ja gezeigt, dass das Meiste davon tatsächlich wieder mit viel Sorgfalt hergerichtet werden konnte. Man kann die sanierten Altstädte des Ostens heute allesamt besuchen und staunen über das teils barocke, teils mittelalterliche Flair. Aber es riecht nicht mehr nach Kohleheizungen. Die Straßen sind schon lange nicht mehr so leer wie auf diesen Fotos.

Der Autobesitz nach 1990 ist ja geradezu explodiert. Der Osten ist farbenreicher geworden. Die Fassaden sind verputzt und man sieht auch nicht mehr die Konturen der abgerissenen Häuser, die 1990 noch wie ein mahnender Schatten auf den Brandmauern der Nachbarhäuser zu sehen waren.

Cordia Schlegelmilch hat vieles fotografiert, was für die Bewohner der kleinen Städte trister Alltag war, nichts Besonderes. Dazu braucht man den unabhängigen Blick, den Blick derjenigen, die das Unerwartete und Besondere sieht, wo die Menschen, die drin wohnen, eigentlich nur noch das Immergleiche gesehen haben.

Der Osten hat viele Gesichter

Natürlich zwingt so ein Bildband zum Vergleich. Und der Vergleich lohnt sich, weil er auch deutlich macht, aus welcher Lethargie dieses Stück Land 1990 aufwachen durfte – und wie viel sich – zumindest baulich – seitdem verändert hat. Man vergisst viel zu schnell, was man alles geschafft hat. Man gewöhnt sich an das neue Bild, das alte Bild verblasst. Und gleichzeitig steigen die Wünsche und Erwartungen, was da noch kommt.

Manchmal braucht es diese Rückbesinnung, um die ausufernden Erwartungen wieder einzufangen. Und auch wahrzunehmen, dass auch das Bewahren ein Schatz ist. Und der eigene Ort ganz und gar kein gesichtsloser.

„Jede Stadt hatte damals ihr ganz eigenes Gesicht“, schreibt Schlegelmilch. „Für viele sind es vielleicht Belanglosigkeiten, auf die sich mein Augenmerk besonders richtete: die kleinen Dinge im Stadtraum, die Gestaltung von Kiosken, Bushaltestellen, Imbissbuden oder sozialistische Kunst im öffentlichen Raum.“

Details, die aber gerade deshalb von der besonderen Zeitschicht erzählen, in der Schlegelmilch auf Erkundungstour war. Und die auch viel markanter wirkten, weil die Straßenräume prinzipiell leerer und farbloser waren.

Wie lange würde sich das DDR-Typische wohl noch halten, fragte sich die Fotografin. Und die Antwort dürfte heute durchaus keine eindeutige sein. Denn Stadträume verändern sich viel schneller als Menschen und ihre Mentalität. Von der „Ostalgie“ ganz zu schweigen, die gerade in dem Moment aufwallte, als das äußerliche und graue Antlitz des Sozialismus nach und nach verschwand.

Und die Erinnerungen an ein Leben in durchaus begrenzten Bedingungen zunehmend verblassten. Menschen vergessen so leicht. Da helfen dann Fotos, da und dort doch daran zu erinnern, dass sich die Welt dennoch verändert hat.

Cordia Schlegelmilch „Endlich seid ihr da!“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 28 Euro.

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