Wie wählt man die Straßen für so ein Buch aus? Die Idee ist ja witzig. Wenn man Städte besucht, läuft man durch Straßen und über Plätze. Und einige davon haben einen Ruf weit über die besuchte Stadt hinaus. Da muss man unbedingt gewesen sein. Auf dem Trafalgar Square in London zum Beispiel oder dem Wenzelplatz in Prag. Und in Leipzig? Gibt es hier solche Orte? Wohin schickt man neugierige Touristen, wenn die was Besonderes erleben wollen?
Einige dieser Straßen hat Petra Mewes mit aufgenommen in dieses Buch. Ein paar von den Leipziger Musst-du-gesehen-haben. Die Karl-Liebknecht-Straße zum Beispiel, wenn auch mit eigenwilligem Blickwinkel. Was aber normal ist. Jeder sieht seine Stadt mit anderen Augen und hält anderes für bemerkenswert.
Petra Mewes findet die naTo, die Feinkost und die Peterskirche wichtig. Lässt aber die KarLi an der falschen Straße beginnen – der Schletterstraße.
Das passiert auch Eingeborenen. Man achtet nicht mehr darauf. Und verpasst dann den eigentlichen Anfang an der Emilienstraße. Man lebt ja so in seinen Laufwegen und Erinnerungen. Und schickt auch Stadtfremde schon mal völlig in die falsche Richtung, weil man es irgendwie so abgespeichert hat.
Nichts bleibt, wie es war
Wozu auch kommt: Die Stadt verändert sich. Manchmal so, dass man nur ein paar Tage mal verreist sein muss, und schon ist irgendwas nicht mehr aufzufinden – außer die Baustellen. Die entwickeln sich in Leipzig mittlerweile zu musealen Denkmalen im Straßenraum. Da kann man schon mal stutzen, wenn da ein neues Denkmal an der Moritzbastei steht – ein Typ namens Thaer, dem Petra Mewes auch ein ganzes Kapitel widmet, auch wenn sie Thaers Denkmal noch immer am Friedenspark verortet.
Nix bleibt, wie es war, könnte man sagen. Nicht mal das Poniatowski-Denkmal bleibt, wo es war. Derzeit ist es zwar eingepackt und eingelagert, weil am Poniatowskiplan der Elstermühlgraben geöffnet wird. Aber es stand nie an der Funkenburgbrücke. Da steht das Denkmal für die Sprengung der Elsterbrücke, dessen Vorgeschichte Petra Mewes erzählt.
Immerhin war das eines der dramatischen Kapitel der Völkerschlacht. Die Geschichte erzählt sie zur Aachener Straße, mit der sie einsteigt in ihre Spaziergänge. Weil alphabetisch eigentlich nichts darüber geht, über dieses doppelte A. Da fragt man sich – wenn man das Deutsche Kleingärtnermuseum besucht, eher kaum mal, warum ausgerechnet hier eine Aachener Straße ist. Aber das Fragen lohnt sich.
Straßen und Straßenbenennungen haben ihre Geschichte. Die manchmal sogar „historisch“ ist, um eine Lieblingsvokabel von besoffenen Journalisten zu benutzen, die mit solchen Worten noch das kleinste Ereignis versuchen zur Weltgeschichte aufzublasen.
Aber auf dem Augustusplatz – Nummer 2 im Buch – ist nun einmal wirklich Weltgeschichte passiert. In der Elsterstraße gab’s dafür eine große Überschwemmung und der mehrmalige Versuch, Erich Zeigner seine Allee wegzunehmen, ist auch jedes Mal gescheitert. Womit diese Allee bis heute Leipzigs Nachkriegs-OBM würdigt.
Während die Friedrich-Ebert-Straße zwar irgendwie Friedrich Ebert ehrt – aber der spielt dann beim Besuch der Autorin keine Rolle. Da geht es eher um Sport.
Immer fehlt was
Womit eigentlich auch deutlich wird, dass man die Friedrich-Ebert-Straße nicht wegen des Gefühls aufsucht, da müsste man unbedingt mal gewesen sein. Und auch die Georg-Schumann-Straße kämpft noch lange um diesen Ruf. Sie ist nicht mehr das Aschenputtel im Norden – aber straßenbaulich ist sie in weiten Strecken immer noch eine Katastrophe.
Und wer hofft, hier den Historischen Straßenbahnhof noch zu finden, dürfte enttäuscht vor verschlossenen Toren stehen. Der ist längst nach Eutritzsch umgezogen.
Wobei die „Schumi“ eben auch dafür steht, dass sich Straßen immerfort ändern. Nichts bleibt, wie es ist. Nicht in der Goethestraße und nicht in der Grassistraße. Und in der Grimmaischen sowieso nicht, wo aufmerksame Flaneure über einige Skulpturen stolpern, die zum Stolpern und Nachdenken anregen. Davon dürfte es in Leipzig ruhig mehr geben.
Auch Gebäude wie das Capa-Haus, das eigentlich Palmengarten-Palais heißt und die kleine, eindrucksvolle Ausstellung „War is over“ zeigt. Womit zumindest ein Ort genannt ist, den es zu besuchen lohnt in der Jahnallee. Sonst ist das wohl eher eine Straße zum Durchfahren.
Anders als die Karl-Heine-Straße, die wirklich zum Ausflug einlädt, genauso wie die Könneritzstraße, an deren schwungvollem Ende man genüsslich über die Könneritzbrücke schlendern kann. Die aber nicht über den Karl-Heine-Kanal führt, wie es im Text heißt. Unterm Bild steht’s richtig: Das Bächlein unter der Brücke ist die Weiße Elster.
Aber so geht es einem ja beim Spazieren: Man steht verträumt auf der Könneritzbrücke, möchte aber eigentlich auch den Karl-Heine-Kanal noch irgendwie unterbringen. Denn da ist es ja wirklich schön. Es fällt einem schon was ein, wenn man in Leipzig mal Trübsal bläst und sich einen Ort wünscht, an dem man einfach mal die Füße vertreten, den Kopf frei pusten und die Seele baumeln lassen kann.
Negativbeispiele gefällig?
Die Kurt-Schumacher-Straße ist eindeutig kein solcher Ort. Vielleicht hat Petra Mewes sie als Negativbeispiel ausgewählt, um zu zeigen, wie man eine Straße auch völlig planerisch vergeigen kann.
Die Leipziger Notenspur ist auch keine Straße, aber man trifft sie überall an rund um die City. Und die Lene-Voigt-Straße ist eigentlich auch nur im Buch, weil mit der Umbenennung der Straße der 300 Meter lange Wohnblock dort den Spitznamen „Lange Lene“ bekommen konnte. Was aber mit Lene Voigt so gar nichts zu tun hat.
Dass es sich lohnt, zum Lindenauer Markt zu fahren oder in die Lützner Straße, weiß man nach dem Lesen. Dass aber die Benennung der Louise-Otto-Peters-Allee aus dieser viel befahrenen Schnellstraße keinen attraktiven Ort gemacht hat, weiß jeder, der sich da mal dorthin verirrt hat. Das hat Louise Otto-Peters eigentlich nicht verdient.
Es ist also nicht unbedingt nur ein Buch, das zum Straßenbesuch einlädt: Einige Straßen sollte man wirklich meiden. Andere lassen hingegen die Herzen höher schlagen – so wie die Mädler-Passage (die auch keine Straße ist) die Herzen der Goethe-Verehrer und die Menckestraße die der Schiller-Verehrerinnen.
Am Naschmarkt geht’s noch einmal um Goethe, am Nikischplatz um das verschwundene Künstlerhaus, am Nikolaikirchhof um den Stadtwinzer und in der Nikolaistraße um eine ziemlich versteckte Bodenuhr.
In Ecken und Winkeln
Womit eigentlich benannt ist, was Leipzigs Innenstadt tatsächlich für immer mehr Besucher so spannend macht: Hier darf und sollte man die großen Boulevards unbedingt verlassen, wenn man auch das Versteckte und Überraschende entdecken will. Was einen schon ein paar Tage beschäftigen kann, auch wenn Petra Mewes auch noch zu Ausflügen ins Rosental, in die Robert-Blum-Straße in Schönefeld, in die Semmelweisstraße (und zur Deutschen Nationalbibliothek), den Wiesenblumenweg in Holzhausen und die Wolfgang-Heinze-Straße in Connewitz einlädt.
Natürlich ist es eine eigenwillige Auswahl. Manchem Leser werden noch ganz andere Straßen einfallen, in denen man unbedingt einmal gewesen sein und einen Kaffee getrunken haben muss. Manche Ortsteile kämpfen ja mit viel Fantasie darum, dass ihre Straßen und Plätze wieder Aufenthaltsqualität und Flair bekommen. Eigentlich erst einmal nur für die Leute, die da wohnen.
Aber wenn die anderen dann auch kommen und es herzallerliebst finden, ist das auch nicht so schlimm. Denn am Ende sind es die gastfreundlichen Orte einer Stadt, die den Menschen in Erinnerung bleiben. Und dann kommen sie bestimmt auch wieder. In der Hoffnung, alles ist noch da und die Gentrifizierung hat nicht auch diesen Ort wieder in ein gesichtsloses Nirwana verwandelt.
Petra Mewes „Leipziger Straßengeschichten“, Gudensberg-Gleichen 2023, 15,90 Euro.
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