Es ist schon ein seltsames Buch. Obwohl aus dem Leben des Dante Alighieri wenig sicherer belegt ist als sein Todesjahr 1321, steht zwei Mal in diesem Buch das Jahr 1314. Was noch viel mehr verblüfft, weil die Beiträge in diesem Buch alle 2021 für genau dieses 700-jährige Jubiläum von Dantes Tod in Ravenna geschrieben wurden. Denn dieses Jubiläum nahm der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie zum Anlass, sich einmal ausgiebig mit Dantes berühmtestem Werk zu beschäftigen.

Es ist die „Commedia“, die Dante noch so benannte, weil die von ihm verwendete Volkssprache damals die Sprache der Komödie war, also der Volksschauspiele. Womit Dante im Grunde der Begründer des Italienischen als Standardsprache wurde, so, wie es später Luther für das (Hoch-)Deutsche wurde. Dass aus der „Commedia“ die „Göttliche Komödie“ wurde, daran ist Giovanni Boccaccio schuld, der den Titel zu „La divina commedia“ erweiterte und auch einer der wichtigsten Überlieferer zu Dantes Lebensgeschichte ist. Zumindest kannte er noch Zeitzeugen, die Dante gekannt hatten.

Was trotzdem die vielen Lücken nicht füllt, die heutige Leser und Forscher in der Biografie des wahrscheinlich 1265 in Florenz geborenen Mannes vorfinden, der seine „Commedia“ vielleicht nie geschrieben hätte, wäre er nicht in die Florentiner Politik gegangen und hätte 1302 ins Exil gehen müssen, aus dem er nie wieder nach Florenz zurückkehrte. Es gibt zwar die viel besuchte Casa di Dante in Florenz. Aber das Haus steht nur an der Stelle, an der einst das Haus Dantes stand. Man kann seinen Geist hier nicht atmen.

Unsere Vorstellungen von Himmel und Hölle

Der steckt tatsächlich eher in seinen Gedichten, mit denen er sich schon vor seinem Exil einen Ruf erwarb, aber erst recht in dem Buch, das Forscher, Übersetzer, Schriftsteller und Leser bis heute beschäftigt, weil es viel mehr ist als eine dichterische Reise in die Hölle, ins Purgatorium und ins Paradies. Wenn Christen in den 700 Jahren seitdem Vorstellungen von Himmel und Hölle hatten, dann stammten sie in großen Teilen direkt aus Dantes gewaltigem Werk, das er zwischen 1307 und 1320 im Exil verfasste.

Aber was hat er da eigentlich geschrieben? Warum beschäftigt es die Leser bis heute, auch wenn die meisten über das „Inferno” nicht hinauskommen? Das ungefähr waren die Fragen, die sich die im Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie Versammelten stellten. Und sie fanden eine Menge Antworten und Sichtweisen. Was auch deshalb möglich ist, weil Dante mit der „Commedia“ eben auch eine Lebensgeschichte schrieb.

Was zum Beispiel Sebastian Helm in seinem Beitrag „Dante, der Seelendoktor“ deutlich macht. Denn Dantes Wanderung in die Hölle und sein Aufstieg über den Läuterungsberg zum Paradies lässt sich natürlich auch psychologisch interpretieren. Und das ist so abwegig nicht. Denn die richtig großen Werke der Literatur entstehen alle aus tiefer menschlicher Betroffenheit. Das Leben der Autoren steckt darin. Und das spüren auch die Leserinnen und Leser.

Die geheimnisvolle Beatrice

Selbst dann, wenn auch einige Autoren dieses Bandes daran zweifeln, ob es die von Dante so gepriesene Beatrice tatsächlich gab oder sich der Dichter dieses Idealbild der unnahbaren Geliebten nur ausgedacht hat. Wobei die meisten eben doch zu dem Urteil kommen, dass man sich so etwas mit so konkreten Lebensdetails nicht einfach ausdenkt, auch wenn man die so jung Verstorbene später geradezu idealisiert. So sehr, dass Beatrice bis heute eine der am meisten gewürdigten Frauen der Literaturgeschichte ist.

Aber auch nach dem Führer durch Hölle und Fegefeuer Vergil fragen die Autoren, der ja immerhin – aus Dantes Zeit betrachtet – ein heidnischer Dichter war, der trotzdem den verirrten Wanderer durch Hölle und Fegefeuer begleiten durfte. Nur ins Paradies durfte er nicht. Dort übergab er den Wanderer an Dantes heißgeliebte – aber auch sehr bevormundende – Beatrice.

Wobei in der Figur des Vergil auch die Frage auftaucht, ob Dante in ihm nicht die zeitlebens fehlende Vaterfigur gezeichnet hat, die er sich wünschte. Was nicht nur mit dem frühen Verlust des Vaters (und dem noch viel früheren der Mutter) zu tun haben könnte, sondern auch mit der Frage, welche Rolle Väter tatsächlich spielen in der Persönlichkeitsentwicklung eines Heranwachsenden. Und eben oft nicht spielen.

Auch das ein mögliches Motiv für den ins Exil Verschlagenen, sich selbst zu befragen, warum es so weit gekommen ist, ob er nicht selbst den falschen Weg eingeschlagen hat, weil ihm die richtige Führung fehlte. In dieser Beziehung stellte sich dieser Dante so persönliche Fragen, wie es in der Dichtung seiner Zeit sonst keiner tat. Und es waren gefährliche Zeiten.

Krisenzeiten in Italien

Italien war regelrecht zerrissen zwischen Papst, schwachem (deutschen) Kaiser und französischem König, die gerade in Norditalien ihre Machtkämpfe austrugen. Und die dabei auf die heimischen Parteigänger setzten, die sich als Guelfen und Ghibellinen tummelten und damit die aufflammenden Kämpfe zwischen den norditalienischen Stadtstaaten befeuerten. Es war Dantes Zeit, in der das Zeitalter der Condottieri begann, der Söldnerführer, die ihre Schlägertrupps an diejenigen verkauften, die ihnen die besten Konditionen boten.

Auf einmal fühlt man sich an eine ebenso brennende Gegenwart erinnert, in der Söldner auf eigene Rechnung Kriege führen. Da muss man nicht wirklich fragen, ob man Dantes „Commedia“ noch lesen sollte oder nicht. Sie ist so gegenwärtig wie vor 700 Jahren. Denn die Typen, die er in die Kreise der Hölle verbannt hat, sind eben auch Typen, die immer wieder auftauchen, wenn es um Macht und Rache, Gier und Eitelkeit geht.

So fern sind uns die Menschen im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert nicht. Und wie man die Zerstörer des friedlichen Zusammenlebens daran hindern könnte, an die Hebel der Macht zu kommen, haben wir augenscheinlich auch nach 700 Jahren nicht gelernt.

Dafür haben nicht nur Autoren wie Sibylle Lewitscharoff und Clemens Meyer, die ihre Essays zu diesem Band beisteuerten, diese Aktualität für sich erkannt, wohl wissend darum, wie die Hölle auch heute noch – oder wieder – aufflammt, wenn Menschen ihre schlimmsten Eigenschaften ausleben. Und – frei nach Meyer – einen Zustand des „Dazwischen“ schaffen, den die Betroffenen durchaus schon als Hölle auf Erden empfinden können.

Die menschliche Lust am Zerstören

Aber selbst Archäologinnen und Astronomen haben ihre Freude an der Entschlüsselung von Dantes Meisterwerk. Philologen, die sich über die riesige Zahl von Übersetzungen freuen, sowieso. Womit natürlich auch jener sächsische König gewürdigt wird, der Dantes „Commedia“ praktisch zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, der in der sächsischen Mythenbildung aber praktisch keine Rolle spielt, weil selbst Historiker kaum einen Sinn für kluge und zurückhaltende Regierende haben.

Selbst das ist sehr heutig, man muss nur das Gezeter deutscher Zeitungen und Magazine betrachten, mit der die Mühsal des politischen Alltagsgeschäfts jeden Tag verdammt und belästert wird.

Es sitzt so tief. Und man kann sicher sein: Dante fände heute genauso den Stoff für eine neue Höllenwanderung wie zu seiner Zeit. Und er könnte alle Höllenkreise genauso namhaft bestücken. Die Sucht der Leute nach „großen Männern“ und „kühnen Taten“, die in der Regel Zerstörung und Elend nach sich ziehen, ist ungebrochen. Womit Hartmut Rosa vielleicht sogar recht hat, wenn er sagt: „Lass’ es uns einfach einsehen. Die Menschen sind einfach zu blöd. Vielleicht sollten wir den Menschen abschaffen.“

Was den Blick auf den ausführlichsten Beitrag in dieser Sammlung lenkt: Volker Ebersbachs Essay „Beatrice oder Die verklärte Herrin“, in dem er in vielen Facetten darlegt, dass es in der „Commedia“ eigentlich um die Liebe geht – und ihre vielen Spielarten, die einen Mann schon mal gewaltig in Bedrängnis bringen können.

Oder trösten. Und dafür steht diese Beatrice als Kunstfigur in vielfacher Hinsicht. Im Guten wie im Schrecklichen, um hier nur einen Satz herauszugreifen: „Es ist die Hölle des Liebenden, der erst die Achtung der Geliebten verloren hat und dann ihren irdischen Anblick.“

Was natürlich eine reale Grundlage im Verständnis von Status, Ehe und Liebe im 13. Jahrhundert hat. Was aber die – eigentlich philosophische – Grundfrage in Dantes Werk berührt: Wann lebt man eigentlich ein Leben im Einklang mit sich selbst und seine Gaben?

Oder lässt man sich – durch Politik, Geld oder andere Narreteien – vom richtigen Wege abbringen, um dann eines Tages mitten auf einem Pfad in der Wildnis zu stehen, auf dem einen wilde Tiere das Weitergehen versagen?

Ein Aspekt, den mehrere Autorinnen und Autoren aufgreifen, auch weil es in Dantes Welt genug konkrete Orte gab, die als Zugang zur Unterwelt seit antiken Zeiten bekannt waren. Orte, die man auch heute besuchen kann, auch wenn unsereins heute vielleicht der Respekt und das Staunen fehlen und meist auch die Phantasie, reale Orte auf Erden auch als Orte des Zugangs zum eigenen Unterbewusstsein zu verstehen.

Ein Dichter in der Krise

Das scheinen zwar viele völlig verschiedene Zugänge zu Dantes opus magnum zu sein. Aber gerade die filigrane Arbeit vieler Übersetzer hat eben auch gezeigt, dass diese Vielschichtigkeit in der „Göttlichen Komödie“ tatsächlich steckt, dass dieser Dante hier ein literarisches Werk geschaffen hat, das durch seine Dichte und Tiefe geradezu dazu anregt, es immer wieder – auch mit dem Blick des Heutigen – zu lesen.

Sich darauf einzulassen und einen Dichter zu entdecken, der ganze Generationen nach ihm geprägt und beeinflusst hat. Und der – weil er eigentlich von seiner eigenen Lebenskrise erzählt (und wie er aus den Tiefen seiner Verzweiflung herausgefunden hat) – auch über unsere heutigen Lebens- und Gesellschaftskrisen erzählt.

Das war den Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge zu diesem ganz besonderen Jubiläum geschrieben haben, auch sehr bewusst. Und so ist ihr Buch tatsächlich eine reiche und vielseitige Einladung an alle Lesekundigen, ihren Weg zur „Göttlichen Komödie“ zu finden.

Es gibt verschiedene beeindruckende Übersetzungen auf dem Markt – einige werden auch direkt empfohlen. Und es ist tatsächlich nicht schlimm, wenn man im „Inferno“ steckenbleibt und das „Paradies“ am Ende nicht so aufregend findet (obwohl es das auf völlig andere Art trotzdem ist).

Das Wichtigste ist die Begegnung mit einem der faszinierendsten Dichter Europas, der gerade deshalb nicht veraltet ist, weil er tatsächlich über seinen eigenen Weg durch Hölle und Fegefeuer geschrieben hat – dichterisch verfremdet und in eine Erzählung gebannt, mit der er ein bewährtes Spannungsmuster der Antike (Homer und Vergil werden genannt) für sich selbst (und die christlichen Weltvorstellungen seiner Zeit) neu definierte.

Und der damit eine Landschaft schuf, die bis in die Gegenwart Autorinnen und Autoren immer wieder reizt, auf ihre eigene Reise ins „Waste Land“ zu gehen – um hier nur das Werk von T.S. Eliot zu benennen, das ohne Dantes Vor-Arbeit nicht denkbar gewesen wäre.

Elmar Schenkel, Constanze Timm (Hrsg.) „In Dantes Kreis“, Edition Isele, Eggingen 2023, 17,80 Euro.

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