„Umstritten“ – das Wort wird als Zuschreibung gerne verwendet, wenn Positionen, Haltungen und Standpunkte scheinbar fragwürdig und kaum teilbar erscheinen. So weit, so gut. „Umstritten“ ist dann oft auch das Vorspiel zur folgenden Kontroverse, die heutzutage in medialen und alltagskommunikativen Formaten schnell zur hitzigen und verurteilenden Debatte wird. Dabei sind konstruktive politische Diskurse in unserem Land, bei „Ampelhalbzeit“, mehr als notwendig, um die Not der drohenden Spaltung der Gesellschaft (insofern nicht schon sichtbar vorhanden) abzuwenden und den Zerfall der bürgerlichen Demokratie zu verhindern.
„Umstritten“ sind hierbei und vor allem die erkennbaren Lösungsversuche in der regierenden Politik und die fehlenden Alternativen dazu. Was gebraucht wird – ich wiederhole mich schon zu Beginn – sind grundlegend andere Sichten auf das schwindende Vertrauensverhältnis zwischen „Überbau“ und „Basis“, zwischen Regierenden und Regierten. Als ein Gebot der Zeit. Sollten sie sein. „Wir sind das Volk!“, der friedlich artikulierte Slogan der politischen Wende 1989, war Ausdruck eines trotzig-entschlossenen Kurswechselforderung hin zu mehr Freiheit und Demokratie.
Das war alternativlos und aus der Retrospektive historische Gesetzmäßigkeit, entsprechend dem marxistischen Diktum einer Revolutionsdefinition „Die Herrschenden können nicht mehr so weiterregieren – die Beherrschten wollen nicht mehr so weiterleben“.
Paradox im beinahe im Realsozialismus. Eine überwältigende Mehrheit des Volkes erzwang die bürgerlichen Freiheitsrechte, die lange zuvor verengter Ideologie und falscher Bündnistreue zum Opfer gefallen waren. Die kollektive Selbstreflexion von der diffusen „Masse“ hin zum sich gemeinsam äußernden Volk 1989 bleibt daher das demokratisch-humanistische Ruhmesblättchen in der jüngeren Geschichte der Deutschen.
Aber das war gestern. Die Lage im Herbst des Jahres 34 nach der politischen Wende ist alles andere als hoffnungsvoll, wagt man den zukunftsperspektivischen Blick. Koalitionsgehampel in der Regierungsampel, Radikalisierung am nationalistisch-rechten Rand, näherrückende Kriege als Resultat sich weltweit verschärfender Ressourcen-Verteilungskämpfe. Man bekommt als „Normalbürger“ den Eindruck, als hieße es, Politik an höchster Stelle als dauerhaftes Krisenmanagement verstehen zu müssen.
Um mich anschließend zwischen zwei unbefriedigenden Lösungsvarianten zu entscheiden. Entweder folge ich den Anweisungen paternalistisch argumentierender Regierungsmuster („Es ist gut, ihr müsst nur daran glauben.“) oder ich glaube an eine Demagogie des nationalen Einbuddelns und Heraushalten aus internationalen Konflikten.
„Pushback“ ist dann das allheilende „Wick-Medi-Nait“ der nationalen „Rettung“. Nichts von alledem ist richtig. Weder ein regierendes „Weiter so!“ noch ein verlogenes „Alles muss anders werden!“ Fast könnte man als nachdenklicher Normalbürger an einer politischen „Heimatlosigkeit“ verzweifeln, als politischer Binnenflüchtling mit festem Wohnsitz (und natürlich deutschem Pass) gelten. Ich fürchte, da bin ich nicht der einzige, sondern schon Teil einer Bewegung der noch Unbewegten, die sich weder an abwiegelnder Beschönigung noch wüster Beschimpfung erfreuen können.
Mit dem sicherlich „umstrittenen“ Typus des Normalbürgers beginnt der im besten Sinne aufgeregte Soziologe und bekannte Publizist Harald Welzer (*1958) sein neuestes Werk „Zeiten Ende – Politik ohne Leitbild – Gesellschaft in Gefahr“. Druckfrisch erschienen wirkt es bereits nach dem Lesen der ersten Seiten bemerkenswert erhellend und erfrischend. Natürlich bewunderte auch ich den Rackerer und Kämpfer aus dem hohen Norden, den HSV-treuen Jungen.
Dem ich einen Teil meines Namens verdanke und der in seinem Nachnamen geradezu die Steigerungsform von Leidenschaft und bodenständiger Bescheidenheit verkörperte. Die Rede ist von Uwe Seeler, der sich letztes Jahr für immer von uns, von Fußball-Deutschland verabschiedete.
„Uns Uwe“ gab eben medial das Bild des beseelten, nüchternen und fast zurückhaltenden Menschen ab, dem gezieltes Imagemanagement und große Siegerposen fremd waren. Im Gegenteil. Ich habe bei Seeler das Bild vom 30. Juni 1966 im Kopf, als der Kapitän nach dem unglücklich verlorenen WM-Finale mit hängendem Kopf den Platz verließ. Knapp verloren, geschlagen vom Feld gehend, aber dadurch Sympathie gewinnend.
Eine Identifikationsfigur. So verstehe ich Welzers beispielhafte Voranstellung eines Spielführers, der nie Weltmeister wurde. „Uns Uwe“ galt natürlich nur für die westdeutsche Öffentlichkeit, passte aber in das Erfolgsmodell des „Wandels durch Annäherung“, einer Politik, die zu Seelers aktiver Laufbahn die Zeichen der Zeit verstanden hatte.
Die Demokratie bürgerlichen Etiketts und in westdeutscher Verpackung musste nach überwundener, grausamer Nazi-Diktatur und bei vorhandener staatssozialistischer Systemkonkurrenz attraktiv für Freund und Feind sein. Freiheit und wachsender Wohlstand waren bei aktiver Demokratieteilnahme nun nicht gleich die Vision einer konfliktfreien, friedlichen Welt oder später das „Ende der Geschichte“. Aber zumindest schien man bei Seelers Abschied aus der Nationalmannschaft 1971 an eine bessere Zukunft zu glauben, als gegenwärtig selbst für Optimisten kaum möglich ist.
Im selben Jahr wurde der damalige Bundeskanzler Willy Brandt mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. „Wandel durch Annäherung“ hatte in Europa die politischen Feinde zu Partnern im Verhindern von Nuklearkriegsrisiken gemacht. Kurzzeitig entstand sogar der Glaube an einen Rückbau der Atomwaffenarsenale. Eine wirkliche Zeitenwende schien möglich.
Nun titelt Welzer seinen politisch-sozialen Gesellschaftsbefund „Zeiten Ende“. Er bleibt dabei auf den über 300 Seiten klar und schonungslos in der Analyse und stellt fest: Wir befinden uns nicht in einer der immer wieder kommenden und vorübergehenden Erschütterungen der Demokratie, sondern vielmehr in deren vielleicht größten existenziellen Bedrohung.
Meine Jugendlichen, die ich zu unterrichten habe, alle im ersten Jahrzehnt des laufenden Jahrhunderts geboren, kennen gar nichts anderes als „Land und Politik im Krisenmodus“. Klima, Corona, Krieg – sind nur einige Schlüssel- und Reizwörter, die ihre politische Sozialisation in neoliberalen Zeiten prägten. Die Auswirkungen spüren sie tagtäglich, können sich ein Leben in einem gesamtgesellschaftlichen (Aufbruch-)Handeln jenseits von Überindividualisierung und beinahe krankhafter Übersteigerung von Selbstoptimierung gar nicht mehr vorstellen.
Der seit dem Ukraine-Krieg „umstrittene“ Welzer versucht neben der beschriebenen Gefährdung der demokratischen und sozial-humanistischen Grundlagen unserer Gesellschaft (harte Kritik von links wird selbst diese infrage stellen) auch Versuche zur Lösung der Systemkrise anbieten. Legt den Finger nicht nur in die Wunde des sichtbaren Vertrauensschwundes in Politik, er kritisiert auch die beinahe zwangsläufig eingetretenen Folgen zunehmender sozialer Aus- und Abgrenzung innerhalb unseres Landes.
Jeder und jedes ist sich in raueren Zeiten selbst am nächsten, dem Staat als Interessenvertreter (wen vertritt oder dient er nochmal laut Verfassung?) wird zunehmend mit Feindschaft und Misstrauen begegnet. Der scheint eben nur Zumutungen zu produzieren.
Lösungen an der Akzeptanz der „Normalbürger“ vorbei zu liefern und eines absolut vergessen zu haben. Politik ohne vorausschauende und tragfähige Zukunftskonzepte wird von der Mehrheit des Wahlvolks auch nicht mehr verstanden. Weil es an einer sozial verbindenden Vision fehlt. Welzer deutet Auswege an, aber lesen und verstehen müssen wir selbst. (Die kritische Betrachtung der Autorenvorschläge folgt in der nächsten Ausgabe.)
Harald Welzer, Zeiten Ende – Politik ohne Leitbild – Gesellschaft in Gefahr, Fischer-Verlag 2023, 304 S.
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