„Welche Taten werden Bilder?“ heißt eine der Ausstellungen, die im aktuellen Otto-Jubiläumsjahr in Sachsen-Anhalt gezeigt werden. In diesem Fall im Kulturhistorischen Museum Magdeburg bis zum 8. Oktober. Vor 1.050 Jahren starb Kaiser Otto I. in Memleben. Und die Historiker von heute stellen sich natürlich genau solche Fragen: Was wird tatsächlich zum Stoff der Geschichte? Und was wird vergessen?

In Memleben wird die Ausstellung „Des Kaisers Herz“ gezeigt, in Merseburg die Sonderausstellung „Otto der Große, der Heilige Laurentius und die Gründung des Bistums Merseburg – Spurensuche im Merseburger Kaiserdom“. Alles innerhalb des großen Themenjahres „Des Kaisers letzte Reise“. Eine Überschrift, die mehrdeutig ist und mehrdeutig sein soll. Denn im Spätsommer 972 kehrte Otto von seinem letzten Italienaufenthalt zurück in das Reich, das seine Bewohner damals durchaus noch als (ost-)fränkisches Reich (regnum francorum orientalium) verstanden. Bis sich tatsächlich eine Identität der Deutschen herausbilden sollte, würde es noch dauern.

Im Herbst 972 erreichte Otto mit seiner Entourage das Herzogtum Franken, im Februar 973 das Herzogtum Lothringen, bevor er im Frühjahr 973 dann jene Region erreichte, die er besonders prägte. Glück für Sachsen-Anhalt, dem verbissene Kommentatoren nach der Deutschen Wiedervereinigung geradezu jegliche Geschichte absprachen. Ein geschichtsloses Bindestrich-Bundesland. Eine Zuschreibung, die von vollkommener Ahnungslosigkeit zeugte. In ihrer eigenen Geschichte sind auch die deutschen Intellektuellen meist gnadenlos schlecht unterrichtet.

Bischofsstadt wird Kasernenstadt

Dabei konzentrieren sich in Sachsen-Anhalt die Orte, die zusammen die Keimzelle des deutschen Reiches waren – Quedlinburg, wo Heinrich I. seine Ruhestätte fand, Memleben, wo Heinrich und Otto starben, Merseburg als frühe Bischofsresidenz und natürlich Magdeburg, wo Otto nicht nur residierte, sondern auch das Erzbistum gründete, das die Geschichte der Stadt rund 700 Jahre lang prägte. Bis die Preußen kamen, in diesem Fall die Brandenburger, die sich aber auch schon vor der Gründung des Königreichs Preußen wie die Preußen benahmen. Und Magdeburg nicht nur einkassierten, sondern zur Kasernenstadt machten.

Das Buch, das hier pünktlich zum großen Jubiläumsjahr vorliegt, beruht auf den Vorträgen einer Tagung, die schon im Mai 2022 in Magdeburg stattfand. Darin ist auch die von Michael Belitz und Pierre Fütterer vorgelegte Rekonstruktion der Reise enthalten, die Otto über den Jahreswechsel 972/973 zurück in seine Stammlande brachte. Mit dem Höhepunkt, dem Osterfest in Quedlinburg, dem dann bald die schwere Erkrankung Ottos folgte und sein Tod im Kloster Memleben.

Bislang gab es in der Literatur einige Unstimmigkeiten bei der Erkundung von Ottos Route, die in gewisser Weise auch eine Reichsbeschau war, denn der Tross zog ziemlich langsam von einem Ort zum nächsten. Der Kaiser zeigte Präsenz.

Und auch seine allerletzte Reise, die seines Leichnams von Memleben nach Magdeburg, wird von Belitz und Fütterer untersucht und korrigiert. Für Historiker eigentlich eine spannende Aufgabe: die Mythen der Vorgänger aufzudröseln und anhand der meist schriftlichen Befunde den wirklichen Vorgängen ein wenig näherzukommen.

Mach dir (k)ein Bild

Ein Unterfangen, dem sich auch die anderen Autoren der Vorträge in diesem Buch gewidmet haben. Denn was in alten Geschichtsbüchern wie selbstverständlich steht, muss nicht stimmen, ist oft nur die Interpretation von Leuten, die sich ihr Mittelalter schöngeguckt haben. Das können nicht nur Autorinnen von historischen Romanen (von denen zwei in diesem Band eine besondere Würdigung erfahren), das können auch hochdekorierte Geschichtsprofessoren.

Eine Tatsache, die gerade in der Sektion III „Heroisierung, Instrumentalisiertung, Objektivierung“ besonders beleuchtet wird. Auch die Geschichtswissenschaft musste erst lernen, dass man Ereignisse aus der Vergangenheit nicht aus der Sicht der aktuellen Machtherrlichkeit interpretierten kann. Das führt immer zu falschen Schlüssen. Denn was historische Gestalten wie Otto I. taten, hatte ganz bestimmt kein Deutsches Kaiserreich nach preußischem Zuschnitt zum Ziel. Und erst recht kein NS-Reich.

Obwohl die sich herausbildende Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert natürlich die Instrumente entwickelte, der Vergangenheit mit möglichst objektiven Forschungen in überlieferten Dokumenten und archäologischen Grabungen zu Leibe zu rücken. Mit manchem auch verwirrenden Ergebnis, weil sich zum Beispiel viele mittelalterliche Urkunden, die man zuvor für bare Münze nahm, als spätere Fälschung erwiesen. Dass freilich auch Archäologen des 20. Jahrhunderts gern das fanden, was sie unbedingt finden wollten, auch davon ist die Rede, wenn es um die Kaiserpfalz in Magdeburg geht, die schon in der NS-Zeit auf der Wunschliste einiger Historiker stand. Gefunden wurde sie trotzdem nicht.

Und auch das ist nicht neu. Selbst das Wirken und Streben des weltberühmten Magdeburger Bürgermeisters Otto von Guericke erzählt davon, wie man sich aus durchaus nachvollziehbaren Gründen städtischer Selbstbestimmung eine Kaisergeschichte zurechtbasteln kann, die mit den tatsächlichen schriftlichen Befunden nicht wirklich übereinstimmt. Schade für Magdeburg, das damit zur preußischen Garnisonsstadt wurde.

Der Glanz des römischen Kaisertums

Aber deutlich wichtiger war für die versammelten Historikerinnen und Historiker natürlich die Frage, wie Ottos Handeln eigentlich in seiner Zeit tatsächlich zu verorten war. Immerhin beginnt hier ja die deutsche Kaisergeschichte, die Otto selbst nie als deutsche Geschichte betrachtet hätte. Denn für ihn war es ein Anknüpfen an die Politik Karls des Großen. Und eben an die Vision eines wieder mit Leben zu erfüllenden römischen Kaisertums. Auch das ja nur zu vertraut: Das Vorbild für das Neue liegt in der glorifizierten Vergangenheit. Und der direkte Bezug auf Rom zeigt eben auch, wie nachhaltig der Glanz des einstigen römischen Reiches selbst in diesem so gern als dunkel geschilderten Mittelalter war.

Menschen sind augenscheinlich immer wieder fasziniert von wirklich großen, vereinenden Ideen. Das römische Kaisertum gehört genauso dazu wie die Fixierung auf die einigende Rolle der römischen Kirche. Aber kritisch gehen mehrere Vortragende mit vielen Ideen der Neuzeit um, in diesem feudalen Denken ausgerechnet die heutige EU wieder entdecken zu wollen, auch wenn die Idee der Europäischen Union schon ein gewaltiger Fortschritt ist gegenüber dem seit dem 19. Jahrhundert gepflegten Ideal des sogenannten „christlichen Abendlandes“.

Das „Abendland“ trieb auch in nationalistischen und faschistischen Kreisen seine wilden Blüten. Und wenn Parteien diesen Begriff heute wieder als politisches Dogma ausgraben, spürt man regelrecht, dass sie gedanklich im Mittelalter steckengeblieben sind. Was nicht bedeutet, dass sie das Denken eines Kaisers Otto nachvollziehen können.

Das italienische Abenteuer

Und so wird in diesem Band eben auch Ottos Agieren in Italien sehr detailliert untersucht, rückt die einst blühende Stadt Ravenna in den Fokus, wo sich Otto am häufigsten aufhielt. Man lernt den italienischen König Berengar kennen, der mal Partner, mal Gegner Ottos war. Und man lernt die Zeit der Reliquien kennen, die damals Geschenk und Bestechungsgut waren, gerade weil die Etablierung von Kirchen, Klöstern und Bistümerm im Reich Ottos unglaubliche Mengen an Reliquien brauchte, bis hin zum (fast) vollständigen Leib von in Italien exhumierten Heiligen. Denn natürlich hatten die germanischen Herzogtümer – anders als Italien – keine christliche Vorgeschichte und auch keine Märtyrer, wie sie in Italien in großer Zahl zu finden waren. Man steht mit Otto also auch am Beginn des jahrhundertelangen Reliquienkults, der erst mit Luther sein Ende finden sollte.

Aber dass Menschen etwas zum Anhimmeln brauchen, das bewiesen dann erst recht das 19. und 20. Jahrhundert, als erst die historische Monumentalmalerei die deutsche Geschichte in Museen, Rathäusern und Schlössern inszenierte wie ein Theaterspektakel. Und dann sorgte der aufkommende Film dafür, dass dieselbe Art der Inszenierung nun auch noch auf der Leinwand stattfand. Bis in die Gegenwart hinein und in die Geschichtssendungen des deutschen Fernsehens. Obwohl es Otto – anders als andere deutsche Herrscher – bislang noch nicht zum Monumentalfilm gebracht hat.

Ottos Reise durch die Geschichte

Aber so rückt eben auch die lange Reise dieses Königs und Kaisers durch die späteren Zeitepochen ins Bild – seine Darstellung in mittelalterlichen Epen, Chroniken und Sagen und seine immer weitere Verwandlung in der Rezeption der Menschen, die ihre Vorstellungen zunehmend in Ottos Zeitalter hineinprojizierten. Vieles lässt sich zu Ottos Regierungszeit durchaus mit Dokumenten belegen, die seit dem 19. Jahrhundert auch akribisch publiziert wurden.

Nur Otto selbst bleibt ungreifbar, denn was es zu Schilderungen seiner Person gab – bei Widukind von Corvey zum Beispiel – ist eigentlich nur die floskelhafte Beschreibung eines Mannes, der auch die Ausstrahlung eines Herrschers haben sollte.

Wobei die Rückschau auf die zahlreichen Otto-Ausstellungen auch zeigt, dass dieser Mann und sein Wirken die Menschen auch heute noch fasziniert. In ihnen wird ja durch präsentable Ausstellungsstücke meist sehr umfassend erlebbar, welchen Glanz das 10. Jahrhundert ausstrahlte. Ein Glanz, der sich ja auch mit Gründungsmythen verquickt wie Ottos Kaiserkrönung 962 in Rom oder der Schlacht auf dem Lechfeld 955, mit der den andauernden Ungarneinfällen endlich ein Ende gesetzt wurde.

Und mit Thomas Wünsch rückt auch eine parallele Staatengründung ins Bild, die – so zumindest die Meinung einiger Historiker – ohne die deutsche Staatsgründung nicht denkbar war: die Gründung des christlichen Polen unter Herzog Mieszko I. um 960.

Die Blindheit nationaler Geschichtsschreibung und die Macht der Vorurteile

Womit dann eine besondere Blindstelle der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts angedeutet wird: die Fixierung auf die eigene Nation. Während die Wechselwirkungen mit den Nachbarländern meist ausgeblendet wird – als gäbe es sie gar nicht. Oder nur – wie bei den Ungarneinfällen – als ewige Störenfriede. Aber das ist das Denken des 19. Jahrhunderts, das heute freilich so verbissen fortlebt, als wäre Geschichte tatsächlich nur als enge und verengte Nationalgeschichte zu begreifen.

Und siehe da: Das Leben und Wirken Ottos zeigt, dass das für seine Zeit auch schon nicht galt.

So entstand ein Sammelband, der zwar keine komplette Lebendbeschreibung Ottos des Großen bringt, dafür dutzende Aspekte einer Forschung, die sich auf allen Seiten bemüht, die alten Korsette und Grenzen zu sprengen und den Blick zu weiten. Was natürlich auch wieder neuen Glanz auf die Ottonenstadt Magdeburg wirft, die so auch historisch betrachtet auf einmal im Mittelpunkt europäischer Geschichte steht. Auch gern abwechselnd mit Orten wie Quedlinburg oder Merseburg, wo Otto zu seinen Hoftagen auch Delegationen aus Ländern empfing, die er im Leben nicht bereisen konnte – aus Byzanz genauso wie aus Polen, Bulgarien, Ungarn, Dänemark, Benevent, und sogar Afrika wird erwähnt zum Hoftag 973 in Quedlinburg.

Und weil auch Historiker gute Bilder lieben, ist dieser Tagungsband gespickt mit Fotos, die das jeweils Erzählte auch anschaulich machen. Auch wenn selbst die frühesten mittelalterlichen Darstellungen lauter verschiedene Ottos zeigen, so, wie sich die jeweiligen Zeichner und Bildhauer den Kaiser eben vorstellten, den sie selbst nie zu Gesicht bekommen haben. Und das Schöne und Frappierende ist: Selbst die heutigen Fernseh-Dokus sind nicht besser dran und stilisieren diesen berühmten Kaiser eben so, wie es sich Requisiteure und Maskenbilder so vorstellen.

Möglicherweise wieder von Vorurteilen geleitet, derer sie sich beim Ausstaffieren nicht einmal bewusst sind.

Stephan Freund, Gabriele Köster, Matthias Puhle (Hrsg.) „Des Kaisers letzte Reise“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 50 Euro.

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