Was bleibt von so einem Leben? Im April jährte sich der Todestag von Dorothee Sölle zum 20. Mal. Das nahm der Theologe und Journalist Konstantin Sacher zum Anlass, sich auf Spurensuche zu begeben im Leben und Werk einer „Ikone des Protestantismus“. Das Werk der streitbaren Theologin hatte ihn schon zuvor beschäftigt. Doch am Ende der Reise merkt man, dass ihn die Radikalität der geschätzten Autorin doch gewaltig befremdet.

Das verblüfft. Denn eigentlich nähert er sich Sölle fast ehrfürchtig, jedenfalls aufgeschlossen und erwartungsvoll, besucht ihr Grab in Hamburg, wo ihm erstmals auffällt, dass Sölles Werk eigentlich gewaltig kontrastiert mit den Orten, an denen sie aufwuchs und lebte. Geboren in einer Kölner Professorenfamilie als Tochter des Juristen Hans Carl Nipperdey war auch ihr späteres Leben akademisch geprägt, auch wenn sie eine ihr angebotene Professur in Köln ablehnte und lieber den Schritt in die Unabhängigkeit ging. Später lehrte sie zehn Jahre in den USA.

Und mit ihrem zweiten Ehemann, dem ehemaligen Benediktinermönch Fulbert Steffensky, gründete sie selbst eine Professorenfamilie, lehrte er doch als Religionspädagoge in Hamburg.

Akribisch zeichnet Sacher nach, wie Sölle in den 1960er Jahen mit ihren Büchern für heftige Diskussionen sorgte, mit Thesen – wie Sacher anmerkt–, die heute auch in der Kirche kaum noch für Widerspruch sorgen würden. Was vielleicht trügt. Und weniger mit Sölle zu tun hat als mit einer Kirche, die sich aus politischen Diskussionen fast völlig zurückgezogen hat.

Man ahnt zumindest, wie sehr sich die (bundes-)deutsche Gesellschaft seit den 1960er Jahren verändert hat, die damals eben nicht nur im Aufbruch war, sondern auch im Bruch mit einer konservativen Grundhaltung, in der sich Kirchen immer noch als die maßgebliche moralische Instanz begriffen. Dirigiert von alten, konservativen Männern, die dünnhäutig und streitbar reagierten, wenn ihr Deutungsmonopol infrage gestellt wurde.

Gott ist tot

Oder gar die Grundlage des Glaubens so gründlich zur Disposition gestellt, wie es Sölle tat, der sehr bewusst war, dass Nietzsches Postulat „Gott ist tot“ eben nicht nur ein philosophisches Bonmot darstellte, sondern die Erfahrung von immer mehr Menschen. Menschen, die sich durchaus als gläubig empfanden, aber mit den alten Bildern von einem Gottvater im Himmel und seinem geopferten Sohn nichts mehr anfangen konnten. Sacher verweist berechtigt darauf, dass das in gewisser Weise ein alter Hut war, Ergebnis von 200 Jahren Aufklärung.

Aber alte Hüte können sehr aktuell sein, wenn sie ans Menschliche rühren. Nämlich an die Frage, was dann eigentlich einen Sinn im Leben ergibt, wer diesen Sinn eigentlich gibt. Oder ob es am Ende tatsächlich der Mensch selbst ist, der tätig werden muss, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Sacher geht dabei auf Sölles direkte Bezüge zu Heidegger und Sartre ein, die die Frage nach dem Sinn des Lebens jeweils anders beantwortet haben.

Immer wieder betont Sacher Sölles Bezugnahme auf den Theologen Rudolf Bultmann, der seinerseits für Diskussionen sorgte, weil er beherzt für die Entmythologisierung des Neuen Testaments warb.

Auch das ein alter (Aufklärungs-)Hut. Aber die Reaktionen der kirchlichen Gralswächter in den 1960er Jahren zeigten eben auch, dass man das alles 200 Jahre lang mit aller Kraft versucht hatte zu ignorieren, herauszuhalten aus der Welt der braven, gläubigen Schäfchen. Nur waren die Schäfchen nicht mehr so brav gläubig. Wozu wohl auch die Erfahrung des NS-Reiches mit all seinen Verbrechen beigetragen hat. Auf einmal half die ganze gläubige Maske nichts mehr, stand die Frage mitten im Raum: Wie konnte es dazu kommen? Wie konnten auch Christen das zulassen? Wie schuldig hat sich ein jeder gemacht?

Was gibt uns Hoffnung?

Da half alle Schuldabwehr nichts. Die Frage stand genau so da. Und Sölle stach mitten ins Wespennest, als sie in ihren Schriften schlichtweg davon ausging, dass Nietzsches Feststellung schlicht der Lebenszustand der meisten Menschen war, auch der Gläubigen: Gott im traditionellen Sinne war tot. Und Leute wie Sartre stellten genau die Fragen, die dann auftauchten: Was gibt der menschlichen Existenz dann eigentlich einen Sinn?

Wobei an dieser Stelle auffällt, dass Sacher einen anderen Philosophen, auf den sich Sölle immer wieder bezog, einfach nicht erwähnt: Ernst Bloch. Der mit seinem „Prinzip Hoffnung“ dasselbe Thema von der anderen Seite thematisierte – nämlich der der anderen „Gläubigen“, die mit ihrer Religion gerade in die Krise geraten waren: der gläubigen Kommunisten.

Denn Bloch hatte scharfsinnig erkannt, dass Kirche und Kommunismus unter demselben Problem litten: dem „Gottvater“ ganz oben und der männerdominierten Hierarchie, in der die ganz oben vorgaben, was die ganz unten zu glauben hatten. Für ihn war selbstverständlich, das „Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, dass nur seine Veränderung einzuleuchten vermag.“

Natürlich sprenge ich jetzt Sachers Essay, der genau diese Begegnung zweier scheinbar unberührbarer Welten ausklammert. Genauso übrigens, wie er das starke Engagement Sölles für den Feminismus ausklammert. Auch das ein „alter Hut“. Heute zumindest, wo es die älteren Herren in der Hierarchie nicht mehr so aufregt, wenn sich kluge Frauen zu Fragen des Glaubens, zu Gott, zur Existenz und zur persönlichen Verantwortung zu Wort melden. Und nicht nur Fragen stellen, sondern auch Antworten geben, die nicht immer ins Schema passen.

Wie zum Beispiel Sölles klare Ansage, dass auch Glauben politisch ist. Dass Kirche eben kein Ort außerhalb der Gesellschaft ist, in dem man sich um die brennenden Fragen der Gegenwart nicht kümmern muss. Etwa die Frage nach Ziel und Sinn der Gesellschaft, in der man lebt – dem entfesselten Kapitalismus mit seiner hemmungslosen Ausbeutungspraxis gerade in der „Dritten Welt“, mit seiner Fixierung auf grenzenlosen Konsum und der spürbaren Vereinzelung des zum Produzenten und Konsumenten gemachten Individuums, das in dieser Welt der maximalen Verwertung keinen Sinn mehr findet.

Was gibt politischem Handeln einen Sinn?

Die scharfen Formulierungen Sölles in Richtung USA merkt Sacher sehr kritisch an, spart aber auch Sölles zentrales Engagement in der Friedensbewegung weitgehend aus. Also gerade die politische Person Dorothee Sölle, die man von der tiefgläubigen Theologin in ihren Büchern nicht trennen kann. Glauben als Handlungsgrund für politisches Engagement. Das ist nun mal kein alter Hut, sondern genau die moderne Frage, die eben auch politisches Handeln grundiert: Was gibt uns eigentlich die Richtschnur in diesem Handeln? Und was gibt politischem Wirken eigentlich einen Sinn über das simple Verwalten hinaus?

Eine Frage, die – wie man allerseits beobachten kann – in politischen Diskussionen heute genauso wenig vorkommt wie in der journalistischen Berichterstattung. Da hat man eher das Gefühl, den beobachteten Politikern wird jeder moralische Maßstab abgesprochen, jede Verankerung in etwas, was man – nach Max Weber – Verantwortungsethik nennen kann. Das ist bei Sölle ganz zentral. Und eigentlich auch nicht überlesbar.

Und so überrascht es auch nicht, dass Sacher der Autorin, deren Bücher er wahrscheinlich so intensiv gelesen hat wie lange kein Zweiter, attestiert, dass all die Empfehlungen und Forderungen, die man da findet, im Grunde lediglich auf den Lebenserfahrungen Sölles aufbauen. Auch wenn sie allgemeingültig klingen.

Aber genau das war ihre Stärke. Und übrigens auch die der anderen Autoren, auf die sie sich immer wieder bezog – von Sartre bis Bloch: Das Persönliche ist natürlich nie allgemeingültig. Aber das heißt eben nicht, dass sich andere Menschen darin nicht wiederfinden. Denn unsere Existenz ist – zum Glück – weder normiert noch allgemeingültig. Womit sich eigentlich ein Kreis schließt, den Sacher in diesem Fall übersieht: Denn genau so wie Sölle im Glauben ihren eigenen Sinn im Leben (wieder-)gefunden hat, ist jeder Einzelne selbst in der Lage, seinem Leben einen/seinen Sinn zu geben. Und vor allem moralisch zu handeln.

Die Welt ein bisschen besser machen

Denn dass sich die alten Kirchenbewahrer in den 1960er Jahren so vehement gegen die kritische und eigensinnige Theologin und ihre Thesen wehrten, hatte nun einmal auch damit zu tun, dass „die Kirche“ ganz und gar nicht ohne Schuld aus der NS-Zeit hervorgegangen war. Die Bonhoeffers waren selten. Die Mehrheit der Pfarrer und Bischöfe waren angepasst und hatten das System der Nazis auf ihre Weise geduldet, unterstützt, gestärkt.

Und jetzt kam diese eigensinnige Frau und sagte ihnen ins Gesicht, dass es ein unpolitisches Leben im Glauben nicht gab. Dass selbst das Privateste politisch war und der gläubige Mensch sich für seine ethischen Grundsätze auch zu engagieren hatte. Und damit tätig wurde, um Gott auf Erden sichtbar zu machen, um das mal so kurz zusammenzubinden. Ob es dann auch nur wieder Menschen sind, die ihr Geworfensein in den Glauben ganz ähnlich empfinden und sich deshalb von Sölles Schriften angesprochen fühlen, ist wohl eher eine offene Frage.

Denn die großen Auflagen, die Sölles teils akademische Schriften erreichten, erzählen eben auch von einem großen Diskussionsbedürfnis einer Gesellschaft, die nicht nur nach Orientierung sucht. So wird das ja gern auch von Theologen interpretiert, um die Kirche wieder zum allgemein gültigen Maßstabgeber zu machen.

Aber gerade Sölles intensive Beschäftigung mit dem Existenzialismus macht deutlich, dass die alten Antworten nicht mehr funktionierten. Dass eine zunehmend individualisierte Gesellschaft andere Wege verlangte, den Einzelnen wieder in die Lage zu versetzen, seinem eigenen Handeln in einer Welt ohne Sinn einen Sinn zu geben. Oder überhaupt erst einmal zu verstehen, wie eigenes Tätigwerden (ganz im Sinne Luthers) erst dazu führt, dass das Erdendasein am Ende einen Sinn gehabt hat. Und wenn es nur der Versuch war, die Welt ein kleines bisschen besser zurückzulassen, als man sie vorgefunden hat.

Alles hat seinen Preis?

Ob das dann für den Einzelnen ein mystischer Weg ist wie in Sölles letzten Büchern, ist völlig offen. Und nicht vergessen darf man ja auch Sölles Positionierung zur Befreiungstheologie, die das Tätigwerden geradezu zum Kern hatte. Was eben auch ein Weg aus der Ohnmacht heraus war gegenüber einem als sakrosankt empfundenen Ausbeutungssystem, dessen postkolonialen Charakter auch die kritischen Geister Europas in den 1970er Jahren erst so langsam verstanden. So gesehen darf man Sölle nicht vom Jahr 2023 aus interpretieren.

Und da gesteht Sacher sogar gleich zu Beginn seiner Suche zu, dass er anfangs sogar die falschen Fragen stellte: „Sollte man die Bücher von Dorothee Sölle im Jahr 2023 noch lesen? Und wenn ja, warum?“ Worauf ihm Fulbert Steffensky trocken erwiderte: „Was für ein Kaufmannsdenken.“

Oft merken wir gar nicht, wie tief dieses Kaufmannsdenken längst in unseren Köpfen steckt. Alles bewerten wir. Allem geben wir einen Preis. Was keinen Preis hat, achten wir nicht. Was sich nicht verkaufen lässt, wird ignoriert.

Aber das ist Sölles Büchern eben nicht passiert. Einige werden noch immer gelesen und übersetzt. Denn die Fragen, die darin stecken, sind auch heute noch/wieder akut und aktell. Eher noch viel stärker ist die allgemeine Orientierungslosigkeit zu spüren, die Suche der Menschen in allen möglichen Gesellschaften nach dem eigentlichen Sinn des Lebens. Gerade in einer Welt, die aus einer Krise in die nächste rutscht, ohne dass der Einzelne etwas machen könnte. Oder sich nicht mehr zutraut, tätig zu werden und seinem Leben – und damit der Welt – einen Sinn zu geben.

Das hört sich irgendwie sehr gegenwärtig an.

Konstantin Sacher „Dorothee Sölle auf der Spur“, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023, 22 Euro.

Mehr Informationen zu Leben und Werk von Dorothee Sölle findet man hier.

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