Er gehört zu den markantesten Köpfen in der deutschen Presselandschaft, die sich mit klugen und ausgefeilten Kommentaren immer wieder zur deutschen Politik geäußert haben: Heribert Prantl. 25 Jahre lang Leiter des Innenressorts der „Süddeutschen Zeitung“. Und auch im Ruhestand schreibt er weiter Kommentare für die Zeitung, die ihn aus seinem Leben als Staatsanwalt herausgeholt hat, um in der „Süddeutschen“ eigentlich staatstragende Kommentare zu schreiben.

Was man halt von einem deutschen Staatsanwalt und Richter so erwartet. Doch dann bekam die „Süddeutsche“ nicht nur einen Mann an Bord, der sich mit Gesetzen, Gerichten und dem Murks deutscher Gesetzgeber bestens auskannte, sondern einen, der auch noch dezidiert liberale und demokratische Positionen vertrat und das Grundgesetz zum Maßstab all seiner Kommentare machte.

Und damit regelmäßig auch konservative Politiker verärgerte. Was aber bekanntlich nicht viel hilft in Deutschland, wenn eine Wählermehrheit nur zu gern bräsige Politiker wählt, die ihr versprechen, dass sich nichts ändert. Gar nichts. Obwohl sich natürlich alles ändert – und dann meistens nicht zum Guten, wenn Wähler glauben, jetzt schenke ihnen jemand blühende Landschaften.

Vollzogen, aber nicht vollendet

Und es gab nicht wirklich viele scharf sehende Kommentatoren in den großen (west-)deutschen Zeitungen, die 1990 so klar erkannten, was dieser Kohl’sche Verwaltungsakt für die gewesene DDR letztlich bedeutete und anrichtete. Mit Folgen, die wir bis heute verspüren. Und was auch mit einem der fatalsten Fehler zu tun hat, die damals gemacht wurden: dem Verzicht auf den eigentlich vom Grundgesetz vorgesehenen Einigungsvertrag der beiden deutschen Staaten und die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung.

Stattdessen wählte man die eigentlich für das kleine Saarland geschaffene Beitrittklausel und stülpte dem Osten einfach alle Gesetze, Verkrustungen und bürokratischen Verirrungen über, die schon der alten Bundesrepublik das Leben schwer gemacht hatten.

Die Deutsche Einheit wurde vollzogen, benennt es Prantl im Kapitel „Oktober“ in seinem Buch, aber nicht vollendet. Die Ostdeutschen wissen das. Die meisten Westdeutschen halten die Ostdeutschen deshalb für undankbar. Auch Willy Brandt hat sich ja geirrt: Es wächst eben nichts zusammen, wenn man einfach alles, was im Westen irgendwie funktionierte, dem Osten einfach überstülpt.

Sein „Oktober“-Kapitel widmet Prantl ganz und gar der Wiedervereinigung. Er hat das persönlich genommen und nimmt es noch immer persönlich. So wie all die Themen, die er in diesem sehr persönlichen Kalendarium versammelt hat, in dem er seine eigene Autobiographie genauso streift wie seine Arbeit als Kommentator bei der „Süddeutschen Zeitung“. Inklusive seiner vielen Interviews mit den namhaften Politikern in dieser Zeit und auch seinem intensiven Verhältnis zum Grundgesetz, das von etlichen deutschen Politikern eher nur wie eine Waschanleitung behandelt wird, aber weder gelebt noch verteidigt.

Wenn Grundrechte unter die Räder kommen

Im Gegenteil: Wenn es einigen machtlüsternen Männern in den Sinn kam, haben sie wichtige Paragrafen im Grundgesetz schon mal eiligst geschleift. Die Demolierung des Asylrechts, das das Grunggesetz von 1949 noch garantierte, durch den Bundestag im Jahr 1992 verzeiht Prantl den Beteiligten bis heute nicht. Auch wenn die SPD ihre Zustimmung zu dieser Kastration mit dem Versprechen verkaufte, sie bekäme dafür ein richtiges Einwanderungsgesetz. Deutschland hat bis heute kein funktionierendes Einwanderungsgesetz. Aber dafür eine bürokratische Entmündigungs- und Abschiebepraxis, die mit dem Geist des Grundgesetzes von 1949 nichts mehr zu tun hat. Und das aus lauter Feigheit.

Denn vorausgegangen waren damals die Pogrome von Rostock und Hoyerswerda, befeuert von (westdeutschen) Rechtsextremen, die die Gelegenheit nutzten, die Leute aufzustacheln und sich im Osten festzusetzen. Und statt endlich strenger gegen die deutschen Neonazis vorzugehen, kniff die Bundesregierung und setzte eine Verstümmelung der Asylgesetzgebung um, deren Vorläufer zuvor in Bayern entwickelt wurden, wie Prantl aus eigener Erfahrung erzählen kann.

Bayern, das Land, in dem Prantl zu Hause ist, auch wenn er mit den jeweiligen Örtlichkeiten durchaus seinen Dissens hat. Wirklich zu Hause fühlt er sich in Regensburg, wo er mit Blick auf die Donau heute am Schreibtisch sitzt und seine Kommentare und Bücher schreibt. Darauf geht er im „September“-Kapitel ein, in dem er auslotet, was für ihn wirklich Heimat ist. Und es überrascht gar nicht: Wirklich Heimat ist für ihn das Schreiben. Denn beim Schreiben sammelt man sich, bringt seine Gedanken auf den Punkt, formuliert das, was einem am Herzen liegt und wichtig ist.

Das Recht zum Widerstand

So wie das kleine Widerstands-Recht, das ebenfalls im Grundgesetz verankert ist, und das Innenminister in Bayern oder Sachsen immer schon verachtet haben. Man ist mittendrin in der sächsischen Gegenwart und all den Verdrehungen und Falschbehauptungen um den 3. Juni 2023 in Leipzig, wenn Prantl daran erinnert, warum der kleine Widerstand ein Grundrecht der Bundesbürger ist – genauso wie ihr Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit.

Das aber von Innenministern gern niedergeknüppelt wird, wenn sie glauben, es würden ihre Machtinteressen gefährdet – etwa wenn tausende Menschen gegen eine Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf demonstrieren. Oder wenn – wie 1992 in München – Menschen friedlich gegen das Treffen der G7-Staaten protestieren und dann ohne Anlass von tausenden Polizisten eingekesselt, über Stunden festgehalten und hinterher wegen Nötigung gar vor Gericht gezerrt werden.

Da darf man stutzen. Denn das erinnert doch fatal an den „Leipziger Kessel“ von 2023, an dem – welche Überraschung – auch wieder hunderte bayerische Polizisten beteiligt waren.

Das Denken dahinter hat Prantl in seinen Kommentaren immer wieder aufgedeckt. Denn die verantwortlichen Innenminister und Polizeipräsidenten haben das Grundgesetz einfach auf den Kopf gestellt und die Rechte des Staates über die Grundrechte der Bürger erhoben. Eine Haltung, die geradezu zum Kern konservativen Denkens in Deutschland gehört: Wenn der Protest unbequem wird und die Ruhe der Regierenden stört, wird er einfach kriminalisiert und für extremistisch erklärt.

Dann ist die Würde der Menschen den Mächtigen auf einmal sehr egal. Und man merkt, dass sie das Grundgesetz ganz und gar nicht verinnerlicht haben. Logisch, dass Prantl mit seinen juristisch ausgefeilten Kommentaren etliche der ach so Mächtigen und Machtverliebten immer wieder verärgert und gepiesackt hat. Sogar mit schlechtem Gewissen, denn wenn man mit den scheinbar so Mächtigen immer wieder in Interviews oder am Rand von Parteitagen ins Gepräch kommt, lernt man ja auch den Menschen kennen, entstehen auch sehr persönliche Beziehungen, die freilich eher selten zu Freundschaften, eher zu besten Feindschaften werden.

Ein Kapitel für die Pressefreiheit

Denn das hat Prantl – anders als viele andere Kollegen aus dem schreibenden Metier – verinnerlicht: Dass man die sachliche, professionelle Ebene im Umgang mit Politikern nie verlassen darf. Das schließt ein enges Vertrauensverhältnis nicht aus. Aber Freundschaft hat da eigentlich keinen Platz. Es sei denn jene Art von Freundschaft, die dann zum Tragen kommt, wenn die Mächtigen nicht mehr im Amt sind und sich dann nur zu oft tatsächlich aus Machtmaschinen wieder in Menschen verwandeln, die mit ihrem Gewissen hadern und manches gern korrigieren würden, was sie im Getümmel der großen Politik mit verbockt haben. Dann ist es aber meistens zu spät.

Das „August“-Kapitel widmet Prantl ganz der Pressefreiheit, deren dringende Notwendigkeit für eine lebende Demokratie viele Politiker bis heute nicht verstanden haben. Da reagierten nicht nur Leute wie Franz Josef Strauß grantig. Denn Pressefreiheit stört natürlich die Machtspiele auf offener Bühne und im Hinterzimmer. Sie erinnert immer wieder daran, dass Gemauschel und Gekunkel in einer Demokratie nichts zu suchen haben.

Und sie erinnert daran, dass Politiker nicht gewählt werden, damit sie sich mit den Reichen und Spendablen in eine Wanne legen, sondern dafür, dass sie Demokratie und soziale Sicherheit für alle gewährleisten – und zwar zuallererst für die Schwachen, Machtlosen und mies Bezahlten. Das vergessen sie nur zu oft, weil sie lieber um die Stimmen der Wohlgenährten und Gutversorgten buhlen.

„Ein Journalist braucht keine Partei“, schreibt Prantl, „er braucht Haltung. Im Wort ‚Haltung‘ steckt das Wort ‚Halt‘. Die Gesellschaft braucht ihren Halt in den Grundwerten. Ich habe meine Aufgabe als politischer Journalist stets vor allem darin gesehen, für die Grundrechte und die Grundwerte einzutreten: Respekt für Minderheiten, soziale Verantwortung, Gleichheit vor dem Gesetz.“

Das Recht zum Widerstand

Politiker müssen es vertragen können, wenn sie dafür kritisiert werden, wenn sie sich um all diese Dinge nicht kümmern. Wenn sie egoistisch handeln und damit am Ende die Demokratie zerstören. Denn genau hier beginnt es – wenn Minister einfach, weil sie die Macht dazu haben (und an ihr kleben), Grundrechte aushebeln und in der Öffentlichkeit sogar das Bild vermitteln, dass Grundrechte staatsgefährdend seien. Und die Menschen, die diese Rechte auf Protest, freie Meinungsäußerung und wirksame Demonstrationen in Anspruch nehmen, aus ihrer Sicht hinter Gitter gehören.

Man wird sehr wach, wenn Prantl darüber schreibt. Denn das sind die Dinge, die uns tatsächlich alle betreffen. Demokratie ist nicht bequem – nur für die, die sich hinter all ihren Privilegien eingekastelt haben. Demokratie braucht den demokratischen Protest, sonst schläft sie ein. Und die Mehrheit beginnt wieder, sich den Entzug elementarer Rechte gefallen zu lassen. Damit beginnt immer der schleichende Übergang zur Diktatur.

Dass das hochaktuell ist, benennt Prantl in seinem „Juli“-Kapitel, in dem es genau um dieses Recht zum Widerstand geht. Und um die dramatischen Gefahren der Gleichgültigkeit, hinter der Menschen sich verstecken, um ja nichts tun zu müssen. Bis hin zu „Da kann man nichts machen.“ oder „Nach uns die Sintflut.“

Und es gibt genug zu tun. Nicht nur in Ostdeutschland, in dem so markant zu besichtigen ist, was passiert, wenn man Menschen einfach eine alte Bürokratie überstülpt, ihnen selbst aber jedes Mitwirken an dem, was die deutsche Einheit sein könnte, verwehrt.

Die Depression der vernachlässigten Provinz

Ob da noch die DDR nachwirkt, wenn das Gefühl von Ohnmacht und Nichtgehörtwerden heute so weit verbreitet ist, darf man bezweifeln. Es gibt auch in westdeutschen Provinzen längst eine „provinzielle Depression“, weil die Infrastrukturen verschwinden und die Orte veröden – mit toten Stadtkernen und wuchernden Gewerbegebieten und Eigenheimsiedlungen außerhalb der Orte. Da hat niemand mehr das Gefühl, dass das Heimat ist oder etwas Gemeinsames die Gesellschaft zusammenhält.

Journalisten haben damit auch die moralische Pflicht, die Missstände zu benennen und den freundlich in Amt und Würden Gewählten die Wirklichkeit zu zeigen, wie sie ist.

„Journalisten sind nicht die Claqueure für Politiker, sie sind nicht ihre Buddys und nicht ihre Partner“, schreibt Prantl. „Guter Journalismus wahrt Distanz und misst seine Güte nicht daran, wie viele Politiker zu seinem Geburtstag kommen.“

Aber das macht Prantl eben auch sichtbar: Dass ein Journalist eben auch ein Mensch ist mit einer sehr persönlichen Haltung. Und manchmal muss man auch den Lesern erst deutlich erklären, dass so etwas wie das Grundgesetz mit seinen Grundrechten der Maßstab für die eigene Arbeit ist. Und das ist ein guter Maßstab, erst recht, wenn man die Grundrechte gegen Leute verteidigen muss, denen diese Rechte in der Praxis nur zu egal sind.

Es ist ein sehr persönliches Buch. Aber auch eines, in dem Prantl zeigt, wie lebendig ein journalistischer Stil sein kann. Auch das etwas selten Gewordenes in einer Welt der Versatzstücke, Floskeln und Allgemeinplätze. „Mensch, werde wesentlich“, forderte einst Gotthold Ephraim Lessing. Prantl hat sich dran gehalten.

Heribert Prantl Mensch Prantl. Ein autobiographisches Kalendarium“, Langen Müller Verlag, München 2023, 25 Euro.

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