Der Titel dieses Buches der Professorin fรผr klinische Psychologie an der University of Texas in Austin klingt so, als ginge es hier tatsรคchlich um das Grundverstรคndnis zur Funktionsweise unserer Gene. Denn Fakt ist: Die meisten Menschen wissen darรผber praktisch nichts. Aber der Untertitel der amerikanischen Ausgabe macht deutlicher, worum es Kathryn Paige Harden tatsรคchlich geht: โ€žWhy DNA matters fรผr Social Equalityโ€œ. Das ist eine Nummer schรคrfer als โ€žWie Gene uns beeinflussenโ€œ.

Denn Harden geht es um die gesellschaftliche Dimension, um die Rolle der genetischen Forschung in dieser Gesellschaft und um die Frage, warum falsche Vorstellungen von Gleichheit tatsรคchlich die Menschen in der Vielfalt ihrer genetischen Voraussetzungen nicht nur unfair behandeln, sondern auch diskriminieren. Denn Menschen sind nicht gleich. Sie werden allesamt jeder fรผr sich mit einem vรถllig unverwechselbaren StrauรŸ genetischer Voraussetzungen geboren.

Das ist der eine Teil der Gen-Lotterie. Niemand kann diese zufรคlligen Kombinationen, mit denen er ins Leben tritt, beeinflussen. Sie sind genauso unbeeinflussbar wie die Familie, in die man hineingeboren wird, das Land und die Zeit.

Und das heiรŸt eben auch: Sie haben nicht alle dieselben Chancen. Auch wenn es das groรŸe Mantra einer freiheitlichen Gesellschaft ist, dass jeder nach seiner Leistung honoriert wird und jeder sich nur genug anstrengen muss, dann wird auch er zum Gewinner. Aber das war schon immer eine Behauptung, die nicht stimmte. Denn welche Chancen ein Mensch in unserer Gesellschaft verwirklichen kann, hรคngt nicht nur von seinen genetischen Voraussetzungen ab, sondern auch von Armut und Reichtum, von Stand und Klasse also.

Und es gibt mehr als eine Studie dazu, die Harden zitieren und grafisch sichtbar machen kann, wie diese doppelten Voraussetzungen โ€“ genetische und soziale Startbedingungen fรผr jeden von uns โ€“ zur Lotterie werden.

Eine komplexe Angelegenheit

Sie hat zwar vor allem die USA im Blick, wo die Illusionen รผber gleiche Chancen fรผr alle und die Belohnung von Leistung noch viel grรถรŸer sind als in Deutschland. Aber so weit weg sind auch wir nicht von diesen etablierten โ€“ und falschen โ€“ Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Auch wir haben ein standardisiertes Bildungssystem, das โ€“ auch statistisch signifikant โ€“ vor allem Kinder aus gut verdienenden Haushalten der Oberschicht bevorteilt.

Wie das funktioniert, beleuchtet Harden immer wieder. Sie will wirklich, dass ihre Leser und Leserinnen verstehen, was an unserem Denken รผber Gleichheit, Wertschรคtzung und Leistungsgerechtigkeit so falsch ist. Und was das โ€“ auch โ€“ mit den vรถllig unterschiedlichen genetischen Voraussetzungen zu tun hat, die jeder mitbringt.

Wobei sie die soziale Dimension nicht ausblendet, die in Teilen selbst wieder durch genetische Voraussetzungen geprรคgt ist. Denn auch die Eltern der Kinder, die heute ins Leben und ins standardisierte Bildungssystem eintreten, haben ja selbst wieder genetische Voraussetzungen mitbekommen, die ihrerseits das Umfeld prรคgen, in dem Kinder aufwachsen.

Logisch, dass Harden davor immer wieder warnt, die verschiedenen inzwischen vorliegenden Ergebnisse der Gen-Forschung nur eindimensional zu interpretieren. Dazu ist das alles zu komplex. In den Kรถpfen vieler Leute existiert ja auch die simplifizierte Vorstellung, dass es zu jeder einzelnen Eigenschaft, die uns prรคgt, auch ein jeweils genau zu definierendes Gen โ€“ oder einen entsprechenden Gen-Defekt โ€“ gibt. Was bei einzelnen genetisch bedingten Krankheiten tatsรคchlich der Fall ist.

Aber schon bei phรคnotypischen Erscheinungen wie GrรถรŸe, Augenfarbe, Hautfarbe usw. ist das nicht mehr der Fall, hat die Forschung lรคngst gezeigt, dass fรผr scheinbar konkrete Dinge oft mehrere unterschiedliche Genabschnite โ€žzustรคndigโ€œ sind, was sich โ€“ etwa bei der KรถrpergrรถรŸe โ€“ auch kumulieren kann.

Erbe ist nicht gleich Erbe

Aber auch viele kognitive Eigenschaften und nicht-kognitive Eigenschaften (wie Lernbereitschaft, Wissbegier, Konzentrationsfรคhigkeit, Selbstkontrolle usw.) sind genetisch bedingt. Zahlreiche Studien haben sich mit der Frage beschรคftigt, ob die Fรคhigkeiten, im standardisierten modernen Bildungssystem erfolgreich zu sein, eigentlich sรคmtlich in der Familie angelegt sind, also Ergebnis der frรผhkindlichen Sozialisation. Doch sie wiesen fast alle darauf hin, dass diese Eigenschaften direkt mit den genetischen Voraussetzungen des Kindes zusammenhรคngen.

Wobei Harden ein Wort besonders der Kritik unterzieht: Heritage. Also Erbe oder Vererbung. Denn auch das steckt tief in den Kรถpfen vieler Leute, dass besondere genetische Merkmale einfach vererbt seien und man z. B. eine Gesellschaft in ihrem โ€žErbgutโ€œ einfach verbessern kรถnnte, indem man Menschen regelrecht aussortiert. Oder auch klont.

Harden ist sehr bewusst, wie schnell so eine Denkweise direkt zur Eugenik fรผhrt, deren fatale Entwicklungsgeschichte sie natรผrlich auch nachzeichnet. Denn das eugenische Denken ist noch lรคngst nicht verschwunden. Eugeniker melden sich nach wie vor mit reiรŸerischen Buchtiteln zu Wort, machen โ€“ gerade in den USA โ€“ politisch Stimmung und beeinflussen sogar Gesetze.

Denn wenn dieses Denken erst einmal in den Kรถpfen ist, ist es bis zum Bewerten von Menschen nicht mehr weit. Zum Rassismus, Antisemitismus und zum รœberlegenheitsdรผnkel einer Elite, die permanent von der Belohnung von Leistung redet, aber regelrecht blind ist fรผr die Bevorteilungen, mit denen Kinder aus sowieso privilegierten Familien ihren Lebensweg starten. Sie nehmen gar nicht mehr wahr, wie sehr gesellschaftliche Barrieren und โ€žglรคserne Deckenโ€œ Menschen aus รคrmeren und minderprivilegierten Familien daran hindern, ihre Potenziale zu entfalten.

Wie Bildung aussortiert

Aber was โ€žerbtโ€œ man eigentlich von seinen Eltern in der Gen-Lotterie? Ein ziemlich zufรคlliges neu zusammengestelltes Gemisch von DNA, in dem die Gene der Eltern jedes Mal vรถllig neu und zufรคllig zusammengesetzt werden. Da kรถnnen sich die unterschiedlichen Gene der Eltern verstรคrken โ€“ oder auch vรถllig neue Eigenschaften sichtbar machen. Und wie unberechenbar diese Lotterie ist, belegen gerade jene Studien, in denen Mรผtter von vielen Kindern zur Verteilung von diversen Eigenschaften in der menschlichen Gesellschaft befragt werden.

Sie liegen der tatsรคchlichen Verteilungskurve jedes Mal nรคher, als es Menschen ohne oder nur mit wenigen Kindern tun. Denn sie sehen an ihren eigenen Kindern, wie verschieden sie jedes Mal werden, obwohl die Rahmenbedingungen dieselben bleiben. Vom Phรคnotyp bis hin zu den Eigenschaften, die am Ende den Charakter des Menschen ausmachen.

Aber Harden stellt eben auch fest, dass โ€žErfolgโ€œ in unserer vom Leistungsdenken besessenen Gesellschaft direkt verbunden ist mit einem mรถglichst hohen Bildungsabschluss an einer mรถglichst renommierten Hochschule. Das heiรŸt: Unser Bildungssystem bestimmt, wer am Ende in gut bezahlten Spitzenpositionen landet โ€“ und wer nicht. Was รผbrigens zwei Seiten hat: Nicht nur das Bildungssystem bestimmt โ€žErfolgโ€œ. Es ist auch so standardisiert, dass es ganz bestimmte Eigenschaften prรคferiert. Es sorgt dafรผr, dass Menschen, die zum Leistungskanon unserer elitรคren Gesellschaft am besten passen, in diesem System ausgewรคhlt und gefรถrdert werden.

Und da โ€“ in den USA ganz besonders โ€“ Geld bestimmt, wer รผberhaupt welche Stufe der Bildungsleiter erklimmen kann, bestimmen eben auch Voraussetzungen den Bildungserfolg, die von vornherein nicht gerecht verteilt sind. In Deutschland ist das zwar schwรคcher ausgeprรคgt. Aber der jรคmmerliche Kampf ums Bafรถg zeigt gerade wieder sehr eindeutig, dass auch wir unsere โ€žLeistungsโ€œ-Eliten haben, denen รผberhaupt nicht daran gelegen ist, wirkliche Chancengleichheit herzustellen.

Im Gegenteil: Hinter dem ganzen Gerede von โ€žLeistungsgerechtigkeitโ€œ steckt die Ignoranz einer reichen Oberschicht, die ihre โ€“ ererbten โ€“ Privilegien fรผr natรผrlich und selbstverstรคndlich hรคlt und tatsรคchlich Stereotype der Abwertung vertritt.

Und damit verbunden auch falsche Vorstellungen von nรถtigen Bildungsreformen. Statt die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder zu akzeptieren, wird weiterhin so getan, als mรผssten sich die Kinder nur an das starre Leistungssystem unserer Schulen anpassen und sich nur genug anstrengen.

Blind fรผr Privilegien

Aber wenn das dann einmal statistisch untersucht wird, wie es etwa begabten Kindern aus รคrmeren Familien in diesem Bildungssystem ergeht, dann kommt so etwas heraus: โ€žKinder mit hohen polygenische Indizes und Eltern mit dem niedrigsten sozioรถkonomischen Status ging es im Erwachsenenalter im Durchschnitt schlechter als Kindern, die niedrige polygenische Indizes hatten, aber wohlhabende Eltern.โ€œ

Polygenisch heiรŸt in diesem Fall: Die Kinder besitzen mehrere Genabschnitte, die eigentlich die Voraussetzung fรผr Intelligenz und Bildungserfolg sind. Nur kรถnnen sich ihre Eltern die hรถheren Schulen fรผr diese Kinder nicht leisten. Sie scheitern also in ihrer Bildungskarriere frรผh, landen in Jobs, die sie รผberhaupt nicht befriedigen โ€“ und sind damit auch stรคrker in Gefahr, im Leben zu scheitern.

Dass sie รถfter scheitern, wird dann von den eigentlich Profitierenden gern als Argument genutzt, dass sie schlichtweg die (genetischen) Voraussetzungen nicht haben, um im Land der Erfolgreichen und Privilegierten selbst Erfolg zu haben.

Womit auch sichtbar wird, dass das eugenische Denken letztlich ein Herrschaftsdenken ist โ€“ die Sichtweise einer privilegierten Elite, die sich der (ererbten) Vorteile des eigenen Status gar nicht mehr bewusst ist und das Scheitern fรผr Kinder aus armen Familien fรผr โ€žselbstverschuldetโ€œ oder gar durch โ€žschlechte Geneโ€œ bedingt betrachtet.

Logisch, dass Harden viele Seiten darauf verwendet, nicht nur das falsche Denken der Eugenik auseinander zu nehmen, sondern auch zu zeigen, wie sehr dieses Denken noch heute in den westlichen Gesellschaften verankert ist und sogar zur politischen Keule wird, wenn diese Leute Wahlprogramme und Gesetze beeinflussen.

Ignorieren ist der falsche Weg

Und am Ende wird sie auch deutlich, wenn sie die Nicht-Wahrnehmung der genetischen Voraussetzungen anspricht, die meist gerade liberale Akteure praktizieren, die bei Genforschung sofort an die finstersten Zeiten der Eugenik erinnert sind. Aber Weggucken und Ignorieren sind das falsche Rezept. Denn damit verschwindet das menschenverachtende Denken der Eugeniker ja nicht. Im Gegenteil: Es wird zum Kampfmittel populistischer und rassistischer Bewegungen.

Was es braucht, ist eine Anti-Eugenik, wie Harden schreibt. Denn nur wenn wir wahrnehmen, dass wirklich alle Menschen mit verschiedenen genetischen Voraussetzungen ins Leben treten und in die Schule kommen โ€“ und damit auch mit unterschiedlichsten Startchancen, in diesem standardisierten Bildungssystem erfolgreich zu bestehen, kann man auch wirklich sinnvolle Reformen entwickeln, die aus diesem zwar gleichen, aber unfairen Bildungsystem ein gerechteres Bildungssystem machen.

Denn wenn alle Menschen bei ihrem Eintritt in die Schule die gleichen Bedingungen bekommen, hat das mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Gerecht ist, wenn alle Schulkinder jeweils die Fรถrderung bekommen, die ihnen die grรถรŸtmรถgliche Entfaltung ihrer Fรคhigkeiten ermรถglicht.

Das wรผrde nรคmlich auch einen ganz zentralen Glaubenssatz der Eugeniker aushebeln: dass es sich โ€žbei den aktuellen Determinanten von Ungleichheit โ€šin Wirklichkeitโ€˜ um nicht รผberprรผfte genetische Unterschiede handeltโ€œ. Denn genau das behaupten moderne Eugeniker und Leute, die diese Ansichten unbedacht selbst reproduzieren, nur zu gern: Dass Armut und Misserfolg im Leben genetisch bedingt sind und nicht durch soziale Ausgangslagen bedingt. Doch genau das ist der Fall: Nicht Erfolglosigkeit wird vererbt, sondern Armut. Und die hat nichts mit den Genen zu tun.

Wer definiert eigentlich โ€žErfolgโ€œ?

Dass selbst das Leistungsdenken, das dahinter steckt, willkรผrlich und ignorant ist, klingt immer wieder an. Denn um in der westlichen Gesellschaft reich und โ€žerfolgreichโ€œ zu werden, braucht man ein ganzes Bรผndel charakterlicher Eigenschaften, die nicht wirklich zu den guten und hilfreichen sozialen Kompetenzen gehรถren. Trotzdem prรคgen sie โ€“ bis in die Werbung hinein โ€“ das Bild vom Erfolg-haben-Mรผssen. Wer nicht rรผcksichtslos genug ist, hat keinen โ€žErfolgโ€œ.

Das schwingt mit, wenn Harden schreibt: โ€žDie Einschรคtzung der Rolle der Gene und wie diese mit Erfolgen in puncto Bildung und Wohlstand zusammenhรคngen fรผhrt dazu, dass Menschen nicht mehr so hรคufig kritisiert werden, weil sie nicht genug โ€šerreichtโ€˜ haben, und sie kรถnnte auch die Umverteilung der Ressourcen zugunsten von mehr Gleichberechtigung zur Folge haben.โ€œ

Was wir aber erleben, ist die Stigmatisierung genau jener Menschen, โ€ždie nicht gut ausgebildet sind und Schwierigkeiten haben, in einem Wirtschaftssystem, in dem sich nur โ€šgut ausgebildeteโ€˜ Arbeitnehmer/-innen behaupten.โ€œ Wobei sich โ€žgut ausgebildetโ€œ hier nur auf hรถhere Bildungsabschlรผsse bezieht โ€“ nicht auf die gute Ausbildung etwa von Handwerkern und Dienstleistern, welche diese Gesellschaft auch dann am Laufen halten, wenn sie miserabel bezahlt und in belastenden Schichtdiensten eingesetzt werden.

Selbst dann, wenn sie in ihrem Beruf mehr kรถnnen als der Jurist, der Manager oder der Bankangestellte, die ihnen โ€“ wenn das Leben mal aus dem Gleis lรคuft โ€“ klarmachen, dass sie leider nicht reich genug sind fรผr eine Gesellschaft, die Meritokratie als Summe auf dem Gehaltszettel definiert.

Den โ€žErfolgโ€œ kann man sich in so einer vom Geld definierten Gesellschaft kaufen. Auch fรผr die Kinder. Das Ergebnis ist dann eine elitรคre Oberschicht, die sich ihrer Abgehobenheit nicht einmal mehr bewusst ist. Und die auch nicht sieht, wie sie die sozialen Sicherungssysteme der Gesellschaft so konstruiert, dass die Leute mit wenig Geld wieder benachteiligt oder ausgeschlossen werden. Fรผr die USA sehr typisch. Aber auch fรผr die politische Debatte in Deutschland nicht ganz fremd โ€“ egal, ob es um ein ungerechtes Steuersystem geht, falsche Krankenkassenfinanzierung, ein desolates Pflegesystem oder eben ein Bildungssystem, das eben nicht begabte Kinder fรถrdert, sondern Kinder aus wohlhabenden Familien.

Eben auch, weil die genetische Unterschiedlichkeit der Menschen vรถllig ignoriert wird und sich meistens gerade diejenigen die Hilfe nicht leisten kรถnnen, die sie am dringendsten benรถtigen.

Die Verwechslung von Ursache und Korrelation

Und da wird dann oft genug mit dem Wort Chancengleichheit bemรคntelt. โ€žChancengleichheit kann in der Tat unterschiedlich definiert werdenโ€œ, schreibt Harden, โ€žaber die einfachste Definition ist die, dass alle gleichbehandelt werden.โ€œ Wenn aber alle gleichbehandelt werden, werden alle, die nicht ins Leistungsschema passen, benachteiligt. Oder bewusst behindert und diskriminiert. Oft selbst unterlegt mit scheinbar seriรถsen Studien, die etwa zeigen, dass schlechter Bildungserfolg mit mehr Kriminalitรคt, Sucht und gescheiterten Partnerschaften einhergeht.

Dass da selbst seriรถse Politiker in der Regel nicht unterscheiden kรถnnen, was tatsรคchlich Ursache ist und was nur statistische Korrelation, ist bei fast jeder Debatte รผber soziale Fragen zu beobachten. An den politischen Entscheidungen sowieso โ€“ man denke nur an die katastrophalen Folgen von โ€žHartz IVโ€œ, das fรผr alle Menschen, die im Unterbau der Gesellschaft sowieso schon immer von Arbeitslosigkeit bedroht waren, nicht nur eine Ohrfeige war, sondern das Manifest einer Elite, die vom prekรคren Leben der Menschen โ€žganz untenโ€œ keine Ahnung hat.

In der Rentenpolitik geht das genauso weiter wie in der Gesundheits- und Pflegepolitik. Und die Vertreter dieser Elite lassen sich tatsรคchlich keine Gelegenheit entgehen, auch noch nachzutreten.

Wertschรคtzung statt Bewertung

Wenn man die Streiflichter wahrnimmt, merkt man, wie sehr Hardens Buch eigentlich den Kern unserer Leistungsgesellschaft meint, in der abwertendes Denken รผber Menschen, die nicht ins Erfolgsraster passen, รผblich und akzeptiert ist. Wie sehr das Wort โ€žabwertenโ€œ zutrifft, sieht jeder, der sich in seinem Lebenslauf nur einmal vergegenwรคrtigt, wie oft er sich Bewertungen gefallen lassen musste. Von der Schule mit ihrem starren Prรผf- und Zensurensystem bis hin zu Einstellungsgesprรคchen und betriebsinternen Leistungsbewertungen.

Das hat mit Wertschรคtzung des konkreten Menschen nichts mehr zu tun, aber viel mit Standardisierung, Hierarchisierung und Klassifizierung. Da ist kein Platz mehr fรผr die Wahrnehmung des konkreten Menschen mit seinen ganz persรถnlichen Eigenschaften und Fรคhigkeiten. Und damit eben auch nicht fรผr die Vielfalt und den Reichtum einer Gesellschaft, die auch aus ihrem genetischen Reichtum erwachsen.

Und das wurde selbst Harden direkt vor Augen gefรผhrt, als sie dieses Buch 2020 mitten in der ersten Corona-Welle schrieb und regelrecht zuschauen konnte, wie das an den Menschen noch nicht angepasste Virus genau unter jenen Menschengruppen seine Opfer fand, deren Gefรคhrdung am grรถรŸen war, weil sie vorerkrankt, alt oder schlichtweg arm waren โ€“ und damit ungeschรผtzt.

Und da wurde auch fรผr Harden noch deutlicher, welche Fragen sich eine Gesellschaft wirklich stellen mรผsste: โ€žWรคhrend das bedrohliche Corona-Virus durch die Vereinigten Staaten und die Welt geistert und Schulen und Geschรคfte schlieรŸen, fragen sich Menschen, die sich fรผr andere verantwortlich fรผhlen: Was muss ich tun, um in meiner Community die am stรคrksten gefรคhrdeten Menschen zu schรผtzen?โ€œ

Auf einmal steht nicht der Bonus fรผr die sowieso Erfolgreichen zur Debatte, sondern die Aufgabe der Gesellschaft, ihre schwรคcheren Mitglieder zu unterstรผtzen und ihnen wirkliche Wertschรคtzung zu zeigen.

Das wรคre eine andere, solidarischere Gesellschaft. Mit anderen Prรคmissen, die eben auch das berรผcksichtigen, was meist negiert wird: Die unterschiedlichen genetischen Voraussetzungen aller Menschen, die man โ€“ so wie es jetzt geschieht โ€“ ignorieren oder gar bestrafen kann, durch Aussieben und Klassifizieren.

Oder akzeptieren kann, um damit jeden Menschen so zu fรถrdern, wie es seinen ganz persรถnlichen Fรคhigkeiten entspricht.

Kathryn Paige Harden โ€žDie Gen-Lotterie. Wie Gene uns beeinflussenโ€œ, Hogrefe, Bern 2023, 34,95 Euro.

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