Sie ist eine der größten Erzählerinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur: Louise Erdrich. Mit Büchern wie „Liebeszauber“ und „Die Rübenkönigin“ eroberte sie die Herzen der Leser. Als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners findet sie ihren Stoff in beiden Welten und verärgert die vom Rubrizieren besessene Hochschulweisheit. Wohin gehört sie denn nur? Darf sie denn überhaupt über die „Natives“ schreiben? Dass diese Fragen Nonsens sind, belegen auch die jüngeren Bücher der Pulitzer-Preisträgerin.

Die sind inzwischen, was die deutschen Veröffentlichungen anbelangt, alle im Aufbau Verlag zu Hause. Und dort erschien jetzt auch – von Gesine Schröder übersetzt – ihr neuestes Buch: „The Sentence“. Was man mit „Der Satz“ übersetzen könnte. Es ist der Satz, mit dem am Ende Flora, eine der wunderlichsten Kundinnen der Buchhandlung „Birchbark Books“ ihr Erlösung findet.

Bücher als Lebensretter

Denn genau diese von ihr selbst gegründete Buchhandlung hat Louise Erdrich zum Handlungsschauplatz ihres Buches gemacht. Es ist also ein richtiges Buch für Buchhändler und Leser, die ihre Bücher immer noch in ihrer Lieblingsbuchhandlung um die Ecke kaufen. Bei der Buchhändlerin ihres Vertrauens. Zum Beispiel bei „Birchbark Books“ in Minneapolis. Wo Tookie nach einem langen Aufenthalt im Gefängnis, wo sie ihre Liebe zu Büchern entdeckte, eine Anstellung gefunden hat und endlich so etwas wie Ruhe und Trost in ihrem Leben findet.

Auch weil ihr das gewaltige Bücherwissen, das sie sich im Gefängnis angelesen hat, hilft, den Kundinnen und Kunden immer neue Tipps zu geben, gerade den anspruchsvollsten und hartnäckigsten. So wie dem Mann, den die bunte Belegschaft der Buchhandlung nur Unzufrieden nennt, weil seine Wünsche nach der richtigen Lektüre kaum zu befriedigen sind.

Aber es ging der kleinen Buchhandlung genauso wie den Buchhandlungen in Deutschland, als die Corona-Pandemie um die Erde rollte: Sie musste zeitweise schließen, Buchbestellungen konnten nur noch ohne Kontakt abgewickelt werden. „Birchbark Books“ verwandelte sich in eine regelrechte Versandstation. Und vielleicht war es ja wirklich so: Die kleine Buchhandlung machte mehr Umsatz als in den Jahren davor. Die Leser blieben treu und deckten sich erst recht mit Büchern ein.

Es ist auch ein Buch über die stille Solidarität der Menschen, die mit Begeisterung und Faszination Bücher lesen, mit ihren Buchhändlerinnen und Buchhändlern. In diesem Fall sogar einer sehr speziellen Buchhandlung, denn auf dem Büchertisch, der eigentlich ein umfunktioniertes Boot ist, liegen die aktuellsten Titel der native writers. Wer den Reichtum dieser Literatur noch nicht kennt, für den hat Louise Erdrich extra eine lange Liste angehängt: „Tookies komplett subjektive Lieblingsbücherliste“.

Flora spukt

Tookie ist die eigentlich ziemlich kaputte Heldin der Geschichte. Denn dass sie mit ihrer eigenen Vergangenheit noch lange nicht im Reinen ist, wird deutlich, als Flora im Laden zu spuken beginnt. Flora, die sie eigentlich nur als nervige Kundin in Erinnerung hat, die verzweifelt nach Spuren ihrer indigenen Herkunft sucht. Dass Flora völlig auf der falschen Fährte war, was Flora betrifft, stellt sich sehr spät heraus – auch nach vielen Krisen Tookies, die nicht wirklich weiß, warum es Flora augenscheinlich gerade auf sie abgesehen hat.

So gesehen wäre es schon eine der typischen Erdrich-Geschichten, in denen Magie, indigenes Weltempfinden, Traum und Verbundenheit mit der lebendigen Welt die Matrix bilden, auf der sich menschliche Schicksale entfalten. Aber das Buch hat Louise Erdrich nicht grundlos in der Corona-Zeit geschrieben. Es geht nicht nur um Bücher. Denn Corona holt auch Tookies Lebensgefährten Pollux ein. Damals, als sie noch jung und auf Drogen war, war er Stammespolizist und derjenige, der sie verhaftete und damit für 60 Jahre ins Gefängnis brachte.

60 Jahre, weil ein verbissener Richter alles gegen die junge Angeklagte in die Waagschale warf, was der Fall hergab. Tookie weiß also, wie schnell auch die eigene Herkunft gegen einen gewendet werden kann. Neben den schwarzen Amerikanern sind es vor allem die Indigenen, die überproportional oft hinter Gittern landen.

Glück hat sie, weil geduldige Mitmenschen dafür sorgen, dass sie früher entlassen wird. Und dann begegnet sie auch Pollux wieder, der seine eigene Schuld trägt, denn er hat zwar den Job als Polizist bald an den Nagel gehängt. Aber letztlich fühlt er sich dennoch schuldig daran, dass Tookies Leben so aus der Bahn geriet.

Der Mord an George Floyd

Und diese sehr persönliche Geschichte, die in Pollux’ langem Aufenthalt im Krankenhaus gipfelt, während Tookie die Tage draußen im Autos verbringt, weil sie es nicht aushält, zu Hause auf Nachrichten von Pollux zu warten, wird durch ausgesprochen reale Ereignisse gespiegelt. Denn dieses erste Corona-Jahr 2020 war auch das Jahr, in dem der Schwarze George Floyd in Minneapolis auf offener Straße von Polizisten umgebracht wurde – nur wenige Häuserblocks von „Birchbark Books“ entfernt.

Tookie und ihre Freunde erleben das alles mit – die Proteste, die von einer schwer bewaffneten Polizei niedergewalzt wurden. Die Auschreitungen, Plünderungen, brennenden Häuser. Die Stadt ist in hellem Aufruhr. Und auf einmal steht das Thema Rassismus wieder ganz oben in der Aufmerksamkeit. Wie tief sitzt das eigentlich? Und wie leben Menschen damit, die durch die Staatsgewalt so einfach gezeichnet und markiert und drangsaliert werden?

Das alles verdichtet sich in diesem Buch. Und am Ende wird eben auch klar, dass nicht nur die Menschen, die tatsächlich durch Hautfarbe und Herkunft markiert sind, ein Problem haben mit ihrem Platz in der Welt. Nicht ohne Grund gehörte Flora schon vorher zu den seltsam ruhelosen Amerikanern, die unbedingt einen indigenen Vorfahren in ihrem Stammbaum finden wollen und deshalb alles lesen, was „Birchbark Books“ dazu zu bieten hat.

Nur entpuppt sich Floras Geschichte eben ganz und gar nicht als die, die sich Flora gewünscht hat. Und Tookie muss entdecken, dass auch ihre eigene Familiengeschichte mit Floras Vorfahrin zu tun hat – auf jene traumatische Weise, die sich in den folgenden Generationen fortpflanzt und nie wirklich Ruhe gibt, bevor tatsächlich alles ausgesprochen wurde und die Geister ihre Ruhe finden.

Die Vergangenheit ruht nicht

So betrachtet, ist gerade Erdrichs Zugriff auf die Mythen und Weltvorstellungen der Natives ein sehr lebendiges literarisches Mittel, all die Dramen zu erzählen, die Menschen in ihr Schicksal und die Schicksale ihrer Mitmenschen verweben. Die Vergangenheit ruht nicht. Und sie wird zur Ausweglosigkeit, wenn niemand da ist, der vergeben kann und einen Ausweg zeigt. Dass es darum geht, lernt Tookie erst spät, nachdem sie in diesem seltsamen Jahr der Wunder Höhen und Tiefen durchlitten hat. Und auch gelernt hat, dass sie in ihrem Leben schon lange nicht mehr das Opfer ist. Dass sie für alles bezahlt hat und längst selbst in der Position ist, die richtigen Worte zu sprechen.

Und so seltsam das klingt: Es wirkt so vertraut, als könnte „Birchbark Books“ auch irgendwo in einer Leipziger Nebenstraße stehen. Und man könnte hingehen mit seiner ganzen Unzufriedenheit, weil einem gerade der richtige und notwendige Lesestoff fehlt. Und Tookie holt Buch um Buch aus dem Regal, das einen für die nächsten Wochen trösten kann, bis man wieder ein paar richtig gute Heimsuchungsbewältigungsbücher braucht.

Louise Erdrich „Jahr der Wunder“, Aufbau Verlag, Berlin 2023, 26 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar