Panikparadies ist natürlich auch Leipzig. Aber nicht nur. Es sind alle diese kleinen und großen Welten, in denen Menschen an ihre Grenzen kommen und nur zu bereit sind, völlig außer Rand und Band zu geraten. Panikparadies waren auch diese zwei, drei Corona-Jahre, die auch Eltern und ihre Kinder an die Grenzen des Kontrollierbaren gebracht haben. Auch Dichter-Väter wie Carl-Christian Elze.
Davon erzählt er gleich im ersten Kapitel: Mysophobia, der Angst vor Deck und Verunreinigung. In dem es eigentlich darum geht, wie ein kleiner Junge versucht, mit den ganzen Alarmmeldungen aus der frühen Corona-Zeit umzugehen, wo alle Kanäle voll waren mit Warnungen vor Ansteckungen und Schmierinfektionen. Ja nicht anfassen!
Andere Menschen meiden, auf jedes Anzeichen der Ansteckung achten. Angst vor einem Virus, das so unbarmherzig tödlich ist. Das überfordert selbst den studierten Vater, der ja eigentlich Naturwisschaftler ist und die Welt nur zu gern rational erklärt.
Aber unsere Vorstellungswelten sind nicht rational. Und wer sich erinnert, weiß, dass viele Menschen gerade in dieser Zeit völlig irrational reagierten – in die eine Richtung genauso wie in die andere. Vom Leugnen bis zur Panik war alles dabei. Aber wie entfaltete sich das in dem kleinen Kosmos der Familie, die ja erst recht aufs „Homeoffice“ verwiesen war? Draußen das unsichtbare Unheil, von dem sich nicht wirklich einschätzen ließ, wie gefährlich es war.
Drinnen die Eltern, die ihre Sorgen nicht mehr hinter reiner Vernunft verstecken können. Und das Kind, das jetzt auf einmal eine Phobie vor jeder Art Verunreinigung entwickelt. Und der Vater im Luftraum, in seiner eigenen Panik: Wie kann er diesem Kind helfen?
das system muss seine lieferketten retten
So intensiv hat bisher kein Dichter diese beklemmende Zeit und das Erleben der Eltern in Worte gefasst, die damit umgehen mussten, selbst im Grunde genauso hilflos wie die Kinder.
Aber sind wir nicht immer so hilflos? Gerade in den Sphären, in denen andere Menschen dafür sorgen, dass es immerfort irrational zugeht, weil Gier, Geiz und Größenwahn sie antreiben? Ein Großteil der Gedichte, die Elze in zehn Kapiteln versammelt hat, erzählen genau davon. Er weiß, dass der Wahnsinn Methode und einen Namen hat. Das zweite Kapitel (Caput II) beginnt er gleich mit einer fast kompletten Systembeschreibung.
Nur dass er mit „System“ nicht das meint, was deutsche Verschwörungstheoretiker in ihre Bärte murmeln, weil sie lieber finstere Kräfte vermuten, wo es um knallharte Profite geht. „das system muss seine lieferketten retten“.
Denn wer die Irrationalität der frühen Corona-Zeit verstehen will, wird nicht mit dem Finger auf „die Politik“ zeigen, sondern sehen, wer da tatsächlich geschont und gehätschelt werden sollte: „das system muss seine lieferketten retten / das system muss sein wachstum retten / das system muss seine investitionen retten / das system muss seinen cashflow retten …“ usw.
Elze liebt dies langen Reihen, in denen er – wie in einer Beschwörung – alles herauskitzelt, was der erste Vers an Möglichkeiten bietet. Ihm werden die Dinge selbst klarer, wenn er schreibt. Jeden Tag schreibt er.
Manchmal voller Trauer, wenn er dem Sterben des Familienhundes zuschaut. Manchmal voller Wärme, wenn er das Kind zu Bett bringt: „er hebt das kind hoch, hält es in die luft / winzig und wunderschön wie es ist“. Nur um dann gleich wieder einen dieser fast automatisch aufploppenden Gedanken hinterher zu schieben: „und spricht vom ende des menschen“. Im nächste Gedicht dann gar schon beginnend mit „die angst kippt ihre eimer“ aus.
Damals, als es noch Menschen gab
Man fühlt sich mit ihm direkt zurückversetzt in alle diese bangen Monate, die Zeit von Ungewissheit, Hoffen und Lakonie. Denn dass es nicht nur um dieses eine Virus geht, das da in Windeseile um die Erde flog (natürlich in vollbesetzten Flugzeugen, wie denn sonst?), das ist dem studierten Biologen nur zu gewärtig. Denn dahinter steckt der systematische Irrsinn einer Menschenwelt, die sich von Gewinnstreben und Machtgelüsten treiben lässt und nicht fähig ist, in diesem Treiben innezuhalten, das Richtige und das Vernünftige zu tun.
Im Jahr 2077 lässt er gar einen „melancholischen Cyborg“ darüber sinnieren, wie das eigentlich war mit den Gefühlen, damals, als es noch Menschen gab.
Von denen ein paar sich sorgten wegen des ausbleibenden Schnees, der Dürre, der „hassmaschinen / die euch so lang wie freunde schienen …“ und dann, wenn sich die Menschen dort sammeln, anfangen, Schlamm zu produzieren. Wobei so mancher Text von Elze mit dem Maschinenmotiv spielt.
Denn wenn Menschen sich zu Teilen einer wuchernden Maschine entwickeln, beginnen sie auch sich so zu verhalten. Dinge zu produzieren, nur weil es die Serie so verlangt. Getrieben von einer bis ins Unsinnige beschleunigten Maschine, die er in „rhyme machine kann nicht mehr stoppen“ parodiert.
Zumindest weiß er noch, dass alle diese auf Krawall Geölten innendrin in ihren Köpfen noch kleine Kinder sind, vielleicht sogar liebenswert: „komm in den hasserfüllten mann und schau: / der löffel gold, der in den windeln steckt / der schnuller eitelkeit …“
komm in den angstverstopften kiez
Denn genau holt sie das System ab: bei ihren ungelebten, unausgesprochenen Gefühlen, ihrem, Nicht-Erwachsen-Werden-Wollen. Dass dem dann auch noch ein paar deftige Trump-Gedichte folgen, überrascht nicht. Der Man ist der Typ der Zeit, der quengelde, von kindischem Geltungsdrang Getriebene, dem egal ist, was er anrichtet. Scheinbar ein einsamer Typ.
Aber bei genauerem Hinschauen laufen diese Typen in Dutzenden herum, nur zu bereit, die Welt in einen Sandkasten der balgenden Bälger zu verwandeln. Auch dieses Leipzig, von dem Elze besonders den Leipziger Osten genauer betrachtet. Und ihm damit ein Denkmal setzt.
Denn solche Gedichte über die Eisenbahnstraße, das Rabet, die ermordete Nicky und Neustadt hat noch keiner geschrieben. Direkt mit Zitaten aus dem wortklingelnden Alltag und dem politischen Tanz ums goldene Kalb. „komm in den angstverstopften kiez und schau“, zitiert er Stefan George und damit auch indirekt den Leipziger Dichterkollegen Thomas Böhme.
Natürlich erwähnt er die Messer,welche die gastweise einfliegenden Medien hier so gern als Angstmacher entdecken. Um dann zu zeigen, was einer sieht, der hier wirklich wohnt. „vergiss auch diese früchteorgien nicht / den zuckerknall in aufgetürmten pyramiden / lebst nicht viel kürzer hier auf eisenschienen / lebst auch nicht länger, pissgesicht!“
Das ist dann deutlich, wird aber die zuständigen Schwarzmaler nicht erreichen. Denn die leben von der Panik und vom Panikmachen. Für die ist eh alles gleich und markiert. Wer die Eisenbahnstraße zur gefährlichsten street in Deutschland erklärt, braucht nichts zu sehen und zu entdecken. Für den ist eh alles gleich.
Nur Menschen wie Elze macht das wütend und deutlich wütender. Denn als dichtender Vater spürt er, was das anrichtet, wie es bis in den Familienalltag hineinwettert und wetterleuchtet, diese künstliche geschürte Unruhe, das Gezeter und Geschrei.
notaufnahme mit herz
Und dabei kann doch schon eine fünftägige Krankheit des Kindes den Vater in die Verzweiflung treiben. Hölle auf Erden. Nur eben real. Die reale Angst, die einen packt, wenn es wirklich um Liebe und Leben geht. Das Mitfiebern, wenn der Junge dann in der Thomaskirche vorsingen darf, weil er sich innigst wünscht, ein Thomaner zu werden. Und dann die Frau, Mutter und Liebste – auf einmal „notaufnahme mit herz“.
So intensiv hat jedenfalls Carl-Christian Elze seine Leser bisher noch nicht an seinem Alltag, seinem Leben und Mitleiden teilhaben zu lassen. Wissend, wie alles Menschsein fortwährend am seidene Faden hängt. So wie 2017, als der Asteroid 2012 TC4 nur „44.000 km an eden vorbei“ raste. Also die Erde nicht traf, dieses Paradies, von dem eine Menge Menschen nicht begriffen haben, dass es das Paradies ist.
Eden ist aber auch der Ort der Kindheit, an den man zwar zurückkehren kann. Aber in der Regel findet man dort nur noch „einen teppich von fliegen im zimmer“. So gesehen geht es die ganze Zeit um ein Behaustsein und einen sicheren Ort in einer Welt, die völlig entgeistert und entfesselt zu sein scheint. Irrelaufend. Als wären sie alle wie aufgezogen und besessen von der Jagd nach irgendwas. „Paläste gefüllt mit wörtern und ängsten / Eine sprache, die die hölle erfindet, möbliert / Abermillionen fiktionen: nationen, religionen, institutionen, geld …“
Das Vergängliche
Da hilft es nichts, wenn man sich absondert. Die Welt ist ja voll davon. Von diesem Gelärme, diesem Rechthabenwollen, dieser Selbstgerechtigeit und diesem verlogenen Bild der Einigkeit: „nirgends einigkeit / einzig der wunsch und alle / kriege des wünschens“. Das Nimmersatte, nimmer zu Sättigende, das nicht Ruhe gibt und immer mehr will. Man ahnt, wie er da am Schreibtisch verzweifelt versucht, diesen Lärm wegzudrücken.
Oder auch auszudrücken, ohne heftig zu werden. Lauschend auf die Nacht und die Atemzüge der Kinder. Denn er weiß ja – und hat selten so intensiv darüber geschrieben – wie sehr einen das Nächste am heftigsten mitreißt und spüren lässt, dass genau das das Leben ist: das Mitfürchten, Mitfühlen und das Gewahrwerden, wie vergänglich alles ist. Auch das eigene Leben.
Da wünscht er sich so sehr, das Kind solle keine Angst haben. Und dann hat es sie doch. Man kann es nicht bewahren vor dieser Welt mit ihren irrationalen Ängsten und der Panik, die überall hervorkriecht, weil Menschen nicht wahrhaben wollen, dass es die ganze Zeit um ihr Leben geht. Nicht um das der anderen. So wie in „hungrige tänze“, wo die Verblüffung den Dichter beim Einatmen der Eisluft geradezu schockt: „mein herz / eine kugel / voller fruchtsaft / die zittert: panik“.
Bis dahin kommen die Meisten noch. Ohne zu merken: Ja, so schockt einen das Leben. Man muss es aushalten wollen und wahrnehmen. Die letzte Zeile also: „paradies“.
Wer das nicht mehr spürt – und Elze weiß das als Dichter nur zu gut – ist tot.
Carl-Christian Elze: „panikparadies“, Verlagshaus Berlin, Berlin 2023, 22,90 Euro.
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