Als Wladimir Putin am 24. Februar 2022 seine Truppen in die Ukraine einrücken ließ, war der Aufschrei groß. Aus etlichen Ecken des politischen Betriebes erschallte der scheinbar erschrockene Ausruf: „Er hat uns alle getäuscht!“ Als hätte das keiner ahnen können. Außer die, die es im Nachhinein sowieso schon immer besser gewusst haben und nun nach Sündenböcken suchten.

Denn jetzt begann noch ein anderes Spiel: Eine freundliche Erpressung mit den Gaslieferungen aus Russland.

Denn bevor im September die Leitungen von Nord Stream 1 und 2 in eine Nacht-und-Nebel-Aktion gesprengt wurden, wurden im Juli 2022 die Gaslieferungen über Nord Stream 1 von Gazprom unterbrochen und im August völlig eingestellt. Das Genehmigungsverfahren zur Inbetriebnahme von Nord Stream 2 hatte Bundeskanzler Olaf Scholz schon im Februar gestoppt, als der Aufmarsch der russischen Armee an der ukrainischen Grenze unübersehbar war.

Und welch ein Gezeter und hektisches Agieren dann ausbrach, als dann auf einmal die Angst vor einem kalten Winter umging, dürften die Meisten noch in Erinnerung haben. Der kalte Winter blieb aus. Deutschland kaufte zu horrenden Preisen Gas aus anderen Quellen auf und brachte endlich den Bau von eigenen Terminals zur Anlieferung von Flüssiggas in Gang. Binnen Monaten schaffte die Bundesrepublik, was vorher jahrzehntelang nicht möglich schien.

Gaspolitik mit Erpresserpotenzial

Aber manchmal sitzen die Bremsen in den Köpfen und spielen seltsame Netzwerke eine Rolle, wenn ein Land wie Deutschland sich so fatal in enorme Abhängigkeiten begibt und einen Kreml-Herrscher im Glauben bestärkt, mit Gaslieferungen seit Deutschland erpressbar und könnte die westliche Gemeinschaft problemlos gespalten und zum Stillhalten gezwungen werden. Ein Glauben, der keinesfalls aus dem Nichts kommt.

Denn genau darin hat deutsche Politik den russischen Präsidenten über 20 Jahre lang bestärkt.

Und dabei spielt das Netzwerk um den einstigen Bundeskanzler Gerhard Schröder eine ganz zentrale Rolle, wie die beiden FAZ-Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner in diesem Buch fakten- und quellenreich aufblättern. Wobei sie es nicht nur bei Gerhard Schröder und seinen Getreuen aus der SPD-Spitze belassen.

Denn Politiker aus anderen Parteien – etwa aus der CDU oder der CSU – waren nicht weniger emsig darin, die Beziehungen zu Russland schönzureden, sich selbst in moskaunahen Stiftungen und Vereinen zu engagieren und immer wieder nach Moskau zu reisen, um für lukrative Handelsbeziehungen zu werben.

Dass Deutschland zu Beginn des Jahres 2022 so abhängig von russischen Gaslieferungen war, hat eine Vorgeschichte. Eine, die von der Verführbarkeit deutscher Politiker erzählt, die dem Glanz von Geld, Orden und Titeln nicht widerstehen konnten und die Manipulationstechniken eines Mannes, der sein Handwerk beim KGB gelernt hat, nicht durchschauen konnten oder wollten.

Allen voran Gerhard Schröder, der auch weit über das Ende seiner Kanzlerschaft im Jahr 2005 hinaus seinen Einfluss auf die Bundes-SPD bewahren konnte.

Der nette Herrscher im Kreml

Bingener und Wehner erzählen detailliert, wie der niedersächsische Landesverband der SPD zur Machtbasis für Schröder wurde und einige seiner engsten Mitstreiter auch nach der Wahlniederlage 2005 in Spitzenpositionen verblieben. Und wie sie in den Großen Koalitionen unter Angela Merkel weiterhin Wirtschaftspolitik im Sinne Schröders und einiger in Niedersachsen heimischer Konzerne betrieben.

Und am Ende auch der russischen Gazprom, die von Wladimir Putin zu einer der wirkmächtigsten Waffen umgebaut worden war, mit der er Einfluss auf westliche Märkte und Gesellschaften nehmen konnte.

Sie zeigen auch, dass das imperiale Denken Putins ganz und gar nicht erst 2022 zum Ausbruch kam, sondern sein Handeln als neuer russischer Präsident von Anfang an bestimmte. Ein Denken, in dem auch das heute so gern diskutierte Bild einer „neuen Weltordnung“ von Anfang an sichtbar war.

Doch augenscheinlich machten sich gerade deutsche Politiker darüber immer wieder Illusionen, ignorierten die Warnungen aus Osteuropa und setzten – wie Frank-Walter Steinmeier – auch dann noch auf Annäherung und Verständnis, als die deutsche Außenpolitik längst hätte klare Genzen ziehen müssen.

Doch die SPD-Genossen waren ja nicht die einzigen, die sich ihre Sicht auf das Putinsche Russland rosig malten und immer wieder besänftigende Worte fanden, wenn Russland militärisch eingriff – etwa 2008 im (durch Moskau initiierten) Südossetien-Konflikt oder 2015 beim brutalen Vorgehen russischer Kräfte im Syrien-Konflikt.

Ganz zu schweigen vom Einmarsch der „grünen Männchen“ auf der Krim 2014, nachdem die Ukrainer ihren russlandfreundlichen Präsidenten aus dem Amt getrieben hatten, und der folgenden (verdeckten) Annexion der Gebiete in der Ostukraine.

Gesteigerte Dosis

Es war auch wie ein langsames Steigern der Giftdosis. Wie viel waren eigentlich die Politiker Westeuropas und insbesondere Deutschlands bereit zu schlucken, bevor sie aufschrien? Oder würden sie das alles weiter dulden – das praktische Verbot von Bürgerrechtsinitiativen und die Abschaffung freier Medien, das Töten von kritischen Journalistinnen und Regimekritikern oder gar die Anschläge gegen geflüchtete Dissidenten?

Das Schema war in den Medien ja über Jahr zu verfolgen: ein kurzer Aufschrei, ein bisschen verbale Empörung. Aber dann ging es munter weiter mit den Dienstreisen, Annäherungsgesprächen und dem Werben für die deutsche Industrie, die in Russland gern Geschäfte machen wollte. Eine ziemlich unüberschaubare Melange, bei der oft auch nicht klar war, ob die Akteure nun aus der Position einer der russischen Lobbyvereine agierten oder aus eigener politischer Überzeugung.

Bingener und Wehner beleuchten aber auch das Vorgehen der russischen Seite und wie Putin gerade den Gaskonzern Gazprom dazu instrumentalisierte, Einfluss zu nehmen auf insbesondere deutsche Befindlichkeiten. Aber auch auf große deutsche Konzerne, wohl wissend, dass ein Land wie Deutschland, das 2005 den konsequenten Weg der Energiewende verließ, mit der sogenannten Übergangstechnologie Gas erpressbar gemacht werden konnte.

Und das erst recht, als die lange Zeit als oberste Grenze geltenden 30 Prozent Erdgas aus Russland durch die Liberalisierung des europäischen Gasmarktes ausgehebelt wurde – und das nicht, weil diese Liberalisierung erst einmal schlecht gewesen wäre. Aber ein Staatskonzern Gazprom interessierte das überhaupt nicht. Es weitete seine Geschäftsfelder immer weiter aus, sponserte dann auch noch den Bundesligisten Schalke und kaufte sich große Gasspeicher in Friesland, die dann im Herbst 2021 – erstaunlicherweise – leer waren.

Russland durch die rosa Brille

Dass das auch schon zur Kriegsvorbereitung Putins gehörte, spürten dann alle Bundesbürger 2022, als Wirtschaftsminister Robert Habeck eine hektische Betriebsamkeit entwickeln musste, das fehlende Gas aus Russland durch Käufe in aller Welt zu ersetzen, den Gasmarkt damit letztlich auch wieder zu diversifizieren, wie das aus Sicherheitsgründen vorher über Jahrzehnte Standard war.

Das Jahr 2022 zeigte eindeutig, wie die deutsche Außenpolitik mit ihrer Strategie „Wandel durch Handel“ gescheitert war. Man hatte Russland im Grunde zuallererst durch die Brille deutscher Konzerne betrachtet, die dort ihre Geschäfte machen wollten und denen die Menschenrechte in Russland und die Souveränität der Staaten ringsum herzlich egal waren.

Man kann es nicht nur auf Gerhard Schröder und sein Netzwerk allein münzen, dass Deutschland und seine Außenpolitik so blind waren für die Aggressivität des Staates, den Putin mit seiner Inthronisierung geschaffen hat. Auch wenn dieses Netzwerk über die Jahre fleißig war darin, Schönwetter für Moskau zu machen, eine handzahme Außenpolitik zu installieren und immer wieder deutsche Wirtschaftsinteressen zu vertreten und zu befördern.

Und gleichzeitig die vitalen Interessen von Ländern wie Polen oder der Ukraine einfach zu ignorieren. Denn dass Nord Stream 1 ab 2005 verwirklicht wurde, hatte unübersehbar vor allem geopolitische Gründe, nur am Rande auch finanzielle, um die Durchleitungsgebühren zu sparen. Aber in erster Linie sollten Länder wie Polen und die Ukraine bei der Weiterleitung des russischen Erdgases ausgeschaltet werden.

Bei der Ukraine hieß das eindeutig: Das widerspenstige Land sollte erpressbar gehalten werden. Denn wenn das Gas unter der Ostsee Richtung Deutschland floss, konnte man die Leitung über die Ukraine jederzeit abdrosseln.

Parteiübergreifender Konsens

Natürlich wundern sich Bingener und Wehner darüber, warum die deutsche Außenpolitik gegenüber Russland so lange so zahm und windelweich war und sogar stellenweise dazu neigte, lieber den Amerikanern die Gefolgschaft aufzusagen, als wenn eine friedliche Politik nur mit Russland zu machen wäre und die Nato einfach nur eine Zumutung.

Reihenweise purzelten ja im Frühjahr 2022 die alten, lieb gewordenen Parolen, entschuldigte sich Frank-Walter Steinmeier geradezu für seine Fehler in der Außenpolitik.

Was freilich nicht erklärt, warum auch Angela Merkel als Bundeskanzlerin so lange still hielt, obwohl sie dem russischen Präsidenten deutlich distanzierter gegenüber stand und seine imperialen Praktiken durchaus sah. Da spielen dann nicht nur die starken Abhängigkeiten vom Koalitionspartner SPD eine Rolle.

Konfrontation war nie Merkels Stil. Und dass auch eine deutlich härtere Gangart gegenüber Moskau möglich war, das bewies Heiko Maaß als Außenminister, der nicht zur Schröder-Connection gehörte und deshalb auch unabhängiger agieren konnte.

Am Ende bilanzieren Bingener und Weghmner, dass es eigentlich nur wenige Parteien waren, die den russlandfreundlichen Weg der deutschen Politik nicht mittrugen. Teilweise getrieben von einem politischen Pragmatismus, der eher die institutionalisierte Angst davor ist, bei den Wählern anzuecken und Unmut zu ernten, wie es gerade wieder den Grünen passiert, welche die Bundesbürger genau an dieser Stelle wieder verärgern im besten Sinne des Wortes.

Denn hinter dem schönen Frieden mit Russland stand auch immer der bürgerliche Wunsch, am eigenen Lebensstil möge sich nichts ändern und fossile Energie möge billig bleiben. Was man immer auch mit der Vorstellung verband, russisches Erdgas sei besonders billig. Eine lllusion, die auch jene Konzerne nährten, die mit russischem Erdgas Geschäfte machten. Wohl wissend, dass es dabei eigentlich nur um die Bereicherung der russischen Staatselite ging.

Desinformation und Diversion

Aber zur Geschichte gehört auch – wie die beiden Autoren sehr detailliert beschreiben – die konzertierte Manipulation durch Moskau. Mit geheimdienstlichen Mitteln genauso wie mit Propaganda über eigene Sender wie RT und Sputnik, Desinformation und Fake-News-Kampagnen in den sozialen Netzwerken, aber auch direkter Wahlkampfbeeinflussung nicht nur in den USA.

Hunderte Millionen Euro hat Putins Regierung in den vergangenen Jahren in diesen Apparat der Desinformation, aber auch der Angriffe auf sensible Internetstrukturen investiert. Angriffe, die den Bundestag genauso trafen wie große Unternehmen und wichtige Infrastrukturen.

Und das alles war seit Jahren sichtbar und bekannt. Jeder einzelne Vorfall hätte zu geharnischten politischen Protesten führen müssen und zu einem Hinterfragen, ob die Beziehungen zu diesem machtlüsternen Moskau tatsächlich so gut waren, wie es sich führende Politiker die ganze Zeit einredeten.

„Dass Deutschland auf diese aggressive Politik lange nur mit Angeboten der Kooperation und Diplomatie reagiert hat, hat den Kreml ermuntert, weiter aggressiv vorzugehen“, stellen Bingener und Wehner fest. „Dafür, dass Deutschland blind war gegenüber dieser Bedrohung, die für die Ukraine in einem schrecklichen Krieg endete, trägt Schröders Moskau-Connection eine bleibende Verantwortung.“

Dass Gerhard Schröder seine Rolle und die „Freundschaft“ mit Wladimir Putin dabei grenzenlos überschätzte, machte dann 2022 seine völlig ergebnislose Reise nach Moskau deutlich, mit der er eigentlich Putin zu Friedensgesprächen bewegen wollte.

Verführbarkeit und Manipulation

Aber gerade die Beschreibung der von Putin bewusst angezettelten „Freundschaft“ mit Schröder macht letztlich klar, wie sehr sich der Altbundeskanzler und viele in seinem Umfeld haben zum Instrument russischer Interessen machen lassen. Ein sehr ernüchterndes Buch, wenn man es recht betrachtet. Denn es erzählt eben auch davon, wie leicht Menschen – selbst solche, denen man ein riesiges Ego zuschreibt – manipulieren lassen, wenn dabei Profis zugange sind, die genau das gelernt haben.

Und wie dadurch Abhängigkeiten entstehen, welche die Manipulierten möglicherweise nicht mehr durchschauen. Und wenn doch, kommen sie aus dem emotionalen Dilemma nicht mehr heraus.

Denn wie kann einer böse sein, wenn man mit ihm so oft ganze Nächte in Moskau oder Hannover durchgequatscht und getrunken hat? Der zur Geburtstagsfeier kam, als wäre der Ex-Kanzler noch immer eine politische Größe und diese Freundschaft geradezu unsterblich und durch nichts zu zerstören?

Was natürlich auch von der tiefen Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung erzählt, die hier augenscheinlich auch ein machtbewusster SPD-Politiker erfüllt sehen wollte. Und natürlich gleichzeitig von der umfassenden Kenntnis des russischen Geheimdienstes über all die netten Deutschen, die man im Lauf der Jahre mit Liebe, Geld und Ehren – und ein paar überschwänglichen Umarmungen – geködert hat.

Reinhard Bingener, Markus Wehner „Die Moskau-Connection“, C. H.Beck, München 2023, 18 Euro.

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