Die ersten Monate des Jahres 2020 waren einschneidend. Zuerst denkt man dabei natürlich an die Corona-Pandemie, doch folgenreich waren sie insbesondere auch für das, was man „linke Szene“ nennt – vor allem für jene in Leipzig. Anfang 2020 wurde öffentlich bekannt, dass ein Mann aus der linken Szene auf einem linken Festival heimlich massenhaft intime Videos angefertigt und diese später verbreitet hat. Nun ist ein Buch erschienen, das sich mit den Vorfällen auseinandersetzt.

Was war passiert? Eine männliche Person, die im Buch „Piss on Patriarchy“ lediglich als H. bezeichnet wird, hat 2016 und 2018 heimlich Videos auf dem linken Festival „Monis Rache“ aufgenommen beziehungsweise mitgenommen und diese später im Internet verbreitet und verkauft. Die Kameras waren auf mobilen Toiletten installiert und H. gehörte zur Crew, die das Festival organisierte.

Die heimlich gefilmten Personen kamen natürlich nicht nur aus Leipzig, doch sorgten die Vorfälle hier für besondere Aufmerksamkeit: H. war in der linken Szene der Stadt verankert und wohnte hier in einem Hausprojekt. Kurz nach der Veröffentlichung der Dokumentation verließ er Leipzig.

Herausgegeben wurde das Buch, das in den folgenden Jahren entstanden ist, von der „Gruppe Mora“. Dabei handelt es sich um Personen, die Teil der Betroffenenvernetzung waren, die nach Bekanntwerden der Vorfälle stattfand.

Betroffene schreiben

Exakt das ist auch das zentrale Anliegen dieses Buches: Betroffenen eine Stimme zu geben beziehungsweise das Geschehen und damit verknüpfte Fragestellungen aus deren Perspektiven zu analysieren und zu kommentieren. Alle sechs Kapitel bestehen deshalb aus zwei Teilen: einem Fließtext der Herausgeber*innen und einer Dokumentation von Blogbeiträgen und Stellungnahmen verschiedenster Art.

Ist das alles lesenswert? Ist das alles interessant? Stellen sich solche Fragen überhaupt, wenn sich Betroffene beziehungsweise Opfer von sexualisierter Gewalt zu Wort melden? Wer geschliffene Formulierungen, eine spannende Dramaturgie oder zahlreiche Verweise auf Schriften von Feminist*innen erwartet, wird vermutlich enttäuscht. Aber das alles scheint in diesem konkreten Fall auch gar nicht wichtig.

Die Stärke dieses Buches ist zum einen die wirklich umfangreiche Materialsammlung zu den Vorfällen, inklusive einer sehr detaillierten Chronik, und zum anderen der Blick auf Themen und Fragestellungen, die damit im Zusammenhang stehen.

Sehr ausführlich widmet sich die „Gruppe mora“ beispielsweise der Frage, wie das, was passiert ist, eigentlich benannt werden sollte: als Form sexualisierter Gewalt. Eine Form sexualisierter Gewalt, die aus Sicht der Autor*innen häufig unterschätzt und verharmlost wird.

Mit der Ungewissheit leben

Was die sexualisierte Gewalt bei „Monis Rache“ so besonders macht, ist, dass potenziell hunderte bis tausende Personen davon betroffen sind, aber fast niemand wohl jemals erfahren wird, ob es Videoaufnahmen von der eigenen Person gab und ob diese verbreitet beziehungsweise veröffentlicht wurden.

Dass die Autor*innen H. für seine Taten kritisieren, ist klar. Kritik gibt es aber auch an der Journalistin, die schon lange vor der Veröffentlichung der Doku von den Taten wusste und dieses Wissen weitgehend für sich selbst behielt, an der Festival-Leitung und an Reaktionen von linken Männern. Desinteresse oder Mackertum wie im Falle eines Angriffs auf eine Person, die fälschlicherweise für H. gehalten wurde, seien weit verbreitet.

Immerhin gibt es auch Entwicklungen, die die Autor*innen als positiv bewerten: die Vernetzung von Betroffenen, die gegenseitige Unterstützung und ein möglicherweise gestiegenes Bewusstsein für Sexismus in der linken Szene beispielsweise. Zumindest scheint die Anzahl von Outcalls, also dem Öffentlichmachen von sexualisierter Gewalt, in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen zu sein.

Im Rahmen der Leipziger Buchmesse findet am Mittwoch, dem 26. April, um 20 Uhr eine Lesung mit Vertreter/-innen der „Gruppe mora“ statt. Veranstaltungsort ist das „Interim“ in der Demmeringstraße 32.

Gruppe Mora, Piss on Patriarchy, edition assemblage, 424 Seiten, 15 Euro

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