Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist der erste Krieg, der die Deutschen tatsächlich wieder berührt und sie zu der Frage an sich selbst bringt: Wie verhalte ich mich dazu? Fast scheint es, als lägen da Jahrzehnte des Friedens hinter uns. Aber dem war nie so. Kaum einer weiß das besser als Knut Mueller, der als Kriegsreporter fast 20 Jahre lang überall unterwegs war, wo menschliche Hybris ihre Schrecken entfaltete.
Und so erscheint sein Buch mitten in einer Zeit, in der der Krieg wieder in deutsche Wohnstuben flimmert, medial aufbereitet, nah und trotzdem fern. Denn von den Orten, wo es wirklich schlimm zugeht, berichtet kaum einer. Dafür sorgen schon die Militärstäbe, die längst gelernt haben, dass das Bild vom Krieg, wie es jenseits der Kampfzone wahrgenommen wird, mitentscheidend ist über Erfolg und Niederlage.
Und darüber, wie die Menschen daheim den Krieg sehen, ihn unterstützen oder für inakzeptabel halten. Oder ob das Leiden der Menschen überhaupt Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft erweckt. Darüber entscheiden auch die Reportagen mit, die in den Medien erscheinen.
Mit Rumänien fing alles an
Und Knut Mueller hat an vielen dieser Reportagen als Kriegsfotograf mitgewirkt. Dabei war ihm das als in Halle geborener Kunststudent nicht in die Wiege gelegt. In der DDR gab es keine Magazine, die das Genre der Kriegsfotografie pflegten. Deshalb entsandte sie auch keine Kriegsreporter aus in die Welt. An der Hochschule Burg Giebichenstein konnte Mueller in den 1970er Jahren studieren. Er war Mitglied der Fachgruppe Fotografie im Verein Bildender Künstler der DDR.
Aber 1986 hatte er vom verschlossenen Land die Nase voll und stellte einen Ausreiseantrag, der ihn tatsächlich in den Westen brachte, wo er sich schon bald eine Existenz als Brennpunktfotograf aufbaute.
Was ihn als freien Fotografen und Mitgründer der Fotogruppe MAGMA auch in den Fokus der großen Magazine rückte. Und so war es nicht unbedingt ein Zufall, dass die „Stern“-Redaktion im Dezember 1989 bei ihm anrief, als sie dringend einen Fotografen für die Ereignisse in Rumänien brauchte. Diese Reise in ein Land, in dem die Revolution nicht friedlich verlief, war dann der Auftakt seiner Zeit als Kriegsfotograf, die ihn an all jene Orte führte, an denen der Krieg Menschen zu Bestien macht, Länder verwüstete und Gräberfelder der unschuldig Getöteten hinterließ.
In den 1990er Jahren waren es dann die vielen Kriege und Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, die Mueller zu einem der gefragten Kriegsfotografen bei den großen Magazinen und Agenturen machten. In seinem Buch erzählt er freilich nicht alle Geschichten und auch nicht seine Lebensgeschichte, sondern greift nur einige Erlebnisse heraus, die für gewöhnlich in keinem Magazinbeitrag erscheinen.
Er erzählt von Reporterkollegen, die beim Einsatz ums Leben kamen. Er erzählt von den Helfern und Dolmetschern vor Ort, ohne die die Arbeit des Fotografen im Kriegsgebiet überhaupt nicht möglich ist. Und die sich genauso in Gefahr begeben – und manchmal einfach verschwinden. Vom Krieg verschlungen, an irgendwelchen Checkpoints abgefangen.
Wer sagt die Wahrheit?
Mueller erzählt, wie Kriegsfotografen ihr Kontakte knüpfen, um überhaupt an die Orte zu kommen, wo die dramatischen Ereignisse passieren – ins belagerte Sarajevo etwa oder in das Gebiet von Tora-Bora, wo Osama bin Laden jahrelang Unterschlupf fand, bevor er ins benachbarte Pakistan floh. „Wie Osama bin Laden entkam“, benennt Mueller diese Geschichte, in der er jene Stammesführer kennenlernt, die sich möglicherweise nur zu gern das Kopfgeld verdient hätten, das auf Bin Laden ausgesetzt war.
Eine Geschichte, die Mueller lieber in der Schwebe lässt. Denn ob ihm die Befragten vor Ort die Wahrheit sagten, kann er nicht festlegen. Auch hier gilt: Die Wahrheit stirbt zuerst. Oder genauer: Sie wird zum Spielball der interessierten Parteien.
Mehrfach reiste er auch in den Folgejahren nach Afghanistan und sah, wie dieser „Krieg gegen den Terror“ schon von Anfang an schiefging. Immer wieder blendet er hier die Geschichte des Desasters ein, das die Briten schon im 19. Jahrhundert erlebten. Auf wen kann man sich im Krieg überhaupt noch verlassen? Wer holt einen raus, wenn die Sache schiefgeht – und sei es auch nur ein verdorbener Magen? Was wird aus den Helden und Heldinnen, die man fotografiert und ganz groß ins Magazin gebracht hat? Die Prinzessin Starklin Abdi Arush etwa oder die afghanische Polizistin Malalei Kakar, die auch auf dem Cover des Buches zu sehen ist.
Dass sein Buch auch noch eine ganz andere Klammer hat, macht Mueller mit einer eigenen Familiengeschichte deutlich: „Egbert, der Flieger“. Es ist die Geschichte seines Vaters, der als Pilot im Zweiten Weltkrieg tatsächlich im Einsatz war, aber über die ihn wirklich traumatisierenden Erlebnisse erst lange Zeit später sprechen konnte, bruchstückhaft, sodass der Sohn sich das Erlebte regelrecht zusammensetzen musste. Und damit auch spürt, wie die Erlebnisse der Menschen im Krieg nachwirken.
Wenn der Krieg vorbei ist, ist er nicht vorbei. Und er stellt alle, die auf irgendeine Weise in das Töten verwickelt waren, ein Leben lang vor aufwühlende moralische Fragen.
Keine Heldengeschichten
Fragen, die durchaus denen des Kriegsfotografen ähneln, der sich natürlich auch verantwortlich fühlt, wenn Menschen, die ihn bei seinen Einsätzen begleitet haben, einfach verschwinden. Gibt es einen Unterschied zwischen dem, was tatsächlich im Krieg eingesetzte Soldaten erleben, und dem, was Kriegsreporter auf sich nehmen?
Was Mueller nicht macht, ist die Arbeit des Kriegsreporters als Heldengeschichte zu erzählen. Nichts ist tödlicher, als diesen Job tatsächlich als Heldentat zu verstehen. Dann begeht man garantiert Fehler, die nicht mehr gu zumachen sind. Oder wird leichtsinnig und damit selbst zum Ziel von Angriffen. Was auch Mueller nicht erspart blieb. In einigen Situationen war es auch für ihn denkbar knapp. Und dass die Arbeit als „embedded journalist“ auch nicht gerade Spaß macht, erzählt er ebenso.
Dabei warten die Agenturen und Magazine doch auf die Bilder, die den Krieg erzählen. Möglichst nah dran, einmalig, aus ungewohnter Perspektive. Der Druck auf die Fotografen, wirklich dicht heranzugehen an das Geschehen, ist gewaltig. Denn die authentischen Bilder sind oft nicht die, die die Redakteure dann ins Blatt heben wollen. In Aserbaidschan endet ein Ausflug in ein ehemaliges Edölfördergebiet fast tragisch, weil Mueller die Warnungen, den Damm nicht zu verlassen, nicht beachtet.
Oft sind es gerade die rohstoffreichen Regionen der Erde, an denen der Krieg um den Zugriff auf diese Schätze besonders blutig und rücksichtslos ausgetragen wird. Die frappierenden Bilder von der Zerstörung der Erde gehören zum Bild der Kriege weltweit, in denen es eben nicht nur um Religion und Macht geht, sondern immer auch um den Zugriff auf Ressourcen.
Der Hunger nach sensationellen Bildern
Aber wie sonst kommt man zu Bildern, die dann die Doppelseiten in Magazinen füllen? Kommt es öfter vor, dass er für ein Foto sein Leben riskiert, muss sich Mueller in Aserbaidschan fragen lassen. Und man merkt, dass ihn die Frage all die Jahre begleitet hat. Und dass sich gerade jene Szenen besonders in seiner Erinnerung festgesetzt haben, in denen er aus verschiedenen Gründen tatsächlich hautnah an der Gefahr war.
Natürlich erklären Kriegsfotos nie, wie Kriege zustande kommen. Sie zeigen bestenfalls, was Kriege anrichten. Und wie Menschen auch unter den schlimmsten Bedingungen versuchen, ihr Leben irgendwie immer wieder neu zu organisieren. In Ruinen, in zerstörten Dörfern, in primitiven Fluchtunterkünften.
Aber Muellers Buch ist keine Bilanz. Die vielleicht nach so einem Leben, immerfort unterwegs in den gefährlichsten Regionen der Erde, nicht zu ziehen ist. Er dramatisiert auch nicht. Er erzählt einfach, was geschehen ist. Und manchmal tauchen dann die Fragen nach der eigenen Rolle und der Verantwortung auf.
Denn der Blick auf die Ereignisse wird durch den Hunger der Medien nach „starken Geschichten“ geprägt. Die man in Krisen- und Kriegsgebieten in ihrer ganzen Wucht erleben kann: „Weil dort die Emotionen der Menschen offener liegen. Emotionen und Befindlichkeiten wie: Verzweiflung, Angst, Trauer, Wut – aber auch Mitgefühl und Hoffnung.“ Stoff für starke Geschichten.
Nur dass der Kriegsreporter in der Regel wieder abreisen kann und seinen Aufenthalt entweder über die verkauften Bilder finanziert oder von einem großen Magazin direkt entsandt wurde.
Wer mach die Kriege sichtbar?
Seit 2008 lebt Knut Mueller wieder in Halle. 2011 hat er seinen Erzählungsband „Afghanischer Traum“ veröffentlicht. Die Arbeit als Kriegsreporter müssen heute jüngere Kollegen machen. Stoff gibt es in dieser Hinsicht weit mehr als genug. Der Ukraine-Krieg ist nicht der einzige, welcher derzeit tobt. Doch die meisten Kriege bleiben aus europäischer Sicht unter dem Radar.
Sie verschwinden zum Beispiel auch, wenn europäische und amerikanische Einsatztruppen sich zurückziehen. Die Bilder, die von den Kriegen dann veröffentlicht werden, sind nur ein winziger Ausschnitt dessen, was als Tragödie geschieht. Einige Bilder bereichern auch dieses Buch. Doch das wirklich Berührende sind Muellers Erzählungen von den Menschen, denen er begegnete. Menschen, deren Schicksale so für einen kurzen Moment sichtbar werden.
Selbst wenn er ihnen nie persönlich begegnete, wie den beiden getöteten Reportern der Tageszeitung „Oslobodenje“, denen er in „No problema“ ein kleines Denkmal setzt. Denn was erfahren wir über die Kriege, wenn es nicht die Berichterstatter gibt, die sich auch in die gefährlichen Zonen wagen?
Wenn es sie nicht gäbe, hätte die Wahrheit erst recht keine Chance. Sie schaffen – mit Kamera und Laptop – das Korrektiv für die Meldungen der Militärs und Ministerien. Sie zeigen die Verbrechen und Gräueltaten, die in modernen Kriegsinszenierungen meist nicht vorkommen dürfen. Und damit die wirklich finstere Seite der Kriege, die ihre Anstifter immer so blumig und wortreich begründen können. Und letztlich sagen die Redakteure der im belagerten Sarajevo produzierten „Oslobodenje“, worum es letztlich geht: „Vor allem wollten sie nicht schweigen, und sei es um den Preis des eigenen Lebens.“
Dass sich Mueller am Ende einfach nicht vorstellen kann, wie er gehandelt hätte, hätte er wie sein Vater im Bombenflugzeug gesessen, gehört zu diesem Selbstbild: Wo ist der eigene Platz, wenn wieder rücksichtslose Alphamännchen ganze Länder in Schutt und Asche legen? Und warum landet einer wie Egbert dann im Cockpit eines Bombenflugzeugs? Geschichten zum Nachdenken. Auch über unser Bild vom Krieg.
Knut Mueller „Die Wahrheit fiel zuerst. Erlebnisse als Kriegsreporter 1989 – 2007“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 20 Euro.
Keine Kommentare bisher