Kann man Lehren aus der Geschichte ziehen? Bieten sich Ereignisse vor 100 Jahren an, Vergleiche für die Gegenwart zu ziehen? Im politischen Alltag passiert das immer wieder. Und zwar meistens falsch. Denn auch Geschichte verläuft viel komplexer, als es in den üblichen Lehrbüchern und Biografien erzählt wird. Für den Historiker Sven Felix Kellerhoff war das schon mehrfach Anlass, beliebte historische Objekte mal genauer zu untersuchen.
2015 tat er das mit Hitlers Machwerk „Mein Kampf“, wenig später porträtierte er die Hitler-Partei NSDAP. Auch das so ein politisches Phänomen, das viele Historiker als erforscht und gesetzt betrachteten, ohne sich einmal der Fülle der mittlerweile verfügbaren Archivbestände zu widmen. Oder erneut zu widmen. Man übernimmt ja so gern das schon Bekannte aus früheren Publikationen. Das war auch so mit der Novemberrevolution 1918, zu der Kellerhoff zusammen mit Lars Broder-Keil 2018 ebenfalls eine neue Perspektive wagte und die Vielschichtigkeit dessen sichtbar machte, was dann zum Topos Novemberevolution gerann.
Obwohl schon damals sichtbar war, wie die reaktionärsten Kräfte alles taten, Machtpositionen zu erhalten und die neue Republik mit ihren Mitteln zu bekämpfen. Das Jahr 1923 ist auch ein Ergebnis dieser beharrlichen Angriffe gegen die Republik – und der Hitlerputsch war ein Höhepunkt dieser Angriffe.
Und zwar ein ernst zu nehmender, anders als er in vielen Untersuchungen zur Weimarer Republik dargestellt ist – mal als Farce, mal als Narrentheater. Einfach nicht ernst zu nehmen. Da waren doch die Angriffe von links viel schlimmer und gefährlicher, oder?
Ruhrkonflikt und Radikalisierung
Nicht wirklich. Auch dieses Thema spricht Kellerhoff an, der den Putsch von München ganz und gar nicht als singuläres Ereignis betrachtet, sondern sich wieder gründlich in die Entwicklung des gesamten Jahres 1923 vertieft und damit sichtbar macht, welche Kräfte damals an der Republik zerrten. Nach rechts wie links. Und den Ruhrkonflikt gab es ja auch noch, ausgelöst durch den nationalistischen französischen Präsidenten Raymond Poincaré, welcher das Ruhrgebiet besetzen ließ, weil Deutschland seine Reparationszahlungen knapp verfehlte.
Nationalisten bevorzugen immer die Eskalation. Nachdenken und Rechnen sind nicht ihre Stärke. 1924 verlor Poincaré die Wahlen zur Nationalversammlung, weil die Besetzung des Ruhrgebiets den französischen Haushalt teuer zu stehen kam. Gleichzeitig aber hatte er in Deutschland den Anlass geschaffen, dass extremistische Kräfte den Moment gekommen glaubten, jetzt die verhasste Republik zu Fall bringen zu können.
Und während sich rechtsradikale Verbände zunehmend bewaffneten und in München schon seit November 1922 immer neue Putschgerüchte die Runde machten, versuchte auch noch eine von der Weltrevolution besessene sowjetische Regierung, in Deutschland die kommunistische Revolution zu befehlen. Regelrecht zu befehlen. Seit 2003 sind genug Dokumente zugänglich, die zeigen, wie insbesondere Trotzki und Radek versuchten, die KPD zum Losschlagen zu bewegen, weil sie in ihrer roten Theorie eine revolutionäre Revolution in Deutschland herangereift sahen.
Die Inflation beutelte das Land. In Sachsen und Thüringen gab es rot-rote Regierungen. Das linke Experiment hätte in Sachsen durchaus funktionieren können, wenn nicht immer wieder Leute versucht hätten, in der Regierung ihre Positionen zu radikalisieren, wie Karl-Heinrich Pohl in „Sachsen 1923“ feststellt.
Doch selbst der stellvertretende Vorsitzende der KPD, Heinrich Brandler, bezweifelte, dass es tatsächlich eine revolutionäre Situation gab. Und dass die kommunistischen Verbände überhaupt genug Waffen hatten, um – wie von Moskau gewünscht – loszuschlagen, bezweifelte er. Letztlich kam es nur in Hamburg zu einem Aufstand, der schon binnen Stunden in sich zusammenfiel. In Sachsen und Thüringen passierte gar nichts. Auch wenn Sachsens Ministerpräsident Erich Zeigner den Ton gegen die Reichsregierung immer mehr verschärfte.
Reichsexekution und „Marsch auf Berlin“
Am 29. Oktober 1923 kam es dann zur Reichsexekution gegen Sachsen, kurz darauf auch gegen Thüringen. Per Notverordnung durch Reichspräsident Ebert ermöglicht, schafften die beiden Einsätze des Militärs Ebert zumindest diese beiden „Probleme“ vom Hals. Gegen Bayern aber konnte er nicht zum selben Mittel greifen.
Welche Rolle dabei der Sonderweg spielte, den der bayerische Ministerpräsident Eugen Knilling mit der Einsetzung von Gustav von Kahrs als Regierungspräsident spielte, untersucht Kellerhoff natürlich genauso wie die zunehmende Radikalisierung von Hitlers NSDAP und den Einfluss von Mussolinis „Marsch auf Rom“ für Hitlers Vorstellungen von einer gewalttätigen Machtübernahme.
Dabei werden auch einander störende Strömungen sichtbar. Denn Leute wie von Kahrs oder der Chef der Reichswehr Hans von Seekt, der sich in diesen Tagen quasi zur rechten Hand von Friedrich Ebert entwickelte, hegten ihre eigenen Träume von einer Machtübernahme durch ein erzkonservatives „Direktorium“, waren also für Umsturzpläne ebenso empfänglich. Doch von Seekt ließ sich am Ende doch nicht erweichen und hielt zu Ebert, sodass der Traum von einem reichsweit erfolgreichen Putsch schon ausgeträumt war, bevor Hitler am 8. November 1923 seine Leute zusammentrommelte.
Was dabei sichtbar wird, ist natürlich die dauerhafte Gefahr, die der jungen Demokratie aus dem gesamten rechten Spektrum drohte. Gerade die oberste Heeresleitung arbeitete bis zum Schluss daran, die Schlüsselpositionen der Macht an sich zu bringen und die Sozialdemokraten aus der Regierung zu manövrieren. So gesehen hängt der November 1923 durchaus mit den Regierungskrisen von 1932 zusammen.
„Wettlauf zum Hochverrat“
Ohne Rückhalt der Reichswehr aber hatte ein Putsch keine Chancen. Akribisch arbeitet Kellerhoff die vielen heute archivalisch verfügbaren Stimmen und Positionen heraus, kann den zum Putsch bereiten Nationalsozialisten geradezu zuschauen beim Ränkeschmieden, schaut aber auch von Kahrs dabei zu, wie er versucht, Bayerns Sonderstellung auszubauen, was dann zu so einer Art „Wettlauf zum Hochverrat“ führte, wie es Kellerhoff bezeichnet.
Mit der Konsequenz, dass am 8. November sogar die Nazis glaubten, sie könnten von Kahrs in ihre neue Reichsregierung einbauen. Wenn auch mit einer gewissen Erpressung durch Pistolen, die Hitler und seine Leute auf ihre gewünschten Putschpartner richteten.
Aber von Kahrs spielte ebenso wenig mit wie der bayerische Reichswehrkommandant Otto von Lossow. Hätten sie anders gehandelt, hätte der von Hitler befohlene Putsch ganz andere Folgen haben können und wäre nicht schon in der Nacht vom 8. zum 9. November regelrecht ins Leere gelaufen. Dass dahinter dennoch eine Menge gewaltbereiter Leute standen, erzählt Kellerhoff genauso wie die Hektik, die in der Nacht noch ausbrach, weil auch in Berlin lange nicht klar war, was da in München tatsächlich geschah und wie gefährlich es war.
Denn anders als die Kommunisten waren die vielen, gerade in Bayern aktiven rechten Kampfverbände sehr wohl gut bewaffnet – wenn auch einander teilweise spinnefeind.
Und als es am 9. November vor der Feldherrenhalle tatsächlich zur Konfrontation kam, gab es eben doch Tote auf beiden Seiten – auch unter der Landespolizei, die sich dem von Hitler und Kompagnons angeführten Zug entgegenstellte. Was am Ende klar ist, ist nun einmal: Dieser Putsch war beileibe nicht so harmlos und närrisch, wie er in vielen Geschichtsdarstellungen gemacht wird.
Und gescheitert ist Hitlers Versuch, in München so etwas wie den „Marsch auf Berlin“ beginnen zu lassen, nur daran, dass auch die konservativen Akteure der Münchner Regierung und in Berlin sich in dieses Abenteuer nicht hineinziehen ließen, auch wenn sie alles andere waren als überzeugte Demokraten.
Die Unberechenbarkeit von Geschichte
Und dass die Sache mit dem Ende des Putsches und der Verhaftung von dessen Anführern nicht beendet war, zeigte dann endgültig der Prozess gegen Hitler, der nicht – wo er eigentlich hingehört hätte – vorm Reichsgericht in Leipzig stattfand, sondern in München, wo ein gefälliger Richter Hitler und Konsorten den Gerichtssaal geradezu als Bühne für ihr propagandistisches Schauspiel bot. Und Hitler am Ende mit einer lächerlichen Strafe davon kam, die dem begangenen Hochverrat selbst nach damaliger Gesetzeslage in keiner Weise entsprach.
So nebenbei lernt der Leser natürlich etliche der Leute kennen, die dann auch im späteren Hitlerreich ihre finsteren Rollen spielen würden. Und natürlich die völlig offenliegende Denkweise, die eigentlich auch den damaligen Zeitgenossen hätte klarmachen müssen, was die Nationalsozialisten mit Deutschland anstellen würden, wenn ihnen der Griff zur Macht gelang. Harmlos war an dem Putsch jedenfalls gar nichts. Und wie leicht gerade das Münchner Bürgertum aufzuwiegeln war, zeigte am 9. November der Lehrer Julius Streicher, der die Leute mit Reden vom Lastwagen herunter zu mobilisieren versuchte.
Verständlich, dass Sven Felix Kellerhoff sich darüber wundert, wie viel Material zu wichtigen Ereignissen gerade in der deutschen Geschichte des frühen 20. Jahrhundert noch brach liegt, von Historikern ignoriert, die sich oft auf jahrzehntealte Veröffentlichungen beziehen, statt die heutige Zugänglichkeit des Materials zu nutzen, um auch alte Deutungen und Interpretationen infrage zu stellen.
Und gerade Kellerhoffs Akribie macht deutlich, wie sehr historische Weichenstellungen tatsächlich oft von ganz individuellen Entscheidungen abhängen. Und dass Hitler nicht wie sein neues Vorbild Mussolini durchmarschieren konnte bis in die Reichshauptstadt, hatte eben auch damit zu tun, dass wichtige Akteure in Berlin und München sich vor der zunehmenden Radikalität der NSDAP und ihrer Sturmtruppen nicht beugten, sondern – aus völlig verschiedenen Motivlagen – dagegen hielten.
Rechte Abgrundbilder
Aber die Geschichte vom Hitlerputsch macht auch sichtbar, welche fatale Rolle ein bayerischer Sonderweg schon damals spielte. Denn auch von Kahrs war überzeugt, dass nur Bayern Deutschland retten könne – den Rest des Reiches sah er geradezu dem Abgrund entgegen taumeln. Eine ähnliche Wortwahl findet man heute wieder – nicht nur bei den Politikern von Rechtsaußen.
Das können auch Politiker aus der sogenannten bürgerlichen Mitte, die nur zu gern schon mal den Untergang von Abendland und Deutschland an die Wand malen, wenn sie sich mit ihren Eigeninteressen nicht durchsetzen können.
Und dabei malen sie – ganz ähnlich wie viele Medien 1923 – ein fatales Bild von Deutschland, das natürlich in den Köpfen vieler Bürger Folgen hat. Denn wenn das Land in ihrer Einbildung derart kurz vorm Abgrund steht, dann braucht es doch wohl den radikalen Führer, oder etwa nicht? Oder einmal so formuliert: Der Weltuntergang steht als Fiktion immer schon am Anfang radikaler Propaganda. Am Ende mündet sie dann tatsächlich in ein zertrümmertes Land.
Aber wie weit reicht die Fantasie der ach so braven Bürger, wenn sie auf dem Odeonsplatz „Heil!“ rufen dürfen und sich von begnadeten Rednern wie Streicher und Hitler zur jubelnden Masse aufpeitschen lassen? Auch das steckt ja als Moment in dieser Geschichte.
Die Verführbarkeit zur Autokratie
In gewisser Weise noch Glück inmitten der Katastrophe war, dass Hitler zwei seiner wichtigsten Gegenspieler falsch einschätzte – Gustav von Kahrs und Hans von Seekt. Da ging es ihm genauso wie dem Politbüro der Bolschewiki in Moskau, das sich die kommunistische Revolution in Deutschland regelrecht herbei schwadronierte, ohne die zaghaften Widerworte der deutschen Genossen zu akzeptieren.
Und auch Hitler war am Ende seiner eigenen Rhetorik auf den Leim gegangen, die Wehrmacht würde sofort folgen, wenn er zum Putsch riefe.
Zur Tragik der Geschichte gehört nicht nur, dass die Putschisten nie die Strafe erhielten, die sie nach diesem Angriff auf den Staat tatsächlich verdient hatten, sondern dass sie daraus lernen und ihre Methodik ausfeilen konnten, zehn Jahre später erneut nach der Macht zu greifen. Diesmal ohne Gegenwehr, aber letztlich mit denselben Mitteln der Radikalisierung.
Viele Medien erklärten den gescheiterten Putsch dann zu einer Art „Hanswurstiade“ und einem „Sturm im Wasserglas“. Aber Kellerhoffs Ausarbeitung zeigt, dass das Ganze doch viel ernster war, als es diese Zuschreibungen erkennen lassen. Hitler konnte sehr wohl auf eine Menge Leute rechnen, welche die immer noch junge Demokratie verachteten und nur zu bereit waren, ein neues autoritäres Regime aufzubauen.
Zünglein an der Waage
Und auch die Gestalt eines Friedrich Ebert gewinnt einen weiteren Aspekt, den Kellerhoff betont: „So stand die Demokratie in Deutschland im Herbst 1923, nur fünf Jahre nach ihrem Sieg, tatsächlich am Abgrund. Sie wurde bedroht, gleichermaßen von links wie von rechts. Die Aussicht auf einen siegreichen Putsch reaktionärer Kreise erledigte sich vor allem, weil der Reichspräsident anders entschied, als seine Gegner angesichts seiner Parteizugehörigkeit vermutet hatten.“
Womit auch die ausschlaggebende Rolle des Reichspräsidenten deutlich wird. Und auch die Gefahr, die darin bestand, wenn ein sozialdemokratischer Reichspräsident durch einen erzkonservativen Militär ersetzt werden würde, wie das 1925 mit der Wahl Paul von Hindenburgs der Fall war.
Aber genau das ist das Beeindruckende bei Kellerhoff, dass er sich nicht nur einem Phänomen oder einer Sichtweise widmet, sondern versucht, das Zusammenwirken unterschiedlichster Kräfte und Strömungen rund um ein so prägnantes Ereignis wie den Hitlerputsch sichtbar zu machen. Und damit eben auch zu zeigen, dass Geschichte ganz und gar nicht logisch und geradlinig abläuft, sondern zumeist das Produkt völlig unterschiedlich agierender Fraktionen ist, die allesamt vorher nicht wissen, wie die Sache ausgeht.
Und die oft irrational agieren und Eigeninteressen verfolgen, die mit dem, was dann als Versprechen an die jubelnden Bürger verkündet wird, meist nichts zu tun haben.
Gleichzeitig aber macht er auch die Strömungen sichtbar, die es ja nach dem Putsch weiterhin gab und welche die deutsche Politik auch die nächsten Jahre bestimmten. Mit fatalem Ausgang, wie wir wissen. Und etliche Gründe dafür werden eben schon in diesem Münchner Putsch von 1923 sichtbar.
Sven Felix Kellerhoff „Der Putsch. Hitlers erster Griff nach der Macht“, Klett-Cotta, Stuttgart 2023, 25 Euro.
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