Man sieht es den Romanen im Regal nicht mehr an, dass die Geschichten, die darin erzählt werden, manchmal tatsächlich geschehen sind. Genau so oder ein bisschen anders. Gerade berühmte Kriminalfälle haben – oft auf Umwegen – ihren Weg in die Literatur gefunden. Manchmal waren auch die Autoren ein bisschen kriminell. Und erstaunlicherweise haben recht viele solcher Geschichten ihren Ursprung in Sachsen.
In seinem ersten Buch „Morde, die Geschichten schrieben“ erzählte der Autor und langjährige Wahl-Leipziger Henner Kotte, wie Woyzeck, Michael Kohlhaas, ein Leipziger „Geisterseher“ und „Romeo und Julia vom Dorfe“ ihren Weg in die Literatur fanden. Aber das ist natürlich noch lange nicht alles, was sich an sächsischen Kriminalfällen in der Weltliteratur wiederfindet. Manchmal sieht es gar so aus, als wäre kein anderes Fleckchen auf Erden so fruchtbar als Stofflieferant für große dramatische Erzählungen mit Gruseleffekt.
Autor auf Abwegen
Wobei nicht alle Fälle, die Henner Kotte jetzt im zweiten Band berichtet, tatsächlich zu Romanliteratur wurden. Manche haben ihren Ruhm schon im Blätterwald der Zeitungen erlebt und sind dort natürlich wieder auffindbar, wenn neugierige Autoren wie Kotte ihnen nachforschen. Und da trifft man natürlich auch jede Menge Artikel über den regelrecht gejagten Karl May. Ja, eben jenen, von dem ein paar völlig verwirrte Diskutanten jüngst behaupteten, man dürfe ihn nicht mehr lesen, Büchern und Filmen drohe der Weg auf den Index.
Was natürlich Quatsch ist. Und letztlich auch nichts mit dem Erfolg Karl Mays zu tun hat und seinem späten Ärger mit Leuten, die ihm seine kriminelle Jugendzeit unter die Nase rieben. Denn Ruhm macht neidisch. Das war auch schon vor 120 Jahren so. Und Karl May war eine gute Zielscheibe, da er sich ja nicht nur in seinen Büchern gern mit Federn schmückte. Und so erzählt Henner Kotte vom „Aufstiegs- und Endkampf eines Weltautors“, der wohl in Leipzig sein peinlichstes Erlebnis als verhinderter Dieb hatte.
In jenem Leipzig, in dem ein mörderisches Bruderpaar glaubte, den berühmten Verleger der „Illustrirten Zeitung“ nötigen zu können, seine Mordgeschichten zu veröffentlichen – oder auch nur Geld dafür zu löhnen. Dahinter aber steckten echte Morde – und ein jagdlustiger Verleger macht sich höchstpersönlich auf Verbrecherjagd. Auch das ist passiert. Und natürlich fragt man sich, warum das noch keinen Romanautoren gereizt hat. Wer braucht denn „Babylon Berlin“, wenn es im beschaulichen Leipzig genauso babylonisch zuging?
Entfesselte Gewalt
Und brutal dito. Denn auch hier zeitigte der Erste Weltkrieg seine Folgen, die sich im April 1919 dann auch mit Gewalt in Dresden entluden. Ein Jahr, dem ja bekanntlich Freya Klier ein ganzes spannendes Buch gewidmet hat.
Das dramatischste Ereignis greift Henner Kotte noch einmal auf, in der „Straßenschlacht am Goldenen Reiter“. Und macht trotzdem mit wenigen Strichen deutlich, dass ihm sehr wohl die soziale Not hinter der Geschichte bewusst ist. Denn nicht immer mordet der Mensch aus Gier, wie das möglicherweise in „Schraubstock des Grauens“ der Fall war. Oder in der „Freiburger Gretchentragödie“. Oder in der Geschichte des Kurt Erich Tetzner, dem „Mann, der zweimal starb“.
Alles Geschichten, die zu ihrer Zeit für Furore im Blätterwald sorgten. Genauso wie die Entführung des Lindbergh-Kindes, welche in den 1930er Jahren die ganze Welt beschäftigte und als Motiv dann Eingang fand in Agatha Christies „Mord im Orient-Express“.
Dass diese Geschichte Bezüge zu Sachsen hat, hat Agatha Christie dabei völlig ignoriert, stellt Henner Kotte fest. Und holt es natürlich nach, diese Bezüge zu erzählen. Denn der letztlich als Mörder verurteilte Bruno Hauptmann aus dem sächsischen Kamenz erzählte ja auch eine Geschichte über den Leipziger Pelzhändler Isidor Fisch, die Hauptmanns Version, er sei nicht der Mörder, zumindest für einen Teil der Öffentlichkeit glaubwürdig machte.
Dabei lernt man ganz beiläufig eine Leipziger Pelzhändlerfamilie kennen, die schon wenige Jahre nach dem Lindbergh-Prozess den Vernichtungswahnsinn der Nationalsozialisten erleben musste. Der Vater von Isidor Fisch betrieb in der Jahnstraße 45 (heute Industriestraße) seinen Pelzhandel. Isidores Bruder Pinkus besaß ein eigenes Unternehmen auf der Leipziger Pelzmeile: Brühl 47. „Nach Deutschland zurückgekehrt, fällt die Familie unter die Nürnberger Rassegesetze. Ihre Spuren verlieren sich in den Konzentrationslagern Bardejow und Auschwitz. Das Grab Isidor Fischs befindet sich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof“, schreibt Kotte.
Hinter der Geschichte des ermordeten Lindbergh-Kindes tut sich der ganze mörderische Wahnwitz der damaligen Zeit auf, die so gern verdrängte Grausamkeit des deutschen Nationalsozialismus, der Menschen allein deshalb tötete, weil er sie per Gesetz für minderwertig erklärte.
Das Drama der menschlichen Leidenschaften
Da wirkt es fast wie eine Geschichte aus Schilda, die Kotte in „Der Ortsverschönerungsverein“ beschreibt, wo sich die Honoratioren des kleinen Städtchens Siebenlehn auf ein besonders heißes Thema der Ortsbildverschönerung eingelassen haben.
Dieser Band erzählt also nicht nur davon, wie sächsische Kriminalfälle zu Literatur wurden – oder auch zum Film wie die Brandstiftung in Siebenlehn. Er erzählt auch davon, welche Stoffe noch immer da liegen und eigentlich auf die begabte Hand von Autorinnen und Autoren warten, etwas daraus zu machen. Und zwar etwas, das eben darum, weil es tatsächlich passiert ist, auch die Tragödie menschlicher Verstrickungen und Leidenschaften sichtbar macht, um die es in großer Literatur eigentlich immer geht. In dauerhafter Literatur, die nicht nur für das abgehobene Feuilleton der Gegenwart geschrieben ist, sowieso.
Manches ist heute anders – oder auch nicht
Man merkt schon, wie es auch Henner Kotte – selbst ja erfahrener Krimiautor – in den Fingern juckt. Der Stoff liegt da. Das Wichtigste hat er aus alten Archiven zusammengetragen. Und eigentlich jede einzelne der in diesem Band zusammengetragenen neun Geschichten hat das Zeug dazu, selbst ein mitreißender Roman über Menschliches und allzu Menschliches zu werden. Im Kriminalfall wird sichtbar, wo es in einer Gesellschaft wund und wehe ist. Und wo Menschen, von ihren Leidenschaften und purer Eitelkeit getrieben, den Pfad aufs Schafott gehen. Oder gingen.
Denn so publikumsträchtig wie zur Zeit der Grete Beier in Freiberg 1908 wird ja nicht mehr bestraft. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Aber mit ihr auch irgendwie das schriftstellerische Mitgefühl mit den Tätern und den Opfern. Etwa dem neugierigen Wanderer Dr. Victor Schieck aus Sachsen, dessen „Wanderung in den Tod“ Henner Kotte auch erzählt – und dabei über einen Roman von Peter Rosegger stolpert, der die Geschichte literarisch verarbeitet hat. Mit Mitgefühl für die Täter, die – wie einst der arme Woyzeck – auch nicht viel mehr zu verlieren haben als ihre Ehre.
Seltsam, aber ist das heute nicht noch immer so? Nur die mitfühlenden Autoren sind irgendwie abhandengekommen.
Henner Kotte „Morde, die Geschichten schrieben. Sachsen II: Von Karl May bis Agatha Christie“, Tauchaer Verlag, Leipzig 2022, 12 Euro.
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