Das ist dem kleinen Städtchen Bad Schlema auch noch nicht passiert: Binnen weniger Monate machen zwei Autorinnen die Stadt im Erzgebirge zum Schauplatz berührender Romane. Als wäre es jetzt so weit. Als würden jetzt endlich all die Geschichten aus dem auch vom Uranbergbau verwüsteten Osten erzählbar werden. Als wäre es jetzt an der Zeit, den Osten als Schauplatz großer Lebensgeschichten zu entdecken.

Und verblüffend ist natürlich auch, dass beide Autorinnen aus Leipzig kommen. Auch wenn Kati Naumann in ihrem Roman „Sehnsucht nach Licht“ noch viel weiter ausholt und im Grunde ein ganzes Jahrhundert um den Bergbauort und Kurbad Bad Schlema lebendig werden lässt in der Geschichte einer Familie, die alle Umbrüche in diesem vom Bergbau geprägten Ort miterlebt, erlebt, erleidet.

Bei Tina Pruschmann wird aus dem realen Schlema der fiktive Ort Tann. Schon das eigentlich eine historische Bühne mit strahlendem Potenzial. Erst 1990 endete hier der Uranbergbau für das sowjetische Atomwaffenprogramm. Die Hinterlassenschaften des Bergbaus wurden saniert und der einst durch sein Radonwasser berühmt gewordene Ort verwandelte sich ein weiteres Mal zu einem Kurort. Straßen, Parks und Häuser bekamen selbst eine Verschönerungskur. Eigentlich könnte alles gut sein. So, wie es in Helmut Kohls flapsigem Versprechen von den „blühenden Landschaften“ so wahlkampfwirksam verhießen wurde.

Ida, das Artistenkind

Aber was die Ostdeutschen tatsächlich erlebten, war nicht nur das Ende einer falschen Geborgenheit, sondern oft auch der radikale Verlust jeder Sicherheit im Leben. Fabriken wurden reihenweise geschlossen, berufliche Qualifikationen wurden entwertet. Und was im Sommer 1989 mit der Flucht so vieler DDR-Bürger über die ungarische Grenze in den Westen begonnen hatte, setzte sich nun in noch viel größerem Ausmaß fort. Ganze Familien packten ihre Koffer und zogen der Arbeit hinterher in den Westen.

Und auch Idas Familie blieb von diesen radikalen Veränderungen nicht verschont. Ida ist Artistenkind. Ihre Mutter Jutta ist beim Zirkus eine der berühmtesten Artistinnen, ihr Vater Georg betreut die Elefanten. Und weil guter Zirkus auch in Zeiten der DDR gut vermarktbar war, sind beide auch internationale Stars. Mit dem nur zu gut bekannten Grundthema: Kind oder Karriere?

Juttas Mutter entscheidet sich für beides. Auch wenn das Kind dann mit Eintritt in die Schule – außer in den Ferien – nicht mehr mit dem Zirkus reist, sondern bei der Ohm in Tann aufwächst, wo sie auch den Großvater noch erlebt und die Geschichte des Ortes, geprägt vom Uranbergbau, kennenlernt.

Wobei Tina Pruschmann eine jener berührenden literarischen Ideen hatte, die nahe lag, als sie im Februar 2022 die Arbeit an ihrem Buch begann. Denn von Besuchen kannte sie die Ukraine und insbesondere ihre Hauptstadt Kyjiw schon. Und nun dieser Überfall auf ein Land, das zuvor auch im Westen fast unbekannt war. So unbekannt, dass ein russischer Präsident glauben konnte, es würde im Westen niemanden jucken, wenn er die Ukraine einfach wieder mit Militärmacht annektieren würde.

Aber die Menschen in der Ukraine wehrten und wehren sich. Und Tina Pruschmann nutzte die Zeit, um sich noch intensiver in die Geschichte der Ukraine einzuarbeiten – speziell ihre jüngere, postsowjetische Geschichte. Denn wenn man die nicht kennt, versteht man auch den Willen der Ukrainer, über ihr Schicksal selbst zu bestimmen, nicht wirklich.

Was willst du mit deinem Leben?

Und auch nicht die mentale Nähe, die sie auch zu den Ostdeutschen haben. Denn 40 Jahre lang teilte man ja ein ganz ähnliches Schicksal. Auch wenn sich 1989 beide Geschichten wieder auseinander entwickelten. Aber Pruschmanns Heldin Ida hatte die Ukraine schon als Kind erlebt. Freundschaftliche Verbindungen zu einer Familie aus Kyjiw blieben auch über den Umbruch 1990 erhalten. Und so ist es für Ida, welche die Kinder in Tann mit ihren Fahrten auf dem Einrad beeindruckt, gar nicht so fern liegend, dass sie – als der Zirkus ihrer Eltern aufgelöst wird und die beiden Elefanten Judy und Hollerbusch an der Kyjiwer Zoo abgegeben werden – kurzentschlossen mitreist in das ferne Land.

Und dann Jahre ihrer Jugend dort verbringt, nicht nur Anschluss an die Familie von Jewhen und Switlana findet, sondern auch ihre Liebe – von der sie aber nicht so recht weiß, ob es nicht doch nur der Fluss des Lebens ist. Denn eine Frage wird sie in Kyjiw nicht los – und gerade Jewhen stellt sie immer wieder: Was willst du wirklich in deinem eigenen Leben?

Eigentlich die Grundfrage in Tina Pruschmanns Buch, die ganz emotional wetterleuchtet in vielen eindrücklichen Szenen, in denen sie ihre Helden das blanke, erschütternde, verstörende Leben erfahren lässt. Ganz zentral die Szene ausgerechnet in Kyjiw, als das Kind ohne Sicherungsnetz oben auf dem Trapez sitzt und ihr Vater Georg fast verzweifelt in der Angst, Ida könnte abstürzen, mit ausgebreiteten Armen darunter steht.

Nicht die einzige Szene, in der Pruschmann die Emotionen nachklingen lässt, das, was wir ja an Intensität im Leben tatsächlich erleben, auch wenn es uns meist erst hinterher klar wird, wenn wir es erzählen. Denn wenn es passiert, sind wir ja oft überfordert, haben Berührungs- und Schwellenängste. So wie es auch Ida geht, als sie nach Jahren zurückkehrt nach Tann. Ein Hilferuf ihres Vaters Georg, der hinter dem Haus der Ohm im Zirkuswagen lebt, hat sie erreicht. Und wieder ist es, als würden ihr die Dinge nur passieren, als wäre sie nur Getriebene.

Der Fluss des Lebens

Aber auch das ist unser Leben als Mensch. Und wir haben die Wahl, diese Strömungen wahrzunehmen und anzunehmen. Oder uns zu sträuben. Auch die Entscheidung dafür, die Dinge jetzt erst einmal so auf sich zu nehmen, ist eine Entscheidung. Und gerade damit wird die Geschichte, die Tina Pruschmann erzählt, eine zutiefst ostdeutsche, die sich für Tina zum Schluss sogar in einer Szene bei der Ärztin verdichtet, die Ida beibringt, dass sie schwanger ist. Wieder so eine Situation, in der sie sich entscheiden muss. Oder ist es doch wieder der leise Stups des Lebens, der ihr klarmacht, dass das Ganze immer weiter geht?

Ist das nun ein „historischer Moment“? Da denkt Ida an die vielen Uhren des Großvaters, welche die Ohm alle zum Schweigen gebracht hat an dem Tag, als der Großvater starb. Und sie denkt an die Uhr in Tschornobyl, die stehengeblieben ist, als der Reaktorblock IV explodierte. Und die im Leben von Jewhen eine zentrale Rolle spielt, denn dieser Moment läutete den Krebstod seiner Frau Jelena ein

Und so hat Pruschmanns Erzählung zwei tickende Pole: Tann/Schlema und die Reaktorkatastrophe von Tschornobyl. „Was willst du vom Leben? Sie weiß es nicht. Statt einer Antwort ist da eine Leere. Bislang hat sie sich die Leere damit schöngeredet, dass das Leben leichter zu ertragen ist, wenn man ihm keine Bedeutung beimisst, die das eigene Existieren übersteigt“, heißt es an der Stelle, an der das kleine Etwas auf dem Ultraschallbild Idas Leben auf völlig neue Gleise bringen wird.

Eigentlich hat sie sich schon entschieden. So wie sie sich immer für das Leben entschieden hat. „Noch nie aber hat sie etwas gewollt. Etwas, für das man ein Risiko eingeht, alles auf eine Karte einsetzt.“ Aber stimmt das?

Die Wasser des Flusses

Oder so gefragt: Muss man so etwas wollen? Gerade die Rückkehr nach Tann holt Ida aus diesem „Zwischenraum“: „In Kyjiw konnte sie die Fremde bleiben, in Tann nicht.“ Denn in Tann kennt sie jeder. Da wissen sie alle, zu wem sie gehört. Aber es steht auch die Frage im Hintergrund, warum sie wieder da ist. Sind nicht die anderen aus ihrer Klasse alle weggegangen? Weg aus diesem kleinen Städtchen, in dem jetzt dauerempörte, ältere Herren den Ton angeben, die ihre Frustration und ihr Gefühl, immer zu kurz gekommen zu sein, nicht verhehlen können?

Es ist das Jahr 2016, als dieser Zorn der Dagebliebenen in Sachsen aufschäumte. „Für die eigenen Leute interessieren die sich schon lang nicht mehr“, sagt einer dieser Frustrierten zu Ida auf dem Fest, mit dem das Buch beginnt und auch endet.

Aber das Leben verdichtet sich in völlig anderen Situationen, so wie für Ida in dem Bild aus ihrer Kindheit, in dem sie von hoch droben unten ihren starken Vater Georg stehen sieht, der die Arme ausbreitet, um das Kind aufzufangen, wenn es fällt.

Aber wir bleiben nicht in alle Ewigkeit das Kind, das sich ängstlich am Trapez festhält.

Irgendwann steht die Frage: Was willst du von deinem Leben? Mit der man sich jahrelang herumschlagen kann. Und am Ende hat man doch das Gefühl, dass man darauf Antworten gefunden hat. Die eigenen Antworten. Denn „die da“ werden uns unser Leben nie fertig vor die Nase setzen. Idas Freunde in Kijiw wissen das. Und manchmal muss man erst nach Hause kommen, um die Antwort darauf zu finden. Oder eine Antwort von vielen möglichen.

So entsteht der Fluss des Lebens und bekommt einen Sinn. Und wird manchmal auch zu einem poetisch stark verdichteten Bild, das die Heldin des Romans in die Reise ihres Lebens bannt. „Nichts will der Fluss halten. Seine Wasser tragen alles fort.“ Aber genau das ist unser Leben. Und wenn wir nicht aufpassen und hinschauen, haben wir es nicht einmal gemerkt.

Tina Pruschmann „Bittere Wasser“, Rowohlt, Hamburg 2022, 22 Euro.

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