Eigentlich war alles auf einem guten Weg. Die Emanzipation der Juden in Deutschland schien sich zu verwirklichen. Die Gesetzgebung in den deutschen Ländern gestand ihnen immer mehr bürgerliche Rechte zu. Ihre Gleichstellung schien nur noch eine Frage der Zeit. Bernhard Jensen schildert in seinem Buch zwar die Entstehung des Deutsch-Israelitisachen Gemeindebunds ab 1869. Aber zur selben Zeit entstand auch der moderne deutsche Antisemitismus.

Den skizziert der Philosoph und Bibliothekar im Jüdischen Museum Berlin zwar nur beiläufig, weil dessen Entstehung auch die Arbeit des Gemeindebundes beeinflusste. Aber auch mit dieser Beiläufigkeit macht er sichtbar, wie sehr der Antisemitismus von Aspekten missglückter Emanzipation bei ganz anderen gesellschaftlichen Kräften erzählt – nämlich dem national-liberalen Bürgertum, das sich zu Ende des 19. Jahrhunderts zum konservativen Bürgertum radikalisierte. 

Verschwörungsideologien: Judentum als bürgerliches Feindbild

Und nicht ganz zufällig liegen einige der Daten, die diese Radikalisierung festschreiben, rund um die Bismarcksche Reichsgründung von 1871. Angefangen mit dem Gründerkrach von 1873, der den deutschen Rausch nach dem Sieg über Frankreich beendete und der Anfang zahlreicher Legenden war, die dann in Formeln wie der „Jüdischen Weltverschwörung“ gipfelten.

Und am Anfang standen immer scheinbar honorige bürgerliche Publizisten, die die Ursachen der kapitalistischen Krisen nicht in der von Profitmaximierung getriebenen Wirtschaftsordnung sahen, sondern von dubiosen Mächten orakelten, die im Hintergrund diese Krisen ganz bewusst initiieren würden.

„Der an den internationalen Börsen ausgelöste Gründerkrach von 1873 und die damit einhergehenden Krisenerscheinungen wurden von Publizisten wie Otto Glagau und der nationalkonservativen Presse dem jüdischen Finanzkapital und Liberalismus zugeschrieben“, schreibt Jensen in der Beschreibung jener politischen Entwicklungen, mit denen sich der Gemeindebund in den 1870er Jahren auseinandersetzen musste.

Der konservative Umgang mit Krisen

Und nicht nur er. Jensen erinnert zugleich daran, dass auch das gegen die Sozialdemokratie gerichtete Sozialistengesetz in dieser Zeit entstand und eine andere gesellschaftliche Gruppe versuchte zu diskriminieren und auszuschalten. Ein geradezu typisches Phänomen für das konservative Bürgertum: Es sieht die Fehler für Krisen und Verluste nie im eigenen Handeln. Schuld sind immer die anderen.

Wie sehr diese Denkweise auf fruchtbaren Boden fiel, wurde dann 1879 deutlich, als der Historiker Heinrich von Treitschke seinen Aufsatz „Unsere Aussichten“ veröffentlichte, der in seinem „assoziationsreichen mäandernden Text“ die bürgerliche Angst vor den aus dem Osten einwandernden Juden schürte und den verängstigten Lesern prophezeite, dass „deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen“.

So schürt man Ängste. Weitab jeder Statistik. Das funktioniert heute noch immer genauso wie zu Treitschkes Zeiten. Dass die Zuwanderung damals ein medial beachtetes Thema war, hatte seinen Grund – nämlich in der Vertreibung der Juden aus den russischen Ostprovinzen. Nach Treitschkes Aufsatz „formierte sich eine Bewegung, die sich mit einer Antisemitismuspetition gegen die Einwanderung richtete, Krawalle gegen Juden auslöste und einige Jahre später zur Ausweisung von Polen und Juden führte.“

Was dann logischerweise auch schon das emanzipierte jüdische Bürgertum alarmierte, das ja noch immer um die Gleichstellung kämpfte – und zum Beispiel auch um das Recht, im deutschen Staatsdienst Karriere machen zu dürfen.

Braucht es denn Staatsreligionen?

Und noch komplizierter wurde die Sache dadurch, dass die jüdischen Gemeinden eigentlich auch die Gleichstellung mit den beiden christlichen Kirchen anstrebten, also als Religionsgemeinschaft anerkannt und mit denselben Rechten ausgestattet werden wollten. Dabei ging es Bismarck damals eher um einen gegenläufigen Prozess: die Trennung von Staat und Kirche, insbesondere der katholischen. Dieser über Jahre ausgetragene Streit ging als „Kulturkampf“ in die Geschichte ein. Er schaffte aber den Einfluss der Kirchen – speziell auf die Schulen – noch nicht ab. Das sollte erst in der Weimarer Republik gelingen.

Da wirkte es schon ein wenig aus der Zeit gefallen, wenn die jüdischen Gemeinden hier dieselben (alten) Rechte wie die christlichen Kirchen erlangen wollten.

Und es waren just die deutschen Antisemiten, die auch jene diffuse Vorstellungswelt schufen, in der dann Glaube, Nationalität und „Rasse“ nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. Denn so kann man auch all die emanzipierten Menschen jüdischer Herkunft, die sich entweder hatten taufen lassen oder gar keiner Religion mehr anhingen, weiter in Justiz, Militär, Hochschulen und Staatsdienst ausgrenzen.

Hinter dem Antisemitismus wird die simple Konkurrenz um die attraktiven Karrieren deutlich. Aber ausgetragen wurde das in einer Debatte, in der auf einmal die nur zu vertraute Frage stand, ob das Judentum genauso wie das Christentum zu Deutschland gehöre. Eine Debatte, von der sich die deutschen Konservativen bis heute nicht gelöst haben, weil sie Deutschland in ihren Köpfen tatsächlich immer noch als eine christliche Nation betrachten, obwohl die Religionsausübung auch nach dem Grundgesetz reine Privatsache ist. Dass das unverschämt ist und blutige Folgen hat, wissen wir eigentlich.

Was das für Blüten auch bei jüdischen Denkern hatte, zeigt Jensen am Beispiel von Hermann Cohen. „Cohen selbst trat dem christlichen Antijudaismus mit einer Religion der Vernunft entgegen und reklamierte das Urheberrecht auf den ethischen Monotheismus aus den Quellen des Judentums, dessen Doppelcharakter als Religion und Volk er nicht mehr infrage stellte.“

Staatsbürgertum und Glaube

Aber woraus bestand dann noch das Judentum, „nachdem die Juden zu gleichberechtigten Staatsbürgern und deutschen Patrioten geworden waren und die reformjüdischen Glaubenslehren weitgehend mit dem Christentum übereinstimmten?“ Eine Debatte, die den Gemeindebund ab 1879 beschäftigte.

Eine Debatte aber auch, die deutlich macht, dass der Antisemitismus von Anfang an darauf zielte, jüdischen Mitbürgern die Gleichberechtigung als Staatsbürger zu verwehren oder ihnen diese Rechte sogar wieder zu nehmen. Denn fortan bekam der deutsche Antisemitismus immer mehr Zulauf. Und nur scheinbar schien der lange Kampf der jüdischen Gemeinden um Gleichberechtigung dann endlich in der Weimarer Republik erfüllt.

Doch jetzt waren es Streitigkeiten innerhalb der jüdischen Landesverbände, die eine Gesamtvertretung auf Reichsebene verhinderten. „Eine Gesamtorganisation der Gemeinden fehlte dem deutschen Judentum bis zum Ende der Weimarer Republik“, schreibt Jensen. Bevor er noch kurz skizziert, wie auch das so schwer Errungene dann mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wieder verloren ging und der Antisemitismus in seiner grausamsten Variante triumphierte.

Erst mit dem Zentralrat der Juden entstand dann 1950 eine Gesamtvertretung der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Der Deutsch-Israelitische Gemeindebund war gewissermaßen dessen Vorläufer, auch wenn die Arbeitsaufgaben und Ziele sich teils deutlich unterscheiden. Denn um eine Gleichstellung mit den deutschen Staatskirchen wie noch 1869 geht es schon lange nicht mehr.

„Mit der Abschaffung der Staatskirche und Einführung der Grundschule in der Weimarer Republik endete das konfessionelle Regiment in den Schulen“, schreibt Jensen. Religionsunterricht in den Schulen ist inzwischen eine freiwillige Aufgabe und die Ausbildung der Lehrkräfte für den Religionsunterricht ist Aufgabe der Religionsgemeinschaften „und zu einem Integrationsbarometer für religiöse Minderheiten geworden.“

Emanzipation ist Politik

Es war auch die Entmachtung der Kirchen als Staatskirchen, welche die Gleichberechtigung der Religionen in Deutschland überhaupt erst ermöglichte. Auch wenn das einige Dogmatiker bis heute nicht begreifen wollen.

Und das hat nichts mit dem Grundproblem der tatsächlichen Emanzipation zu tun: der vollkommenen Gleichberechtigung als Staatsbürger, um die die Mitglieder der jüdischen Gemeinden so lange kämpfen mussten. Nur um ab Treitschke dann zu erleben, wie sich das konservative Bürgertum mit der Konstruktion des Judentums als „Rasse“ eine neue Strategie ausdachte, Menschen mit jüdischer Herkunft abzuwerten, auszugrenzen und am Ende völlig zu entrechten.

Was beim Lesen scheinbar nur ein ganz trockener Ausflug ist in die Gründungszeit des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes, zeigt in der konkreten Erzählung auf einmal, wie eng verwoben der Prozess der Emanzipation der Juden in Deutschland mit den großen politischen Kämpfen der Zeit war – vom Sozialistengesetz bis zum Kulturkampf. Und eben auch mit dem bürgerlichen Antisemitismus, der in genau jener Zeit all die diffusen Bilder vom „Juden“ schuf, die bis heute virulent sind und – meist mit Absicht – davon ablenken, dass Emanzipation ein Prozess ist, der alle Mitglieder der Gesellschaft meint.

Und der immer dort gefährdet ist, wo einflussreiche Sprecher wieder beginnen, das „Fremde“ und „Andere“ zu definieren und davon zu reden, dieses „gehöre zu Deutschland“ – und jenes eben nicht.

Bernhard Jensen „Die Emanzipation vollenden. Der Deutsch-Israelitische Gemeindebund“, Wallstein-Verlag, Göttingen 2022, 29 Euro.

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