So richtig böse, wie es im Untertitel angekündigt wird, sind nicht alle Geschichten, die Gregor Müller für diesen Band geschrieben hat. Manche schon. Aber wer jetzt mörderische Weihnachtsmänner erwartet, die durch Leipzig wüten, wird vielleicht nicht auf seinen mörderischen Weihnachtsspaß kommen. Dafür wird er etwas anderes finden: Die ganze moderne Traurigkeit eines Festes, das seinen Sinn schon lange verloren hat. Spätestens mit der Erfindung des Weihnachtsmannes.
Man vergisst es ja nur zu leicht, dass alle unsere heutigen Vorstellungen vom rot gekleideten pausbäckigen Geschenkebringer am Heiligabend Ergebnis eines cleveren und erfolgreichen Marketings sind – eines Marketings, das die Menschen mit lauter heimeligen Bildern und Tönen ködert, am Ende aber nur Konsum zum Ziel hat. Konsum, Konsum, Konsum.
Einsam in L.
Dass aber dieses „Fest der Familie“ längst entkernt ist, hat nun mittlerweile schon ein ganzes eigenes Literaturgenre zum Weihnachtsfest hervorgebracht. In das sich die 18 Kurzgeschichten des Leipziger Rechercheurs und Redaktionsassistenten Gregor Müller nahtlos einreihen.
Darin agieren im Grunde ausschließlich lauter einsame Menschen. Manchmal auch als Geister am festlich gedeckten Tisch des Letzten von ihnen, der überlebt hat.
Aber es geht gleich in Geschichte Nr. 1 los, dem „Zauberhaften Großeinkauf“, mit dem die achtjährige Annette mit ihrem geschiedenen Vater durch die Hauptbahnhof-Promenaden zieht. Ein so typisches Schicksal heutzutage.
Wozu noch kommt, dass ihr Vater als Magier und Illusionist zu jenen kreativen Schaffenden gehört, die mit ihrem Geld geradeso über die Runden kommen – und das Kind eigentlich nicht mit teuren Geschenken überraschen können.
Doch diesmal ist alles ein bisschen anders. Trotzdem Grund genug, mitzufiebern.
Und dass es in „Leipziger Lerche“ eher um die Erkrankung des Vaters geht, wird der zu Besuch kommenden Tochter nur zu bald klar. Im Grunde sind die Geschichten ein Reigen der heutigen Wirklichkeit, die hinter künstlichen Schneeflocken und den immergleichen Weihnachtssongs verborgen bleibt.
Auch denen, die selbst einsam sind und nicht wissen, was sie mit diesem Fest eigentlich noch anderes anfangen sollen.
Platz für ein bisschen Menschlichkeit bleibt trotzdem, wie Asaad in der Geschichte „Das Christkind“ erfährt. Auch wenn wir in unserer Schale aus Betrübnis, gefühlter Ungerechtigkeit und unbelohnter Diensteifrigkeit oft nicht sehen und spüren, was uns die anderen eigentlich mitteilen wollen.
Auch diese moderne Introvertiertheit richtet Verheerendes an, wie eine „Witwe in Abtnaundorf“ erfahren muss. Vielleicht steckt hier der Kern all unserer Fehlentwicklungen: Dass wir mit dem Druck, immerfort etwas beweisen und leisten zu müssen, vergessen, dass es eigentlich nur darum geht, dass wir aufmerksam aufeinander sind.
So, wie es Martin bewusst wird, als er in „Ausfahrt 31“ auf dem Weg nach Leipzig ist und sich kurz vor der Ankunft für ein anderes Ziel entscheidet. Eine Geschichte, die man in einigen Häusern von Connewitz vielleicht doch mit etwas Unbehagen lesen wird.
Denn darf man Mitleid haben mit den Menschen, die das Leben auf die andere Seite der Barrikade verschlagen hat? Eine sehr weihnachtliche Frage.
Gefährliches Fest
Genauso wie die Frage, die sich Hans in der Kurzgeschichte „(Un-)Ruhestand“ stellen muss: Kann ein Kriminalpolizist im Ruhestand eigentlich glücklich werden, wenn er auf einmal keine Straftaten mehr verfolgen darf?
Und wie gehen eigentlich all die Eltern damit um, wenn ihre Söhne als Soldat in Krisengebieten im Einsatz sind? So wie David in „Familienaufstellung“?
Eine ganz gegenwärtige Frage, auch wenn die Bundeswehr so überstürzt aus Afghanistan abgezogen ist, wo David im Einsatz war. Und dort waren viele junge Männer aus Sachsen im Einsatz. Auch das vergisst man so schnell.
Haben wir ein verkorkstes oder gar verkitschtes Bild von Krieg und Frieden? Oder wird hier die ganze Widersprüchlichkeit einer Zeit sichtbar, die sich gern mit Visionen schmückt, aber noch immer von uralten Konflikten zerrissen wird?
Natürlich finden sich in diesem Büchlein auch kleine rabenschwarze Geschichten, in denen menschliche Verfehlungen und Rücksichtlosigkeiten in kleinen, blutigen Tragödien enden – so wie in „Der Schatz vom Silbersee“ oder „Die Weihnachtsbaumspitze“ oder der letzten Geschichte im Buch: „Fertsch“.
Geschichten, in denen die kleinen Dramen menschlicher Beziehungskisten sichtbar werden, in denen sich das jahrelang Unausgesprochene auf einmal entlädt.
Dramen, die auch dadurch zustande kommen, dass Menschen sich ziemlich oft nicht trauen, die eingeschliffenen Rituale und das zweisame Verschweigen aufzulösen. Die sich in ihr Leben fügen – aber eigentlich randvoll sind mit Groll, Verbitterung und schwelender Wut. Auch das ist Sachsen.
Man darf ruhig auch in die trauten Heime schauen, um die Quelle zu suchen für so manchen Frust, manche Eiseskälte und stoffeliges Beleidigtsein.
Denn woher soll auch Mitgefühl für andere kommen, wenn man es nicht einmal in der seligen Partnerschaft zulassen kann und selbst der Kampf um den Weihnachtsbaum zu einem Kräftemessen wird, bei dem keine und keiner nachgeben mag?
Was wünschst du dir wirklich?
Und auf einmal werden die 18 Geschichten zu einer kleinen Lagebeschreibung des Lebens in einer Stadt, die ihre Oberflächlichkeit gern vergisst. Und für etliche ihrer Bewohner weder heimelig noch ermutigend ist.
Da braucht es dann schon den „echten Weihnachtsmann“, der Klaus nach all dem Ärger mit der Suche nach einem Arbeitsplatz für seine Qualifikation wenigstens das Gefühl gibt, in seinen kleinen Wünschen aus der Kindheit erkannt worden zu sein.
Worum es sich ja oft dreht beim großen Geschenkeauswickeln, bei dem es nicht wirklich allen darum geht, möglichst viel möglichst teuren Kram geschenkt zu bekommen. Die meisten sehnen sich eher nach einem Zeichen, dass die anderen etwas mehr sehen in ihnen als jemandem, dem man unbedingt was zu 49,99 schenken muss.
Ja, man erkennt das Leipzig von heute schon wieder, auch wenn man den seltsamen Spielzeugmacher aus „Die Spieluhr“ wahrscheinlich vergeblich sucht, wenn man in Leipziger Vororten unterwegs ist. Es ist eine der Geschichten, in denen es auch ein bisschen unheimlich wird.
Genauso wie in „Joseph und das Weihnachtsoratorium“. Nur dass dieser Geist dem Sängerknaben Joseph doch sehr bekannt und vertraut vorkommt.
Es gibt ja Wünsche, die man auch dann hat, wenn man weiß, dass niemand sie erfüllen kann. Aber das heißt ja nicht, dass man sie abhaken muss. Manchmal treiben sie uns einfach an, das Beste draus zu machen und die Gaben anzunehmen, die das Leben für uns bereithält.
Denn nicht nur Klaus in „Der echte Weihnachtsmann“ merkt ja, dass man meistens völlig irritiert und überrascht ist, wenn uns die Geschenke, die uns wirklich meinen, tatsächlich erreichen.
Grund genug, also doch wieder mit offenen Augen und zuversichtlich hinauszugehen in die Leipziger Nacht. Diesmal vielleicht wieder mit Schnee wie 1890. Manchmal sehen Geschenke auch so aus.
Gregor Müller Unheimlich weihnachtlich! Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 2022, 12,90 Euro.
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