Diesmal keine Fotos vom Krieg. Den musste der ukrainische Fotograf Semjon Prosjak nicht mehr miterleben. Jedenfalls nicht den von Putin ausgelösten Überfall auf sein Heimatland. Denn das hat er schon 1997 verlassen. Seine Frau war es, die ihn zum Umzug nach Halle an der Saale bewegte. Dort starb er 2018. Und gerade so konnte sein Fotoarchiv noch vor der Entsorgung gerettet werden. Ein Archiv, das auch vom Leben in der Ukraine erzählt.

Und von der besonderen Sicht eines Fotografen, der mit seinen Bildern Geschichten erzählt. Stille Geschichten. Poetische Geschichten. T. O. Immisch und Maria Meinel, die versuchen, seine in diesem Band versammelten Fotografien auch ästhetisch einzuordnen, kommen immer wieder auf die zurückhaltende, beobachtende Weise zu sprechen, mit der Prosjak sich seinen Motiven nähert.

Wie auf leisen Sohlen. Bemüht, nicht nur den richtigen Moment abzupassen, sondern auch die Szene nicht zu stören, die er im Sucher hat.

Und wahrscheinlich ist Semjon Prosjak tatsächlich so vorgegangen: behutsam. Und damit ganz ähnlich, wie es auch die großen Dokumentarfotograf/-innen aus Ostdeutschland einst machten, deren Fotobände heute von einem stillen Land erzählen, das es so in der offiziellen Propaganda und der Medienberichterstattung nicht gab. Obwohl es das Land war, in dem die Ostdeutschen tatsächlich lebten.

Die stille Schönheit der Welt

Und so manches an Prosjaks Bildern wird Kennern dieser Fotobände sehr vertraut vorkommen. Als käme man nach langen Jahren der Abwesenheit wieder zurück an die stillen Orte, an denen man aufwuchs – dem Wasser nah – in diesem Fall Dnepr und Samara, wo Prosjak, geboren in Schaschkiw, aufwuchs.

Und das war keine geborgene Kindheit, denn mit dem Geburtsjahr 1931 erlebte er als Kind sowohl den Holodomor mit als auch die Zeit der Stalinschen Säuberungen. Und den Krieg, in dem sein Vater als Soldat sein Leben ließ und der junge Semjon zwei Jahre Lagerhaft erlebte.

Auch das prägt. Und schärft den Blick für die stille Schönheit der Welt und die einfachen Menschen, die unter den großspurigen Heldentaten der Mächtigen und Eitlen immer nur leiden müssen.

Der Band zeigt Fotografien aus drei Schaffenskomplexen, die Prosjak wichtig waren. Der erste zeigt Dnipro, die Großstadt am Dnepr, wo Prosjak einst lebte und arbeitete. Aber er zeigt nicht die Großstadt, sondern ihre Bewohner.

Meist in stillen Situationen – wie sie etwa unter uralten Bäumen auf Bänken sitzen oder im Theater aufgeregt einer Vorstellung folgen. Eine Segelregatta auf dem Fluss, Strandspaziergänger, spielende Kinder. Kinder, die ganz unübersehbar nicht mit Bergen von blinkendem Spielzeug überschüttet wurden, und die trotzdem an den teils wilden Orten, wo sie spielen, alles finden, was man zu einem ausgelassenen Kindsein braucht.

Oder zum Menschsein. Denn Kinder zeigen es uns ja immer wieder, worum es im Leben eigentlich geht. Das Rasen der Zeit spielt für sie noch keine Rolle. Und so findet der Fotograf genau hier das Vertraute, das Selbstverständliche, das seine Bilder so eindrucksvoll macht.

Als könne man einfach hineingehen und selbst wieder die Faszination der wilden Natur erleben. Das intensive Dasein. Ohne ständig an die Geschäfte des nächsten Tages denken zu müssen.

Das verschwundene Sednjew

Und eine ähnliche Zeitlosigkeit prägt auch die Bilder aus Sednjew, einem Dorf in der Nähe des Kernkraftwerks Tschernobyl. Hier hat Prosjak das dörfliche Leben noch eingefangen, bevor der Reaktorunfall von 1986 alles veränderte und Sednjew praktisch verschwinden ließ.

Wobei Prosjak auch hier zwei Dinge besonders reizten. Das eine ist die dörfliche Landschaft, die er in poetische Bilder bannte. Hütten in Nebel und Schnee, abendlich stille Wege, der Mond überm Fluss. Groß ist diese Landschaft, so groß, wie wir sie in unseren zugebauten Städten gar nicht mehr kennen, stellt T.O. Immisch fest.

Man ahnt, wie der Fotograf durch diese abendlichen Landschaften ging und seine Augen den Moment suchten und den Ort, an dem das Gesehene zu einem großen, stimmungsvollen Blick in die Welt wurde.

Und das zweite Motiv seiner Suche waren natürlich die Gesichter der Menschen, denen er augenscheinlich offen und vertraut begegnete. Sie müssen sich für ihn nicht in Pose stellen. Sie müssen auch kein künstliches Lächeln aufsetzen.

Er fotografiert sie auf dem kleinen Markt im Nebel, wo sie das Nötige für den Tag einhandeln, am Gartenzaun, beim Gespräch auf dem Weg. Auch das so ein Gefühl von lebbarer Zeit, wenn Menschen noch miteinander reden können unterwegs und niemand mit der Stoppuhr daneben steht und sie zur Eile drängt.

Bilder eines verschwundenen Ortes. Die in diesem Buch mit den Bildern ins stille Gespräch kommen, die Prosjak dann in Halle und Umgebung aufgenommen hat, wo er sich ziemlich einsam gefühlt haben muss. Auch wenn er hier ganz ähnliche Motive fand – in der Saaleaue, in Parks, auf Friedhöfen.

Dort eben, wo von der Hektik der großen Stadt nichts mehr zu spüren ist. Nur ganz winzig in diesen Bildern die Menschen, die sich hierher verirrt haben, Gast in einer Welt, die sonst nur den Bäumen, den Vögeln, dem Nebel gehört.

Muster im Schnee

Und auch da, wo Prosjak in der Stadt unterwegs ist, sucht er die stillen Momente, die Nachdenklichen am Cafétisch, spielende Kinder wieder, Spaziergänger im Park. Nur die Winterbilder scheinen herauszustechen, fast geometrisch anmutende Blicke auf die verschneiten Straßen und Gleise, wo sich im Schnee die Spuren der Autos und der Menschen abzeichnen.

Aber auch das letztlich: stille Bilder. Bilder eines Beobachters, der die Muster sieht, aber dennoch nicht richtig dazugehört.

Was aber nicht nur der Blick des in Halle gestrandeten Ukrainers ist. Es ist die stille Fremdheit, die die meisten Bewohner dieser Welt auch dann erleben, wenn sie eigentlich in dieser Landschaft und in diesen Städten zu Hause sind.

Aber es trügt, dieses Zuhausesein. Das spürt man meistens, wenn die rasende Geschäftigkeit des Tages einmal abbricht. Unterbrochen wird von Tagen des Nichtstuns, wenn man gar nicht mehr anders kann als auf diese Welt mit einem gelinden Staunen und einer leichten Befremdung zu schauen.

Denn wir sind nur zufällig hier. Und auch nur zeitweilig. Und das alles ist da, ohne dass es uns wirklich gehört. Es wird auch noch da sein, wenn wir nicht mehr als Beobachter auf dem Hügel stehen oder in der Morgendämmerung am Fluss.

Wir sehen es jetzt nur. Der Auslöser klickt. Ein kaum zu greifender Augenblick ist eingefangen. Gerade weil ihn der Fotograf so sah, wird er jetzt zu etwas Besonderem. Und auch Unwiederholbarem. Auch wenn man – mit dem stillen Blick des ukrainischen Fotografen – ähnliche Momente wiederfinden wird.

Eine Vielzahl solcher Momente aus Licht und Dämmerung, die man nur wahrnimmt, wenn man nicht blicklos durch diese Landschaften rast. Sondern zu Fuß geht, innehält und warten kann.

Warten auf den Moment

Viele dieser Bilder sind aufgeladen mit beharrlichem Warten. Denn das richtige Licht ahnt man ja voraus, wenn man wirklich im Schritttempo und behutsam unterwegs ist in dieser Welt. Die Kamera hält fest, was der Spaziergänger wahrgenommen hat als ihn berührendes Jetzt.

Prosjak selbst kommt in diesem Band nur mit seinen Fotos zu Wort. Fotos, die längst eine Gemeinde der Liebhaber gefunden haben. Und der Bewahrer, die sein Lebenswerk nicht einfach verschwinden lassen wollten und retteten, was eigentlich in den Container wandern sollte.

Das Verschwinden ist immer ganz nah. Auch das erzählen eigentlich diese Bilder. Und gerade weil einer wie Prosjak diese Momente des Da-Seins einzufangen verstand, hat er auch vieles über sich erzählt.

Auch über seine Einsamkeit, seine Suche nach einer Sprache, mit der er sich auch über die tatsächlich existierenden Sprachgrenzen hinweg sichtbar und verletzlich zeigen konnte.

Ein Fotoband, der schon beim Durchblättern Sehnsucht erzeugt. Sehnsucht nach draußen. An die stilleren Plätze weit jenseits der lärmenden, ruhelosen Stadt. Eine Sehnsucht, die Prosjak gerade an Dämmertagen hinausgetrieben hat aus seiner Wohnung, warm eingepackt, die Kamera in der Tasche.

Auf der Suche nach der lebendigen Welt, die in einer großen Stille zu uns spricht. Zumindest dann, wenn wir selbst endlich mal innehalten und um uns schauen. Und einmal nichts wollen als da zu sein. Jetzt und hier.

Semjon Prosjak Fotografien Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 30 Euro.

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