Kati Naumann ist fleißig. In den letzten Jahren haben wir die Leipziger Autorin ein bisschen aus den Augen verloren. Auch weil sie selbst auf Abwegen war. Eigentlich gleich nebenan, in Regionen, an die man nicht unbedingt gleich denkt, wenn es um große Romane und Familiengeschichten geht. Dabei passieren auch dort Dramen und Schicksale. So wie im Schlematal im Erzgebirge, wo ihr neuer Roman „Die Sehnsucht nach Licht“ handelt.
Im 2019 erschienenen Roman „Was uns erinnern lässt“ hat Kati Naumann Familiengeschichte am Rennsteig nachgespürt. Mit „Wo wir Kinder waren“ spürte sie 2021 ebensolcher Geschichte in Sonneberg nach.
Zuletzt besprochen haben wir hier ihren zusammen mit Sofie Cramer geschriebenen Roman „Nachtflug“ und das Buch „Die Liebhaber meiner Töchter“. Die Dramen passieren ja gleich nebenan, manchmal uns selbst. Manchmal stecken wir mittendrin und wissen gar nicht, wie uns passiert.
Manchmal merken wir aber auch gar nicht, dass uns tatsächlich eine richtig große Geschichte passiert. Dazu müssen wir gar nicht an Orten leben, an denen mal wieder „Geschichte passiert“.
Ein Ort namens Oberschlema
So wie die Steiners in Oberschlema im Erzgebirge, einem Ort, an dem der Bergbau seit Generationen das Familienleben bestimmt, auch wenn die Zeiten des Großen Berggeschreys lange her sind und die Zeit der Silberfunde auch.
Anfang des 19. Jahrhunderts ist es noch das Kobalt, das aus dem Berg geholt wird und den Männern ein kärgliches Einkommen gibt. Aber auch dessen Zeit geht gerade zu Ende. Die Bergleute stoßen bei ihren Vorstößen fast nur noch auf die völlig nutzlose Pechblende.
Die kann zwar Frau Curie in Paris gut gebrauchen für ihre Experimente mit Uran. Aber deren Bedarf stillen schon andere. Im Grunde ist das Bergarbeiterdorf Oberschlema gerade dabei, sich wieder in ein vergessenes Örtchen in den Bergen zu verwandeln, als mit der Entdeckung einer Radonquelle nach dem Ersten Weltkrieg alles anders wird. Und damit auch das Leben der Steiners, die sich nicht vorstellen können, dass die Männer nicht unter Tage arbeiten.
Oberschlema verwandelt sich binnen weniger Jahre in einen der bekanntesten Kurorte Deutschlands. Mittendrin das Radiumbad, das zwei Jahrzehnte lang das Leben im Ort bestimmt. Bis 1946 der Uranabbau in Oberschlema beginnt und für Jahrzehnte die Wismut AG die Kontrolle übernimmt.
Anfangs eine rein sowjetische Aktiengesellschaft, später mit DDR-Beteiligung. Im Anhang des Buches hat Kati Naumann die wichtigsten Jahreszahlen zusammengefasst, die das Leben in Oberschlema in dieser Zeit bestimmten – und damit auch das Leben der Steiners.
Und zwar nicht nur das der Männer. Denn Kati Naumanns Geschichten sind immer Familiengeschichten. Geschichten, die sichtbar machen, dass es ohne Frauen nicht geht. Starke und eigensinnige Frauen, die nicht nur den Haushalt machen und die Kinder kriegen, sondern auch selbst mit anpacken.
Etwa beim Bau eines eigenen größeren Hauses, um damit Kurgäste unterbringen zu können. Nicht ahnend, dass das „Haus Martha“ schon wenige Zeit später im Erdboden versinken wird, weil der wilde Bergbau nach 1945 den Untergrund unter dem Ort völlig durchlöchert hat.
Weltgeschichte im Schlematal
Es ist ein Stück ganz realer Geschichte, das Kati Naumann ihre Romanheldinnen und -helden miterleben lässt. In diesem Fall sogar Weltgeschichte. Denn dass die Sowjetunion so scharf war auf das Uran aus dem Erzgebirge, hat ja mit dem sowjetischen Atombombenprogramm zu tun.
Ohne das aus dem Erzgebirge importierte Uran wäre die Sowjetunion gar nicht in der Lage gewesen, ihr Wettrennen um die Atomvormacht mit den USA zu starten.
Das Ergebnis war nicht nur ein Ort, der auf einmal samt Kirche in den Tiefen versank, sondern auch eine rücksichtslose Umweltbelastung mit ungesicherten Halden und Schwermetallen, die in die Flüsse gespült wurden.
Doch die Wismut bot den Bergleuten auch eine Arbeit, die besser bezahlt wurde als anderswo im Land. Es gab Vergünstigungen, eine eigene Klinik und eine zunehmend bessere Ausstattung der Schächte, die immer tiefer ins Erdreich getrieben wurden.
Aber die Sorge um die Männer – und Frauen – im Berg wurde nicht weniger. Der Titel „Sehnsucht nach Licht“ erzählt im Grunde von diesem Bangen und Warten. Die Ungewissheit gehörte jahrhundertelang zum Leben der Bergarbeiterfamilien.
Und wer bisher seinen weihnachtlichen Schwibbogen gedankenlos ins Fenster stellte, erfährt hier, warum die Familien der Bergleute die Kerzen einst ins Fenster stellten. Kerzen, die den heimkehrenden Bergleuten auch in der Nacht den Weg nach Hause zeigten.
Das Warten
Umso belastender das Warten, wenn einer nicht zurückkam. So wie in dieser Geschichte Rudolf, der Großonkel von Luisa, die als Vermesserin arbeitet und auch am Wochenende im Besucherbergwerk zu finden ist. Doch ihrer Großtante Irma verspricht sie, die Suche nach deren verschwundenem Bruder wieder aufzunehmen.
Ein Versprechen, von dem sie anfangs nicht ahnt, dass es sie bis nach Kiew und Moskau führen wird. Was im Jahr 2019, in dem Kati Naumann die Gegenwartshandlung spielen lässt, noch möglich war.
Doch die eigene Familiengeschichte ist bei den Steiners immer lebendig. Ein Stichwort genügt und alte Vorkommnisse werden wieder lebendig. Gelegenheit für die Autorin, immer wieder zurückzublenden in die Geschichte Oberschlemas und mit großer Sachkenntnis zu erzählen von den dramatischen Veränderungen im Ort, der kurzen Blütezeit des Radonbades und der technischen Entwicklung im Nachkriegsbergbau.
Da lässt sie Irma zwar durchaus auch in der Uniform der Kampfgruppe landen, weil die sich damit erhofft, eine Wohnung für ihre Tochter Michaela zu ergattern.
Aber da ist längst zu spüren, dass die DDR nicht mehr funktioniert. Nicht mehr richtig. Die Versorgungslage verschlechtert sich, die Feste für die Bergarbeiter werden dürftiger, die Reden der Funktionäre klingen leerer. Und irgendwann machen auch Gerüchte die Runde, dass die Sowjetunion das Uran aus dem Erzgebirge nicht mehr braucht.
Und auch wenn die großen Demonstrationen um Oberschlema einen Bogen machen, wird auch dieser Ort von den historischen Ereignissen von 1989 erfasst. Auch dieser Ort war eigentlich nie außerhalb dieses Stroms, den man meist gar nicht spürt, wenn man mittendrin lebt und einfach versucht, die Kinder groß zu kriegen, was Ordentliches auf den Tisch zu bringen und gesund zu bleiben in einer Umwelt, von der man nur ahnen kann, dass sie ganz und gar nicht gesund ist.
Wenn einer nicht heimkehrt
Spätestens als die verwirrenden Nachrichten zum Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 auch nach Oberschlema durchdringen, wird auch den Gutgläubigen klar, dass die hochgepriesene Atomtechnologie doch nicht die saubere und sichere Energiequelle der Zukunft ist, die die Funktionäre immer anpreisen.
Heute ist Aue-Bad Schlema wieder Kurort. Die größten Schäden durch den Uranbergbau sind mittlerweile beseitigt. Nur einzelne Relikte erinnern noch an die Wismut-Geschichte. Aber bei den Steiners ist die Geschichte noch immer lebendig. Und auch der über 90-jährige Wilhelm kann erst beruhigt Abschied nehmen, als ihm Irma das Versprechen gegeben hat, weiter nach Rudolf zu suchen.
Dass er dabei Luise als Baby auf dem Arm hält, ist eine der vielen berührenden Szenen im Buch, in denen Kati Naumann im Grunde spürbar macht, was Menschen tatsächlich zusammenhält und berührt im Leben. Es sind nicht die Orden und nicht die Uniformen, nicht die Parteitagsreden und Leistungsprämien.
Es ist die Verbundenheit mit diesen Menschen, die einem geschenkt sind – als Eltern, Großeltern, Kinder, Enkel. Menschen, die einem selbst dann vertraut sind, wenn sie – wie Michaela – die Familientradition nicht fortsetzen wollen.
Dass die Suche nach Rudolf dann auch die finsteren Seiten der Jahre 1951 bis 1953 in der Wismut thematisiert, gehört zu dieser sehr speziellen sächsischen Geschichte. Denn auch der sowjetische Geheimdienst war in der Wismut AG installiert und mindestens 70 Wismut-Mitarbeiter wurden wegen vermeintlicher Spionage in die Sowjetunion verschleppt und dort hingerichtet.
Der Reichtum der Heimat
So steht das Licht auch für die Sehnsucht nach Klarheit und Wissen. Und so wie die Suche nach Rudolf die Frauen zu ihrer wagemutigen Reise nach Moskau aufbrechen lässt, so entwickelt sich auch Kati Naumanns Roman zu einer Suche nach der Geschichte eines Ortes, der für gewöhnlich auf den Landkarten der Geschichte keine Rolle spielt. Und der dennoch nicht wegzudenken ist – aus der Bergbaugeschichte Sachsens genauso wenig wie aus der Geschichte des Kalten Krieges.
Nur: Wie erleben Menschen solche Geschichte eigentlich? Genau das wird deutlich, indem Kati Naumann den Roman in einer typischen (wenn auch erfundenen) Familie handeln lässt – mit all ihren Sorgen, Freuden, Träumen und der tiefen Verbundenheit zu dem Ort, an dem sie leben.
Das ist mit dem Begriff „Heimat“ nicht zu fassen. Im Gegenteil. Es sprengt ihn, weil es zeigt, dass sich Menschen nicht nur identifizieren mit dem Ort, an dem sie aufgewachsen sind, sondern ihn auch formen und mitgestalten. Und sei es nur tief unten in den Schächten, wo sie die Metalle suchen, die den Reichtum dieser Region ausmachen.
Immer noch. Denn ganz am Ende kann ja Kati Naumann darauf verweisen, dass längst schon wieder nach wertvollen Bodenschätzen gesucht wird im Erzgebirge – wieder anderen als in der langen Geschichte zuvor. Denn jetzt sind es die Seltenen Erden, nach denen die Industrie hungert.
Wer diese Familiengeschichte gelesen hat, wird auch den Ort der Handlung mit anderen Augen sehen, vielleicht nicht mal auf der Suche nach den letzten Zeugen von Kurhotel und Wismut-Schächten. Aber mit Blick auf eine Landschaft, der man heute nicht mehr ansieht, wie sehr sie von Menschen umgestaltet wurde und wie tief die Wunden waren, die der Erde hier zugefügt wurden.
Und natürlich mit Blick auf die Menschen, die sich hier eben deshalb zu Hause fühlen. Denn Menschen ziehen nicht einfach weg, wenn die Zeiten rauer werden. Es verbindet sie viel mehr mit dem Ort, an dem sie aufgewachsen sind, als man als Außenstehender zu sehen vermag.
Oder als all die Heimattümler, die ein Märchenbuchdenken über das Konstrukt „Heimat“ verbreiten, das mit den realen Widersprüchen, Herausforderungen und Vorstellungen von einem geglückten Leben nie übereinstimmt. Nicht übereinstimmen kann.
Die große Geschichte im Alltag
Und dabei schildert Kati Naumann die familiären Beziehungen so völlig unromantisch, dass auch Leser/-innen, die nie im Erzgebirge waren, durchaus an eigene Erfahrungen erinnert sein dürften. Denn mit offenem Auge betrachtet, ist Oberschlema an vielen Orten in diesem Land zu finden.
Orten, an denen das Leben oft rau und hart war, wo die Erde aufgewühlt wurde und der Broterwerb oft mit einem eher kärglichen Dasein verknüpft war. Und mit dem Warten, abends, wenn es schon dunkel wurde, mit der bangen Frage, ob alle, die morgens losgezogen sind, am Abend auch wieder heil zurückkehren.
Dieser Alltag ist so lange nämlich noch nicht her. Man vergisst das in einer Wohlstandsgesellschaft, die die halbe Welt da draußen für sich arbeiten lässt, nur zu leicht. Genauso, wie man den stillen Stolz vergisst, den Menschen in sich tragen, die jahrelang hart gearbeitet haben und auch auf eine zermürbende und schwere Arbeit stolz waren. Noch so ein Geschichtsstrang, der gern ausgeblendet wird, wenn „große Geschichte“ geschrieben wird.
Und dabei passiert richtige Geschichte überall. Und Kati Naumann erzählt sehr dicht und einfühlsam, wie sie geschieht. Und wie wir sie erleben, scheinbar ganz alltäglich. Ohne Fanfaren und großes Tamtam. Und trotzdem reicht die Erinnerung eines einzigen Lebens, um atemlos zu werden bei allem, was man da – so ganz beiläufig – erlebt hat.
Kati Naumann Die Sehnsucht nach Licht HarperCollins, Hamburg 2022, 22 Euro.
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