Stück für Stück schreibt Cornelia Lotter über Aspekte unserer Geschichte, die in den üblichen Geschichtsbüchern ausgeblendet, ignoriert, „vergessen“ wurden. Aspekte, die zeigen, wie selbst die öffentliche Erinnerung aussortiert und abwertet. Was immer wieder vor allem auch Frauenschicksale betrifft. Sie werden in Kriegen und Diktaturen immer wieder zur Verfügungsmasse für gewalttätige Männer.

In der NS-Zeit wurden sie nicht nur zu Millionen ermordet, sondern auch zur Zwangsarbeit gezwungen. So wie Colette, die Heldin aus Lotters Roman „Der Dirnenblock“, den sie in zwei Teilen veröffentlicht hat.

Während der erste Teil das Schicksal der Winzertochter aus dem Elsass im besetzten Frankreich ab 1940 erzählte und ihre Verhaftung und Verschickung in ein Zwangsarbeiterbordell in der Leipziger Moritzstraße, erzählt der zweite Band nun davon, wie es ihr erging, nachdem sie an ihrer Arbeitsstelle in der Messgerätefabrik Schirmer & Richter denunziert und ins KZ Ravensbrück gebracht worden ist.

Wenn Menschenwürde nicht mehr zählt

Im Grunde sind Cornelia Lotters Bücher Warnungen an eine sich zunehmend radikalisierende Gesellschaft, so etwas nie wieder zuzulassen und den wohlfeilen Sprüchen neuer Heilsverkünder nicht aufzusitzen. Denn das Ende des NS-Regimes ist ja schon 77 Jahre her. Die es erlebt haben, sind fast alle tot oder hochbetagt. Die jüngeren Generationen kennen die brutale Gewalt von SS und Gestapo nicht mehr aus eigenem Erleben.

Und Verharmloser gibt es längst wieder genug, die sich als blütenweiße Demokraten und auch nur ein bisschen besorgte Bürger tarnen, aber genau das wieder im Sinn haben: ein autoritäres Herrschaftssystem mit einer „starken Partei“ an der Spitze, die Deutschland wieder den Platz an der Sonne verschafft, von dem diese Leute glauben, dass der den Deutschen zustünde.

Auf der Strecke bleiben dabei sämtliche Menschenrechte, von Recht und Gerechtigkeit ganz zu schweigen. Denn schon in Frankreich erlebt Colette, dass es keine rechtliche Instanz gibt, die sie anrufen kann. Das Denken der faschistischen Machthaber macht alle Menschen verdächtig.

Die Menschen des eroberten Landes sowieso. Im Nachwort zu diesem Band geht Cornelia Lotter auf etliche Ergebnisse ihrer Forschungen ein, die die Aspekte der systematischen Rechtlosigkeit all der Menschen zeigen, die damals in den von der Wehrmacht eroberten Ländern lebten. Mit Abstufungen, denn selbst unter den in die Konzentrationslager verschleppten Menschen wurde systematisch die Rassenideologie der Nazis umgesetzt und die Gefangenen aus Russland und Polen noch grausamer und unwürdiger behandelt als z.B. die aus Frankreich.

Zum „Menschenmaterial“ herabgewürdigt

Obwohl auch die Frauen, die mit Colette in Ravensbrück eingesperrt wurden, erlebten, wie sie in der Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie systematisch ausgehungert und zerstört wurden. Auch Ravensbrück war ein Todeslager und mit den dort eingepferchten Frauen wurde so gnadenlos umgegangen, dass ihr baldiger Tod regelrecht einkalkuliert war.

Lotter schildert das im ersten Teil des Buches sehr anschaulich. Auch Colettes Überlebenschancen sind minimal. Und am Ende steht sie ein zweites Mal vor der Entscheidung, ob sie dann – um zu überleben – doch wieder das vergiftete Angebot der SS annimmt, sich als Prostituierte im KZ Buchenwald zu verdingen. Obwohl es ja kein Verdingen ist. Nur die Wahl zwischen dem Zerstörtwerden und dem Missbrauchtwerden.

Und so wie Cornelia Lotter im ersten Band den Leipzigern erzählt, was damals in der Riebeckstraße 63, in der Moritzstraße und im heutigen „Werk 2“ geschah, so erzählt sie in diesem zweiten Band von einem Kapitel, das auch in der Erinnerung an das KZ Buchenwald ausgelöscht war: dem Dirnenblock, der dort 1943 tatsächlich eingerichtet wurde. Zur Hebung der Arbeitskraft der dort ebenfalls in Rüstungsfabriken tätigen Zwangsarbeiter, wie Colette ziemlich bald erfährt. Vorbild: der sowjetische Gulag.

Diktaturen ähneln sich allesamt, egal, welche Ideologie die Mächtigen auf ihren Parteitagen verkünden. Sie alle betrachten Menschen nur als „Material“, das zu funktionieren und zu parieren hat, das Befehlen zu gehorchen hat und in Materialschlachten verheizt wird. Menschenwürde und Selbstbestimmung gibt es da nicht. Und wer nicht mehr richtig funktioniert, wird vernichtet. So ticken Diktaturen.

Wo endet Menschenwürde?

Auch die Arbeit als Prostituierte im von der SS überwachten Dirnenblock bedeutet für Colette nicht die endgültige Rettung. Schon eine Schwangerschaft kann bedeuten, dass sie wieder zurückgeschickt wird nach Ravensbrück. Aber Cornelia Lotter nutzt die Gelegenheit auch, um die Machtstrukturen im KZ Buchenwald ein bisschen deutlicher zu zeichnen – bis hin zur Rolle der kommunistischen Häftlinge, die im Lager zuletzt die wichtigsten Strukturen kontrollierten, was die genauso verstörende Frage aufwirft: Waren sie damit Handlanger der KZ-Leitung? War das schon Kollaboration?

Ein nicht ganz abwegiges Wort, es beschäftigt auch Colette, die sich ja im Band 1 in einen deutschen Major verliebt hatte und als dessen Sekretärin arbeitete. Es ist ein falsches Ideal, wenn Historiker immer nur den radikalen Widerstand würdigen und Menschen, die unter einem Besatzerregime leben müssen, eine radikale Verweigerung abverlangen, die die meisten nicht haben.

Nicht haben können, weil es vor allem ums bloße Überleben geht, ums karge Brot und den nächsten Tag. Was die echten Kollaborateure nicht ausschließt. Aber gerade am Beispiel Colette zeigt Cornelia Lotter, wie wenig genügt, als junge Frau in die Grauzone zu geraten. Eben noch hoffend, im Schutz des scheinbar mächtigen Majors die harte Zeit zu überstehen, und sich dann doch völlig entrechtet den Fängen der Gestapo ausgeliefert zu sehen.

Was moralisierende Historiker eben oft und nur zu gern übersehen: dass es um Strukturen geht. Strukturen, die den grausamsten und schäbigsten Leuten Karrieren ermöglichen und ihrer entfesselten Menschenfeindlichkeit alle Verfügungsgewalt geben. Leuten, wie sie Colette immer wieder trifft, auch wenn sie spätestens mit den ersten Bombenangriffen, die auch das Lager Buchenwald treffen, sieht, wie die brutalen SS-Männer beginnen sich zu verändern, nervös werden, ängstlicher und sogar auf verstörende Art freundlicher, weil sie natürlich merken, dass der ganze gloriose Traum von deutscher Größe gerade in die Binsen geht und ihre Opfer schon bald ihre Richter sein können.

Wobei Colette auch in dieser Zeit schon so ihr Zweifel hat, ob die Täter nach der Befreiung tatsächlich bestraft werden und nicht alles doch wieder vertuscht und „vergessen“ wird.

Wie bewahrt man sich seine Menschlichkeit?

Wobei Cornelia Lotter im Nachwort auch auf die ostdeutsche Rezeptionsgeschichte dessen eingeht, was da in Buchenwald geschah. Immerhin erschien ja 1958 mit Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“ das meistgelesene Buch über Buchenwald und die dort wirkende kommunistische Widerstandsgruppe. Und das in einer Zeit, in der die Machtgruppe um Walter Ulbricht in der SED längst aufgeräumt hatte mit all den Genossen, die in der NS-Zeit nicht nach Moskau geflüchtet waren, sondern im Land versuchten, Widerstand zu leisten, und dann meist in den Konzentrationslagern der Nazis landeten.

In der DDR waren sie kaltgestellt, durften in Schulklassen von ihrer Erfahrung im KZ erzählen. Aber von den Machtpositionen im Land waren sie ausgeschlossen. Oder erlebten einen gnadenlosen Absturz wie Hasso Grabner, über den Francis Nenik in „Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert“ erzählt.

In der Regel gibt es nach der Zerschlagung einer Diktatur keine Verschnaufpause, werden nicht alle Verbrechen aufgearbeitet, kann auch die Frage von Schuld und Sühne nie wirklich abschließend geklärt werden. Auch nicht die Frage, wie tief die seelischen Verletzungen reichen. Und oft bestimmen dann neue Machthaber, wie „richtig“ erinnert wird und wer trotz aller Leiden und Erniedrigungen keine Wiedergutmachung erhält. Und speziell bei Themen wie der Prostitution wurde in der Vergangenheit immer sehr schäbig reagiert. Gerade mächtige Männer schieben nur zu gern alle Schuld auf die Frauen, die sich prostituieren mussten. Die falschen Bilder über die Prostitution beherrschen auch heute noch Teile der Politik.

Doch die Heldin in Cornelia Lotters Roman versucht auch in diesem Ausgeliefertsein ihre Würde zu behaupten, sich anständig zu benehmen und ihren Leidensgefährtinnen zu helfen. Selbst für so etwas wie Freundschaft und Liebe bleibt Platz, das, was auch unter den schlimmsten Bedingungen hilft, sich seine Menschlichkeit zu bewahren. Denn auch diese Erfahrung macht sie: Dass man mit seiner Menschlichkeit am Ende auch sich selbst aufgibt.

Vergessene Schicksale

So gesehen sind Lotters Romane über die Korrektions- und Zwangsanstalten in unserer Region auch Romane, die zeigen, worauf Diktaturen und Autokratien aller Art immer abzielen: die Zerstörung der menschlichen Würde. Und dazu wählen sie sich nur zu gern auch die Schwächsten – Kinder und Frauen. Deren Schicksale dann hinterher meist vergessen werden, weil darin das übliche „Heldentum“ nicht zu finden ist, sondern andere Fragen gestellt werden.

Unter anderem eben die, wie man überlebt unter solchen Zuständen, ohne innerlich zu zerbrechen. Wie man seine Menschlichkeit bewahrt, obwohl es so viel leichter scheint, mit den Wölfen zu heulen und selbst zum Wolf zu werden.

Und siehe da: Das ist auch eine heutige Frage. Eine sehr heutige.

Die um einiges klarer wird, wenn man mit Colette erlebt, wie wehrlos eine junge Frau letztlich den Zugriffen und Zumutungen eines gnadenlosen Systems ausgeliefert ist. Ein fiktives Schicksal, betont die Autorin. Auch deshalb, weil die zur Prostitution gezwungenen Frauen nach dem Krieg lieber nicht an die Öffentlichkeit gingen mit ihrem Erlebten. „Die Arbeit war schambesetzt und wurde von ihren Bekannten und Verwandten als Schande und nicht als notwendiges Übel zum Überleben betrachtet“, schreibt Lotter.

Und sie verbindet ihre Geschichte auch mit einem weiteren Hinweis darauf, wie mit Frauen in und nach Kriegen immer wieder umgegangen wird, denn die wenigsten zur Prostitution gezwungenen Frauen wurden später entschädigt. „Die Frauen wurden also ein zweites Mal ihrer Würde beraubt. Fachleute bezeichnen diesen Vorgang, der ebenfalls bei den zu Hunderttausenden von alliierten Soldaten vergewaltigen Frauen bekannt ist (was eines der Themen meines nächsten Romans sein wird) als ‚sekundäre Viktimisierung‘.“

Da gibt es noch eine Menge sichtbar zu machen. Jenen Teil der Geschichte nämlich, der in den üblichen Helden- und Siegergeschichten niemals vorkommt.

Cornelia Lotter „Der Dirnenblock. Teil 3 & 4“, BoD, Norderstedt 2022, 13,90 Euro.

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