Nachts kannst du was erleben. Oder auch nicht. Denn die Nacht gehört eigentlich eher denen, die mit dem Tag nicht zurechtkommen. Sie gehört den Ruhelosen, denen, die nicht schlafen können. Die ihren Platz nicht finden können in einer geschäftigen Welt. Natürlich auch denen, die auch nachts noch auf den Straßen sein müssen, weil die Schlafenden am nächsten Tag „alles frisch“ haben wollen.
15 Geschichten hat der Wiesbadener Autor Alexander Pfeiffer über die Gestalten der Nacht geschrieben. Eine Symphonie wird es nicht wirklich. Eher 15 Kammerstücke mit kleiner Personage, die ihren Weg in die Thüringer Edition Outbird gefunden haben, wo die Kammerstücke einer ziemlich kaputten Gesellschaft eine Heimat bzw. ein Nest gefunden haben.
Einer Gesellschaft, die tagsüber ihren falschen Wohlstand herumträgt, als wäre der ganze Krempel in irgendeiner Weise Ersatz für Nähe, Geborgenheit und Lebensfreude. Nicht eher die Krücke, die die Sprachlosigkeit und Anonymität jenseits von Prahlerei und Eitelkeit irgendwie aushaltbar machen würde.
Im Gefängnis des eigenen Lebens
Nachts aber sind die unterwegs, die keine Krücke (mehr) haben. Kein Zuhause, sondern nur noch die Straßen, die Hotels, die Bars und den Anblick der Züge, die mit erleuchteten Fensterreihen in die Dunkelheit fahren. In einer Geschichte, für die Pfeiffer sogar den Glauser-Preis bekommen hat, ist einer die Hauptgestalt, der nachts herumläuft und glaubt, die Welt mit Feuern erretten zu können.
In der „Mitternachtssymphonie“ erlöst ein Wachmann eine gealterte Schauspielerin, die seit Tagen auf einen Anruf ihrer Agentur wartet, wenigstens für ein paar Stunden aus ihrer Einsamkeit.
Die „Dichter im Hotel“ verlieren sich in einer unauflöslichen Dreiecksgeschichte, die auch der Konsum einer ganzen Batterie von Bierflaschen nicht lösen kann. „Im Gefängnis der Nacht“ verkriecht sich einer regelrecht vor der Welt, verbringt die Nächte mit uralten Filmen in seiner Wohnung – und auch die charmante Nachbarin kann ihn daraus nicht erlösen.
Denn alles Reden führt zu Misstrauen und Missverständnissen. Nachts gilt: Sie konnten zueinander nicht kommen. In „Ein toter Mann wiegt mehr als ein gebrochenes Herz“ flickt nicht einmal mehr ein Heiratsantrag eine kaputte Beziehung.
Eine Geschichte, die auf knappem Raum sichtbar macht, wie sehr das Leben der Einsamen auch von falschen Hoffnungen und Erwartungen geprägt ist. Als wären alle mit Märchen oder Groschenheften aufgewachsen, in denen in der Regel ein Wort, ein Blick, ein gläserner Schuh genügen, und das Glück kann beginnen.
Man weiß nie, wozu es noch mal gut ist
Doch das Glück ist kein Sternenregen und kein Zauberspruch. Manchmal ist es nur eine verkaufte Seele, so wie in „Die im Trüben fischen“. Ein simples Geschäft mit der Attraktivität einer jungen Frau, die einem Filmprojekt 3 Millionen Euro Finanzierung sichern soll.
Man merkt schon, dass Alexander Pfeiffer auch immer wieder das Metier beschreibt, in dem er tätig ist als Schriftsteller, Literaturveranstalter und Leiter von Schreibwerkstätten.
Sein Handwerk beherrscht er – in diesem Fall die Kurzgeschichte, die ein in Deutschland nicht wirklich gepflegtes Genre ist, eher ein Kraut-und-Rüben-Garten, in dem alles, was kurz aussieht, als Geschichte gehandelt wird, auch wenn gar nichts geschieht und der melancholische Weltbeschauungsballast überwiegt.
In Pfeiffers Geschichten (der Verlag hat sie unter Erzählungen klassifiziert – man misstraue den Klassifizierungen!) passiert immer etwas. Denn Pfeiffers Figuren sind keine als Nachtgestalten verkleideten Philosophen.
Sie sind mit all ihren Verlusten, Ängsten, Sperrigkeiten sehr real. Manchen begegnet man in den täglichen Polizeiberichten. Der Held aus „Nachts auf Tour“ könnte dazugehören, genauso wie der aus „Der dunkle Ort“.
Etwas treibt sie Nacht für Nacht auf die Autobahn, lässt sie dort aus ihren alten Autos auch noch das letzte an Geschwindigkeit herausholen, während die blauen Schilder vorbeijagen und die weiße Linie immer näherkommt.
Doch es geht ihnen eigentlich nicht ums Rasen, nicht um den Nervenkitzel. Sie sehen genauso müde und fertig aus wie die Trucker, denen sie an den Raststätten begegnen und mit denen sie sich unterwegs Rennen liefern, sich abdrängen lassen oder die riesigen Laster ausbremsen, erfüllt von einer Wut, die sich in kleinen, bösen Gesprächen entlädt.
Denn tatsächlich sind sie ganz und gar nicht in derselben Welt unterwegs wie die Trucker, die sich mühsam mit Kaffee wachhalten, um ihre Fracht rechtzeitig ans Ziel zu bringen.
Ihnen fehlt dieses Ziel. Dafür haben sie etwas, was sie vergessen wollen. Ihr Aufenthalt in der Nacht ist eine Flucht. Und nicht nur ihrer. Im Grunde erzählen fast alle Geschichten von der Unfähigkeit der auftretenden Gestalten, sich wirklich einzulassen auf andere. Oder sich selbst.
Auch wenn man in „Rallye Solitaire“ einem begegnet, der seine neue Aufgabe darin gefunden zu haben scheint, einen jungen Mann vom Sprung von der Eisenbahnbrücke abzuhalten. Dabei hilft der Spruch, den er sich wohl selbst immer wieder sagt, um die immergleichen Tage im Auto durchzuhalten: „Weißt du, das ist das Komische im Leben. Man weiß nie, wozu es noch mal gut ist.“
Die Nachtseite der Wohlstandsgesellschaft
Das ist etwas anderes als „hinterm Horizont geht’s weiter“. Die Nachtgestalten in Pfeiffers Geschichten leben nicht in einer heilen Welt. Manche sind einfach nur froh, irgendwo weggekommen zu sein, ohne dass sie dabei einen neuen Ort gefunden hätten, an dem sie sich wieder geborgen fühlen.
Geborgen fühlt sich keiner in diesen Geschichten. Die Orte, die nächtlich erleuchtet auftauchen, sind Orte der Durchreise, kein wirklicher Aufenthalt. Also das, was viele eben doch als ihr Leben erfahren in einer Gesellschaft, die die Last ihres Wohlstands mit Einsamkeit bezahlt. Und mit Nachtarbeit.
Und – das gehört wohl auch dazu – einem tiefsitzenden Zynismus. Denn in einer Gesellschaft, in der der schöne Schein wichtiger ist als die menschliche Ehrlichkeit, regiert der Zynismus.
Der sich in der Geschichte „Regenmenschen aus Papier“ regelrecht paart mit der meist unter der Oberfläche versteckten Mitmenschlichkeit. Die so gern verächtlich gemacht wird von all unseren hauptamtlichen Zynikern. Aber sie ist noch da.
In diesem Fall nutzt sie ein cleverer Bibelverkäufer aus, der am Ende nur knapp dem Verprügeltwerden entgeht.
Doch da ist das Kind, das eben nicht nur Mitgefühl erweckt, sondern auch vom verlorenen Halt im Leben des Mannes erzählt, der halb mit Neid, halb mit Verachtung auf die schlafenden Menschen hinter den Fenstern gegenüber schaut: „Unter einem blassen Mond verwischen unsere Konturen mit denen von Dächern, unter denen jetzt wahrscheinlich Menschen schlafen, deren Leben den Ordnungsprinzipien von Erwerb und Produktion folgen. Väter, Kinder, Mütter. Die Regentropfen, die an der Scheibe herunterlaufen, rinnen durch und hindurch. Als würden wir mit dem Regen verlaufen.“
Eigentlich wird nichts gut, in keiner Geschichte. Die Einsamen bleiben einsam. Und dennoch ist etwas passiert, ist jede Geschichte wie ein Blick in ein fremdes Leben, das sich kurz zeigt, wie es ist in seiner Ruhelosigkeit und seinem Verlorensein.
Die Nacht ist ein Fluchtort, an dem scheinbar andere Regeln gelten. Aber das ist eine Illusion. Es gelten dieselben Regeln. Nur gehört sie jetzt all denen, die sich in Menschenmengen nicht (mehr) wohlfühlen und dem täglichen Getriebe nicht mehr gehorchen können. Oder nicht mehr genügen.
Die hellerleuchteten Straßen führen nirgendwo hin. Nur im Unterschied zu den meisten Tagmenschen ist Pfeiffers Figuren nur zu klar, dass ihr Leben im Leerlauf ist. Und sie vielleicht niemals erfahren werden, ob das Leben doch noch zu was gut ist.
Alexander PfeifferMitternachtssymphonie Edition Outbird, Gera 2022, 13,90 Euro.
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