„Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh“, schreibt Marlen Hobrack ganz zum Schluss ihres Buches. „Das ist ein rohes Bild, aber es beschreibt ziemlich genau das Gefühl. Was, wenn man aufsteigen kann, aber einem die Herkunft anhaftet, wenn man Herkunft wie ein Zeichen eingraviert in der Stirn mit sich herumträgt?“ Sie weiß, wovon sie schreibt. Denn sie weiß, wie das ist, wenn man von ganz unten kommt.
Ganz unten, das ist da, wo man für das Lebensnotwendigste arbeiten muss und das Geld am Monatsende trotzdem alle ist. Wo man keine Ersparnisse anlegen kann und nur die Stirn runzelt über die ganzen Märchen über deutsche Sparer, die sich über mickrige Zinsen ärgern. Da unten besitzt man nichts. Auch keine Wohnung und kein Haus. Aktien schon mal gar nicht. Man arbeitet zwar sein Leben lang, zahlt 50 Jahre in die Rentenkasse ein und bekommt dann doch nur Sozialhilfe. Man rutscht in Schulden, wenn auch nur das Geringste schiefgeht. Und man kann seinen Kindern keinen Aufstieg erkaufen.
Die Auslese beginnt in der Schule
Und das beginnt in der Schule, wenn so ganz simple Fragen wie der eigene Schreibtisch, ein eigenes Zimmer, Bücher zum Vorlesen, abgetragene Klamotten und ein bisschen Unterstützung durch die Eltern darüber entscheiden, ob das Kind gute Noten bekommt oder in der vierten Klasse nur die Empfehlung für die Oberschule.
Es ist ein aufrüttelndes, kluges und sehr lebendiges Buch, das die in Bautzen geborene Medienwissenschaftlerin und Journalistin Marlen Hobrack hier verfasst, fast schon wieder aufgegeben und dann durch den Zuspruch eines guten Freundes doch noch geschrieben hat. Denn auch wenn sie viele gute Bücher, die sich inzwischen wieder mit Klasse und Klassismus beschäftigen, zitiert, gab es so ein Buch auf dem deutschen Büchermarkt nicht. Denn: Wer hätte es schreiben können?
Ganz bestimmt niemand, der nicht die Erfahrung gemacht hat, wie das ist, wenn man von ganz unten kommt und schon in der Schule erlebt, wie das Stigma der Armut einem nicht nur anhaftet, sondern direkt in die Außenseiterrolle führt – und zu Mobbing durch Mitschüler, die es verinnerlicht haben, dass man auf Menschen, die sich die Standards des gut versorgten Mittelstandes nicht leisten können, mit Verachtung herabschaut. So selbstverständlich, dass sie es nicht einmal merken. Denn es wird ihnen beigebracht – ganz stillschweigend und selbstverständlich, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und dass es darin ruppig, rücksichtslos und mit Ellenbogen zugeht.
Eine Haltung, die auch die Ostdeutschen nach 1990 zutiefst verinnerlicht haben. Ein Thema, das Hobrack an einer Stelle im Buch sehr gründlich unter die Lupe nimmt. Denn mit ihrer Sozialisation in diesem grummelnden Osten will sie natürlich wissen, warum das so ist, ob denn diese „Ossis“ tatsächlich alle von Natur aus fremdenfeindlich und rassistisch sind. Aber wer so an die Sache herangeht, versteht nicht, was da passiert ist.
Und dass das, was da wütend und verbittert über die Straßen zieht, im Grunde der erfolgreiche ostdeutsche Mittelstand ist, Ostdeutsche, die es geschafft haben, die nach 1990 ihre Chancen ergriffen haben und sich emporgearbeitet haben – in neuen Jobs, in neuen Unternehmen. Die also alle Lehren des triumphierenden Neoliberalismus verinnerlicht haben – und auch die Angst, die damit entsteht.
Die Politik gewordene Abstiegsangst der Mittelklasse
Denn die Mittelschicht hat immer Angst. Weil sie weiß, dass sie – das Bild benutzt Hobrack sehr gern – ihre ganze Existenz auf einem Sandhaufen aufgebaut hat, auf dem permanent alle Menschen darum kämpfen, oben an die Spitze zu kommen. Und sich dabei versuchen beiseite zu drücken, zu überholen und zu behindern. Das steckt ganz bildhaft hinter dem Aufstiegstraum der deutschen Mittelschicht, die längst schon einen geharnischten Klassenkampf führt – nicht gegen die Reichen oben an der Nahrungspyramide. Die sind völlig aus dem Blick geraten. Gegen die versucht nicht mal eine einzige Partei irgendetwas zu unternehmen.
Aber in einer Gesellschaft, die so das Märchen vom Aufstieg verinnerlicht hat, tobt die Angst vor dem Abstieg. Und diese Angst hat Gesichter. Denn der eigene Aufstieg und die eigene Position sind immer bedroht – durch die Underdogs, die Kinder der working poor, die Kinder aus der Malocherklasse. Und Frauen, die aufsteigen wollen. Und Ausländer. Der Feindbilder sind viele. Doch hinter jedem Feinbild stecken der Konkurrenzdruck und die Angst, dass der eigene Job entwertet werden könnte. Dass man das Stigma des Verlierers tragen müsste und „zu denen da“ gehören könnte.
Ein paar Sätze genügen und man ahnt, wie das Bild vom „faulen“ und „undankbaren“ Ostdeutschen entstanden ist. Es ist wirklich Zeit, sich endlich mal zu wundern und die Augen zu öffnen. Und zu sehen, wie die Welt tatsächlich von unten aussieht, von dort, wo schon die Kinder erleben, wie das ist, wenn man sich Erfolg nicht kaufen kann. Und in gebrauchten Klamotten herumlaufen muss. Und sich die teuren Freizeitvergnügen der Mittelklasse-Kids nicht leisten kann.
Ist der Klassenkampf also wieder da? Er war nie weg, kann man nach Marlen Hobracks Reise durch ihr eigenes Leben und das ihrer Mutter feststellen. Er ist nur unsichtbar geworden. Und er hat nicht mehr mit rote Fahnen schwingenden kräftigen Arbeitern beim Demonstrationsumzug auf der Straße zu tun. Die Arbeiterklasse streikt und demonstriert nicht (mehr). Dazu hat sie gar keine Kraft und auch keine Zeit. Denn sie kennt noch ihre 10 und 12 Stunden langen Schichten, die Nebenjobs, damit das Geld am Monatsende für die Miete reicht (und die verdammte Gasrechnung).
Sie weiß, wie es zermürbt, wenn man auf Ämtern um all die mickrigen Sozialleistungen anstehen und betteln muss, die jedes Mal von Kürzung bedroht sind, wenn irgendein Politiker mal wieder meint, die Leute würden sich in der „sozialen Hängematte“ nur ausruhen. Und nicht genug arbeiten. Und den ach so fleißigen „Leistungsträgern“ nur auf der Tasche liegen.
Schlecht bezahlt und systemrelevant
Da hilft nicht einmal eine Corona-Pandemie, die in aller Deutlichkeit gezeigt hat, dass es ohne die schlecht bezahlten Malocher überhaupt nicht geht. All die, über die die Gutbetuchten und Gutbezahlten immer so voller Verachtung hinweggesehen haben und die praktisch unsichtbar waren – bis zu dem Tag, an dem sich auf einmal herausstellte, dass ohne sie gar nichts mehr lief. Dass sie all die dreckigen, langweiligen, mühsamen Jobs ausüben, ohne die die schöne heile Welt der Mittelschicht überhaupt nicht funktionieren würde.
Und Marlen Hobrack kann mehrfach vergleichen, denn durch die Lebensgeschichte ihrer Mutter, die eigentlich die stille Heldin dieses Buches ist, kennt sie auch die Verhältnisse in der DDR, die zwar von sich behauptete, Gleichberechtigung geschaffen zu haben. Aber die handfesten Klassenunterschiede gab es trotzdem. Und die Männer und Frauen ganz unten, da, wo Arbeit hart, schmutzig und zermürbend war und Frauen meist allein sehen mussten, wie sie die Familie satt bekamen und die Kinder versorgt.
So wie Marlens Mutter, die irgendwann die Faxen dicke hatte mit einem Mann, der zu Hause nicht mit anpackte, im Grunde nichts zum Haushalt beitrug und immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kam. Also sorgte sie nur für reinen Tisch, als sie endgültig zur alleinerziehenden Mutter wurde, was in der DDR übrigens – anders als heute – kein Makel war. Im Gegenteil.
Marlen Hobrack hat einiges zu erzählen zum Selbstbewusstsein der Arbeiterinnen in diesem Land, auf das die Schnösel von heute mit so viel Verachtung herabschauen. Was übrigens nach wie vor zum Grummeln und Wüten der Ostdeutschen beiträgt. Nur so am Rande.
Wenn „ganz unten“ zur Lebenserfahrung gehört
Und wer es selbst erlebt hat, dass Frauen wie Marlens Mutter sich durchschlugen, zum Vollzeitjob auch noch Zusatzarbeit annahmen, um die Kinder durchzubringen, und sich zum Ziel setzten, dass die Kinder trotzdem studieren können, der weiß, wie hart das war. Hart, weil es immer bis an die Grenze der Belastbarkeit ging.
Auch der gesundheitlichen. Für Zeit zum Vorlesen, Klavier, Kinderbespaßung war da keine Kraft mehr. Und das ist der Punkt, an dem sich bis heute definieren lässt, wer zur Arbeiterklasse gehört und wer nicht. Wer nicht weiß, wie man sich nach 10-Stunden-Schichten fühlt, gehört nicht dazu. Wer nicht rechnen muss – jeden Monat – ob das Geld für das Lebensnotwendigste reicht – gehört nicht dazu.
Und wer nicht vor jeder Sozialreform einer deutschen Bundesregierung Angst haben muss, gehört auch nicht dazu. Man macht ganz andere Erfahrungen, wenn man in so einer Welt aufwächst. Anfangs noch ganz unbewusst, denn als Marlen Hobrack in den 1990er Jahren ihre Kindheit und Jugend erlebte, schien ja alles noch möglich. Die alte Funktionärsgesellschaft mit ihrer drakonischen Beschränkung für die Studienzulassung war Geschichte, der gnadenlose Kampf um den Aufstieg noch nicht entbrannt. Im Gegenteil: Für fast alle Ostdeutschen wurden ihre Qualifikation entwertet, sie verloren ihre Arbeit und mussten sich völlig neu orientieren.
Und die meisten haben es geschafft. Das ist eher so die Begleitmusik in diesem Text. Auch die Autorin, die genug zu erzählen hat über das eigentlich erwartete Scheitern, das schon in der Schule begann – mit mobbenden Mitschülern und Lehrern, die ihre Verachtung für die „Schmuddelkinder“ nicht verbergen können und auch nicht bemerken, weil sie die Vorstellungen der Mittelschicht, was eigentlich Norm ist, zutiefst verinnerlicht haben. Unsere Kultusminister sind genauso.
Deswegen sieht unser Schulsystem so aus, wie es aussieht. Und deshalb versuchen gerade die Eltern der Mittelschicht, ihr Sprösslinge unbedingt aufs Gymnasium zu bekommen – und wenn sie klagen müssen. Um Leistung und Fähigkeiten geht es da schon lange nicht mehr. Die Kinder studieren auch dann, wenn sie nur mittelmäßige Leistungen abliefern.
Während Kinder aus der Klasse der working poor schon früh aussortiert werden. Dann nämlich, wenn ihre Eltern anfangen müssen zu rechnen, ob sie es sich überhaupt leisten können, dass das Kind länger lernt und studiert. Marlen Hobrack hat es geschafft, mit Kind und Nebenjobs und einer Mutter, die sich für ihre Kinder bis ins Rentenalter abgerackert hat. Wer von da unten kommt, kennt dieser Mütter noch, ihre Sprödigkeit und ihre Unerschütterlichkeit.
Der Geruch der Armut
Wer von da unten kommt, der merkt, wie all die kleinen Distinktionen funktionieren, mit denen sich die „erfolgreiche Mittelschicht“ abgrenzt und Distanz schafft zu denen „da unten“. Und wie tief die Verachtung für die Schmutzigen und schlecht Gekleideten da unten in unserer Gesellschaft verankert ist. Bis hin zu den Vorstellungen von Familienplanung, die Marlen Hobrack ebenfalls sehr ausführlich beleuchtet. Denn als sie mit 19 ihr erstes Kind bekam, war sie sofort Außenseiterin in einem Umfeld, in dem angehende Akademikerinnen auf die junge Mutter herabschauten.
Vieles in unserer Gesellschaft ist genau deswegen so dysfunktional, weil die Normen der Mittelschicht auch alle Gesellschaftsbilder dominieren. Es betrifft die Vorstellung von Frauen (was sie sollen und dürfen und wie sie auszusehen haben), von Karriere, Status und Verhalten. Das Geschlechterverhältnis sogar ganz zentral.
Da ist Hobrack schon mitten in der heutigen Identitätspolitik, einem Lieblingstummelfeld der Linken, die sich in lauter Identitätsdebatten verliert und immer neue Gruppen von Ausgegrenzten und Abgewerteten definiert, aber völlig aus dem Auge verloren hat, dass dahinter immer noch die Abwertung der arbeitenden Klasse steckt, derer, die sich nichts leisten können, die scheinbar nur durch Gnade und Zufall in die Sphären der Töchter und Söhne aus gutem Hause vordringen. Und dort stören und nerven, weil sie die ungeschriebenen Regeln der Elite nicht kennen.
Und da überlappen sich dann auf einmal die Schicksale der Abgewerteten und Ausgegrenzten, erleben die weißen Kinder aus sogenannten „bildungsfernen Familien“ dieselbe Ausgrenzung wie die Zuwandererkinder, die Mädchen aus Arbeiterfamilien die doppelte Ablehnung – als Frau und als Arbeiterkind. Sie kennen die richtigen Verhaltensregeln nicht, werden eingeschüchtert, kennen auch ihre Rechte nicht.
Was es dann ganz und gar nicht überraschend macht, dass es Mittelschichtkinder sind, die die heutigen Identitätsdebatten führen – völlig blind für die Probleme und Ausgrenzungserfahrungen der Kinder aus „sozial schwachen“ Familien, wie das im Slang der Politik so gern heißt. Ein Slang, der seine Verachtung nur schwer verbergen kann. Seine Vorurteile gegen all die Menschen, die gezwungen sind, auch noch den dreckigsten und gesundheitsschädlichsten Job anzunehmen.
Wenn ganze Leben entwertet werden
Das ist dann freilich ein Punkt, an dem sehr viele Ostdeutsche ihre Erfahrungen gemacht haben mit Abwertung, Marginalisierung und ganz persönlicher Entwertung. Aber wenn man so – mit anderer Perspektive – auf unsere Gesellschaft schaut, merkt man erst, warum so viele Menschen sich von der Politik der Mittelschicht (denn sie allein stellt so gut wie alle Politiker) nicht mehr gemeint fühlen, den Wahlen fernbleiben oder nur noch Frust- und „Protestparteien“ wählen.
Am liebsten die, die scheinbar ihre Sprache sprechen und versprechen, ihnen wieder die Rolle zu geben, die sie nie hatten. Denn wer das Gefühl hat, nichts zu sein, der träumt ja davon, wieder was zu werden. Am besten etwas, bei dem er dann – der Neoliberalismus reicht bis ganz unten – wieder auf andere herabschauen kann.
Was eine Herausforderung ist, wie Hobrack feststellt: „Die Antwort darauf darf kein Populismus sein; denn der ganze Zweck des Populismus besteht darin, die berechtigte Wut der Benachteiligten auf Sündenböcke umzuleiten, statt die bestehenden ökonomischen und sozialen Strukturen zu verändern. Die Antwort kann aber auch nicht darin bestehen, die Angst als Ausdruck gefährdeter männlicher Privilegien zu deuten. Denn diese Privilegien besitzen die Männer der Arbeiterklasse, egal welcher Hautfarbe, gar nicht.“
Die Privilegien besitzt die Mittelklasse, die nicht nur die gesünderen Jobs mit den höheren Gehältern für sich beansprucht, sondern auch die Gesetze und Verordnungen nach ihren Vorstellungen macht. Und nicht nur „Hartz IV“ hat gezeigt, wie sehr diese Aufgestiegenen, die um ihre tatsächlichen Privilegien bangen, die „faulen Säcke“ da unten verachten, die ja nur zu faul zum Arbeiten sind, sonst würden die ja nicht im Arbeitsamt landen.
Sie haben ja nie erfahren, wie es ist, wenn man ohne jeden Puffer und jede Rücklage auskommen muss und wie schnell es einem da bei Jobverlust oder Scheidung die Beine wegkegelt. Und dass man nicht auf Gehaltsvorstellungen pocht, wenn man so schnell wie möglich überhaupt ein Einkommen braucht.
Und das wieder ist etwas, was viele clevere Unternehmer längst auszunutzen gelernt haben: Sie unterlaufen den Mindestlohn, geben Aufträge an Subunternehmer, die Subunternehmer beauftragen, machen aus Vollzeitstellen 450-Euro-Jobs, beschäftigen schwarz usw. Weil sie ganz genau wissen, wie viele Menschen auch noch die unwürdigsten Bedingungen annehmen, um über die Runden zu kommen.
Um nicht wieder beim Jobcenter auftauchen zu müssen, wo die ganze Verachtung der Mittelschicht über sie ausgekübelt wird – selbst dann, wenn die Sachbearbeiterin freundlich ist. Aber die Schurigelei steckt in dicken Antragsformularen und gnadenlosen Sanktionsregeln, die all die Menschen, die Arbeit suchen, wie unmündige Kinder behandeln, die einfach nicht parieren wollen.
Dir wird nichts geschenkt
Wer das alles kennt, der sieht das teilweise harte Verhalten der Großmutter und der Mutter der Autorin in völlig anderem Licht. Denn wer sich da unten mit seinen Kindern durchschlagen muss, der will nicht betteln. Der lernt ziemlich schnell, dass einem die Gutbetuchten nie im Leben helfen werden. Und dass man sich nur selbst helfen kann, indem man die Zähne zusammenbeißt, den Rücken krümmt und am Ende auch noch die Zinsen und Zinseszinsen der aufgenommenen Schulden bezahlt.
Denn wer von da unten kommt, will niemandem etwas schuldig sein. Der will beweisen, dass er oder sie sich auch alleine durchbeißen können. Und er gibt das auch an die Kinder weiter.
Und der glaubt den freundlichen Gesichtern der politischen Sachwalter, die nie da unten waren, sowieso kein Wort. Denn dort kennt man die Verlogenheit unserer Gesellschaft: „Mit der Abwertung eines Teils unserer Gesellschaft als faul, wenig produktiv oder leistungsbereit sind wir beim neuen Klassenkampf angekommen“, schreibt Hobrack.
„In ihm werden ungerechte Arbeitsbedingungen und schlechtere Löhne ‚objektiv‘ damit gerechtfertigt, dass Menschen wenig Wertschöpfung erbringen würden und nicht systemrelevant seien. In der Corona-Krise verschoben sich die Vorstellungen von Systemrelevanz plötzlich.“
Wem gehört eigentlich die Schule?
Und auf einmal verändert sich auch der Blick auf Schule und Schulschwänzen, so ein Lieblingsthema eines embrassierten Bürgertums, das die schwänzenden Kinder am liebsten mit der Polizei in die Schule prügeln würde. Ohne auch nur das geringste Gespür dafür, dass die Kinder ganz und gar nicht das Lernen verweigern.
„Wenn ein Kind die Schule verweigert, dann verweigert es nicht das Lernen“, schreibt Hobrack. „Es verweigert sich der Gesellschaft.“
Einer Gesellschaft, die die Kinder aus „schlechtem Hause“ in der Schule mobbt, ausgrenzt, unter Druck setzt und mit schlechten Noten permanent abwertet. Da reicht der falsche Vorname, die falsche Hautfarbe, die falsche Kleidung. Und die meisten Lehrer/-innen erspüren sehr genau, aus welcher Schicht die Kinder kommen. Und sie agieren genau so – indem sie die Verachtung der Mittelschicht für die „Armutsgefährdeten“ nicht nur teilen, sondern in Wertung umsetzen. Nachlesbar spätestens auf der „Bildungsempfehlung“ in der vierten Klasse.
Es ist letztlich eine gnadenlose Analyse unserer Gesellschaft, die Marlen Hobrack hier vorlegt, welche ihre blinden Flecken nicht mal mehr bemerkt, die auch nicht merkt, dass sie Strukturen und Gesetze geschaffen hat, die dafür sorgen, dass die da unten auch ja unten bleiben und als billiges Proletariat jederzeit zur Verfügung stehen, auch noch die schlechtest bezahlten Jobs zu machen, ohne die der Laden nicht läuft.
Die Würde der Mutter
Und das Buch ist eine Hommage an eine Mutter, die sich zwar all die Träume, die sich die Mittelschicht mit Selbstverständlichkeit erfüllt, nie erlauben durfte, und die trotzdem noch bis ins Rentenalter gearbeitet hat, um die Kinder zu unterstützen und die Schulden abzutragen. Denn das gehört zur Würde da unten: Dass man niemandem etwas schuldig sein will.
Da unten weiß man, wie gespalten unsere Gesellschaft ist. Und dass man in den Plänen der großen Politik keine Rolle spielt. Sondern froh sein sollte, wenn die da oben einen mal ein paar Legislaturen lang übersehen und sich keine neuen Gemeinheiten ausdenken, wie sie einem noch was abzwacken können. Man weiß dort, welches Bild die gehobene Mittelschicht von ihren Putzkräften, Paketboten und Straßenarbeitern hat.
„Meine Mutter blieb, selbst als sie einen höheren Status erlangt hatte, das geprügelte Mädchen aus der Unter- und Arbeiterschicht“, schreibt Hobrack, „dem niemand eine Meinung, eigene Absichten und Wünsche, einen Platz in der Welt zugestand.“
Denn den Platz weiter oben muss man sich kaufen und leisten können. Wer es nicht kann, steht immer in der Schlange. Und zwar ganz hinten. Auch bei sogenannten Rettungspaketen.
Hinter dem Titel „Klassenbeste“ steckt auch eine berechtigte Menge Stolz. Stolz auch auf die alleinerziehende Mutter, die nie klein beigegeben hat. Und so mancher, der sich heute noch immer seltsam fühlt in einer Gesellschaft, deren Wertvorstellungen ihn irritieren, wird mit diesem Buch merken, dass er daran nicht schuld ist. Und dass er oder sie wohl eine starke Frau als Mutter hatte, eine wie Marlen Hobracks Mutter, die für Gefühle und Kuschelstunden nie Zeit hatte.
Und gerade deshalb zeigte, wie sehr sie für ihre Kinder da war und bereit, sich aufzuopfern, damit wenigstens sie den Schritt auf die nächste Stufe schafften. Denn den Traum vom Aufstieg träumen auch die da unten. Auch wenn sie ganz genau wissen, dass ihnen dabei alle Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, die sich nur finden lassen. Und dass man es auch dann noch nicht geschafft hat, wenn man oben angelangt ist. Denn dann lassen sie es einen immer noch merken, dass man da nicht hineingehört. In ihre Welt.
Ein unerhörtes Buch. Aber lehrreich und mit Stellen, die zumindest diejenigen berühren dürften, die das selbst erlebt haben. Und erleben.
Marlen Hobrack „Klassenbeste“, Hanser Berlin, Berlin 2022, 22 Euro.
Keine Kommentare bisher
Erinnert an’s indische Kastensystem. Bekomme beim lesen gleich ein schlechtes Gewissen weil ich während des nicht “hart, schmutzig und zermürbend” genug arbeite. Etwas stereotyp oder nicht? Teilen wir die Menschen nach Arbeitseifer und Besitzstand, ergeben sich Nützliche und nicht Nützliche, sowie Besitzende und und nicht Besitzende. Im Kreuzprodukt der Eigenschaften erhält man eigentlich vier logische Kategorien. Nach dem lesen des Artikels jedoch, meine ich, kann getrost auf drei vereinfacht werden. Die Besitzlosen, die Nutzlosen und Frau Hobrack. Studierte Medienwissenschaftlerin, hauptberuflich freischaffende Autorin, Journalistin und Mutter, nicht unbedingt Kerngruppe des Proletariats, aber dafür nach Meinung von Herrn Julke, “eine gnadenlose Analyse unserer Gesellschaft”, also genau die Außenwahrnehmung die der Arbeiterkaste und dem korrupten Mittelstand noch gefehlt haben.
Eine “Hommage an eine Mutter”, wäre alleine schon ein ganz ausgefallenes Thema für eine Autorin. Wobei wir davon ausgehen möchten, es sei die Mutter der Autorin gemeint und nicht sie selbst. Dann also ein Buch für die Blase.
Und wo ist eigentlich die gute alte Bourgeoisie geblieben? Über den gehobenen Mittelstand kommt der Artikel nicht hinaus. Anscheinend ist die Oberschicht ganz unbemerkt abhanden gekommen, ohne das jemand ein Buch darüber geschrieben hat. Oder sie passt nicht in’s partikularisierenden Bild einer binär polarisierenden Identitätspolitik.