Dieses Buch hat eine Geschichte. Und der Autor – der ukrainische Journalist Sergii Rudenko – hätte bei dessen Erstveröffentlichung 2021 ganz bestimmt nicht gedacht, dass er es noch einmal gründlich umarbeiten würde und einen völlig anderen Wolodymyr Selenskyj zeichnen würde, als er in der Erstveröffentlichung unter dem Titel „Selenskyj ohne Make-up“ zu erleben war. Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat alles verändert.
Auch den Präsidenten, der 2019 auf so filmreife Art ins Amt gekommen war. Quasi wie ein Alter Ego des von ihm dargestellten Lehrers Wassyl Petrowitsch Holoborodko aus der Fernsehserie „Diener des Volkes“. Ein Hoffnungsträger für ein Land, das endlich loskommen wollte von den alten Netzwerken und dem Einfluss der Oligarchen auf die Politik.
Sein Erdrutschsieg gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko zeigte, wie schnell sich scheinbar sichere Umfrageergebnisse binnen weniger Wochen ändern können, wenn Wahlkämpfer das Instrumentarium des modernen Wahlkampfes und der Mediennutzung beherrschen und die richtigen Emotionen bei den Wählerinnen und Wählern ansprechen.
Medien und Politik
Die Grundfassung des Buches war im Grunde eine Generalabrechnung mit einem Präsidenten, der zur Hälfte seiner Amtszeit immer größere Teile der Wählerschaft enttäuschte, der Skandale produzierte, in Fettnäpfchen trat und selbst Freunde fallen ließ, der die zugesagte Reform des Staates einfach nicht gebacken bekam. Eines Staates, der – wie Rudenko beschreibt – natürlich in seinen Strukturen auf die Oligarchen, ihre Erwartungen und Wünsche zugeschnitten war.
Es hätte also deutlich mehr gebraucht als einen bekannten Schauspieler und seine Freunde aus dem Studio Kwartal 95, um das zu ändern. Nicht nur ein paar filmreife Reden und Auftritte, sondern auch etwas, was die meisten Leute, die Selenskij in die Regierung holte, nicht hatten: Erfahrung im politischen Apparat, Kenntnis von dessen Funktionsweise und der Strukturen, die letztlich die Macht der Oligarchen und ihren Zugriff auf die Macht sicherten.
Der ukrainische Staat ist ähnlich aufgebaut wie der französische – mit einem Präsidenten an der Spitze, der über eine gewaltige Machtfülle verfügt, wenn es ihm auch noch gelingt, seiner Partei in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, die absolute Mehrheit zu verschaffen.
Was der Partei „Diener des Volkes“ ja auch gelang. Selenskyj hätte also durchregieren können und auch die Macron-Rolle ausfüllen können, die ihm politische Kommentatoren schon zuschrieben, bevor er Poroschenko so überwältigend ausbootete. Aber gerade die Ausführungen um Macron zeigen auch, dass Selenskyj mit denselben Problemen kämpft. Denn die Partei „Diener des Volkes“ ist genauso auf seine Person zugeschnitten wie Macrons „En Marche“ auf Macron.
Mit dem kleinen Unterschied, dass Emmanuel Macron schon in einer anderen Partei Erfahrungen sammeln konnte und auch schon Minister gewesen war, bevor er seine eigene Bewegung aus der Taufe hob.
Macht und Intrigen
Aber Selenskyj fehlten auch die Leute, die diese Erfahrungen schon hatten. Und die vielen Episoden, die Rudenko über Selenskyjs viele Fehltritte, Fehlgriffe und uneingelösten Versprechen schreibt, erzählen im Grunde davon, dass er diesen Baufehler seiner quasi von Medienleuten geschaffenen Partei „Diener des Volkes“ nicht wirklich sehen wollte. Da ist Rudenko gnadenlos, genauso gnadenlos, wie auch politische Kommentatoren in Deutschland mit dem politischen Personal umspringen.
Wobei wir mit Rudenko ja überhaupt erst einmal das Personal um Selenskij kennenlernen – oft Freunde und Mitstreiter aus seiner Zeit als Schauspieler, Spaßmacher, Artdirektor und Unternehmer. Einige von ihnen überhaupt erst die Schöpfer des Präsidentschaftskandidaten. So eine Kandidatur ist auch in der Ukraine kein Ein-Mann-Werk. Sie braucht Leute, die dem Kandidaten überhaupt erst einmal ein politisches Profil geben, die seine Auftritte organisieren und seine Kampagnen machen.
Und regelmäßig blendet Rudenko natürlich zurück in Selenskyjs Kindheit und Jugend in Krywyj Rih, seine frühen Auftritte als Schauspieler und in die Zeit, als er mit Freunden aus dieser Zeit seine erste eigene Unternehmung gründete und eigene Shows produzierte. Freunde, die dann im Wahlkampf und seinen ersten Jahren als Präsident wieder auftauchten – und oft genug gefeuert wurden oder von allein gingen. Auf hunderte Interviews kann Rudenko zurückgeifen, denn ukrainische Medien haben diese Leute natürlich befragt nach Warum und Wieso, wollten wissen, was schiefgelaufen ist oder welche Intrige dahintersteckte. Was oft gar nicht herauszubekommen war.
Es ist, als würde man quasi der dritten Staffel von „Diener des Volkes“ zuschauen – nur diesmal einem Scheitern des Kandidaten in über 30 Episoden. Einem Scheitern, das freilich sehr viel erzählt über die Hybris der Macht, den sehr speziellen Politikbetrieb in der Ukraine, die Unreformierbarkeit gewachsener Strukturen und dem Zerbrechen von Freundschaften in einem Umfeld, in dem nichts so wichtig wäre wie Vertrauen, von dem Politiker ja so gern reden. Aber wenn es um Macht geht, ist Vertrauen nicht nur Mangelware – es hält meist den täglichen Überlastungen nicht stand.
Bürokratie und Pfründen
Aber es kommt einem auch wieder vertraut vor, weil man diese Träume von Menschen, die glauben, einfach mit Menschenverstand verkrustete Strukturen aufbrechen zu können, auch hierzulande kennt. Auch wenn unser Wahlsystem kaum Spielraum hat für Bewegungen wie „En Marche“ oder Kandidaten aus völlig politikfernen Metiers.
Aber die, die medial mit Träumen und Visionen begeistern, werden – wie es so schön heißt – im politischen Amt dann in der Regel schnell entzaubert, erleben, wie sie sich verschleißen in einer Bürokratie, die gelernt hat, sich gegen Veränderungen zu sperren, und in einem politischen Betrieb, in dem sich die Egos ballen und diejenigen, die Pfründen zu verteidigen haben, in jahrzehntelanger Praxis gelernt haben, wie man unerwünschte Reformen torpediert, entschärft und zur Lachnummer macht.
Natürlich wird man zum Vergleich angeregt. Die ukrainischen Journalisten tun es ja selbst – und für sie lag der Vergleich mit Macron sehr nahe. Und als Rudenko das Buch 2021 erstmals in Kiew veröffentlichte, war es eigentlich eine Generalabrechnung, in der der Journalist Episode um Episode erzählt, wie sich Wolodomyr Selenskyj in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit entzauberte. Anhand von lauter Affären, die in dieser Zeit praktisch jede Woche die ukrainischen Medien beschäftigt haben.
Bis hin zu seinem durchaus zwiespältigen Verhältnis zu Russland. Welches aber auch wieder klarer macht, wie lange der Abnabelungsprozess der Ukraine von Russland schon dauert und wie lange Russland sich auch immer wieder direkt eingemischt hat in die ukrainische Innenpolitik.
Das wird auch an Selenskyjs Positionen zur Ostukraine und zu den Verhandlungen mit Putin deutlich, den er zu Beginn seiner Amtszeit durchaus als einen Staatsmann betrachtete, mit dem er auf Augenhöhe würde verhandeln können. Es war nicht nur der Westen, der bis zuletzt von einer gewissen Rationalität des Herrschers im Kreml ausging.
Der 24. Februar hat alles verändert
Doch all die Affären und Skandale waren auf einmal nicht mehr wichtig, als Putins Truppen am 24. Februar die Ukraine überfielen. Und aus dem ukrainischen Präsidenten, der noch Wochen zuvor so sicher war, dass es keinen Überfall geben würde, wurde über Nacht ein Präsident, der die Verteidigung der Ukraine zum wichtigsten Ziel erklärte und seitdem demokratische Parlamente weltweit zum Aufstehen bringt, wenn er sich per Video zu einer Rede zuschaltet.
Der Krieg hat in vielerlei Hinsicht Klarheit gebracht. Angefangen damit, dass er deutlich offenbart hat, dass die Ukrainer nie wieder zurück wollen unter die Vormundschaft eines autoritären Russland, genauso wie die Tatsache, dass Putin seit 2014 so ungefähr alles falsch gemacht hat, was er in Bezug auf die Ukraine hätte falsch machen können. Statt das Land mit seinen verdeckten Militäroperationen zu destabilisieren, hat er die Entschlossenheit der Ukrainer bestärkt, ihr Land mit allen Mitteln gegen Putins Truppen zu verteidigen. Der scheinbar so schwache Präsident Selenskij hat sich als hartnäckiger Gegner entpuppt, der das Land jetzt endgültig auf den Weg Richtung EU geschickt hat.
Und wer von der ukrainischen Geschichte auch nach fünf Monaten Krieg noch immer keine Ahnung hat, bekommt davon in Rudenkos Buch zumindest in Konturen etwas mit.
Rudenko fasst es so zusammen: „Jahrhundertelang haben die Ukrainer mit Moskau um das Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft. Millionen Menschen haben in diesem Ringen ihr Leben gelassen, ohne dass der ukrainisch-russische Kampf je ein Ende zu nehmen schien. Der Kreml hoffte noch vor Kurzem, es würde gelingen, die Ukraine auch weiterhin in seiner Einflusszone zu halten. (…) Es ist dann wohl eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der, dem der russische Präsident bis zuletzt nicht auf Augenhöhe begegnen mochte, zum Totengräber des gegenwärtigen russischen Regimes werden dürfte.“
Wobei das natürlich nicht Selenskij allein bewerkstelligt. Aber mit Kriegsbeginn hat er tatsächlich eine Rolle gefunden, in der er nicht nur für die Weltgemeinschaft Kontur gewonnen hat, sondern auch für die Ukrainer selbst. Rudenko erkennt hier einen anderen Selenskyj als den zögernden und immer wieder irrenden in den zwei Jahren davor. Und er zitiert auch versierte Kollegen, die durchaus schon analysieren, wie es mit Selenskij weitergeht, ob er in zwei Jahren wieder Chancen hat, noch einmal Präsident zu werden.
Hinter den Kulissen von Macht und Politik
Wäre der Krieg nicht gekommen, wäre die Antwort wohl eindeutig. Aber das Gute an dem Buch ist eben auch, dass es anhand eines Mannes, dem noch vor zehn Jahren niemand das Präsidentenamt zugetraut hätte, zeigt, wie Politik tatsächlich ist, wie sich darin Persönlichkeiten formen und geformt werden, bewähren und scheitern, von der Macht verführt werden oder sich an Strukturen die Zähne ausbeißen und in Affären verheddern. Und das alles oft mit dem besten Willen und den mutigsten Vorhaben. Und manchmal sind es die Bedrohungen, mit denen anfangs niemand rechnet, die dann aber eine Amtszeit prägen und sichtbar werden lassen, ob einer dem gewachsen ist oder scheitert.
So betrachtet, ist es ein sehr lehrreicher Blick in das, was man so landläufig Politik nennt, mit einigen gar nicht dezenten Blicken hinter die Kulissen. Auch ganz gut als Lektüre für all jene geeignet, die von „ihren“ gewählten Politikern immerzu Wunder und Heldentaten erwarten, aber sich nicht die Bohne für Machtverhältnisse und Arbeitsbedingungen in der Politik interessieren. Und gerade in der Krise erweist sich dann, ob einer das aushält und ohne Theaterspiel das tut, was getan werden muss. Und so hat auch Rudenko die Aussage seines 2021 erschienenen Buches noch einmal revidiert.
„Vor dem Krieg erinnerte quasi jeder öffentliche Auftritt Selenskyjs an seine Vergangenheit als Schauspieler. Die Pausen, die Mimik, die Tonlage seiner Stimme, die Gesten. (…) Mit dem 24. Februar 2022, dem ersten Tag des flächendeckenden Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine, verschwand dies alles aus Selenskijs Arsenal. Wir haben einen anderen Menschen vor uns. Mit müdem und unrasiertem Gesicht. In khakifarbener Kleidung. Ohne Krawatte, Schminke und Scheinwerferlicht.“
Einen Mann, dessen Geschichte nun auf einmal auf ganz andere Weise interessiert. Und der – da ist sich Rudenko sicher – in den Geschichtsbüchern landen wird und in zahllosen Verfilmungen seiner Amtszeit. Und der vor allem im entscheidenden Moment nicht geflohen, sondern in Kiew geblieben ist, praktisch in vorderster Front. Und der eben auch für alle Welt hörbar gesagt hat: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“
Sergii Rudenko „Selenskyj. Eine politische Biografie“, Hanser Verlag, München 2022, 24 Euro.
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