In Thüringen gibt es seit 1993 ein Literarisches Journal mit dem Namen „Palmbaum“. Vierteljährlich werden darin nicht nur Texte Thüringer Autorinnen und Autoren veröffentlicht. Jedes Heft hat auch einen thematischen Schwerpunkt. In ersten Heft für 2022 sogar einen ganz zwingenden, denn irgendwie haben die üblichen deutschen Jubelfestveranstalter ausgerechnet Novalis vergessen, der als Georg Philipp Friedrich von Hardenberg am 2. Mai in Oberwiederstedt geboren wurde.

Genauer: Schloss Oberwiederstedt. Denn die Hardenbergs waren ja ein Adelsgeschlecht, wenn auch in diesem Fall ein verarmter Zweig, der sich in eher bürgerlichen Brotberufen verdingen musste – so wie Friedrichs Vater Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg, der als Salinendirektor in Weißenfels tätig wurde. Was in gewisser Weise auch die Laufbahn des jungen Friedrich vorzeichnete, der zwar 1790 ein Jurastudium in Jena begann, das er in Leipzig und Wittenberg fortsetzte.

Aber 1797 folgte dem noch ein Studium der Montanwissenschaften in Freiberg, was ihm nach seinem Einstieg in der Lokalsalinendirektion Weißenfels ermöglichte, 1800 auch Supernumerar-Amtshauptmann für den Thüringischen Kreis zu werden, eine Funktion, in der er die Braunkohlevorkommen im Gebiet des heutigen Tagebaus Profen erstmals systematisch erfasste.

Die Suche nach der Blauen Blume

Aber berühmt ist er bis heute unter seinem 1798 erstmals verwendeten Pseudonym Novalis, als „Erfinder“ der Blauen Blume und als markantester Vertreter der deutschen Romantik. Und eigentlich, so finden es mehrere der in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren, hätte das richtig groß gefeiert werden müssen.

Nicht nur, aber besonders in Thüringen, wo ja auch sein Geburtshaus, das Schloss Oberwiederstedt steht – beinah verloren gegangen, in der DDR schon zum Abriss vorgesehen, dann aber durch ein Engagement von Novalis-Freunden und den Oberwiederstedtern selbst gerettet und heute ein echter Pilgerort für alle, die sich auf den Spuren des Dichters in romantische Stimmung versetzen wollen.

Wobei mehrere Autoren recht klar den heutigen Romantik-Begriff demontieren, der nicht wirklich viel mit dem zu tun hat, was die Frühromantiker tatsächlich einmal beabsichtigt haben. Zu denen der früh verstorbene Novalis natürlich gehörte. Deswegen gehört das Jenaer Romantikerhaus natürlich zwangsläufig mit in diesen Band – beleuchtet in einem Interview mit dem neuen Leiter des Hauses, Max Pommer.

Hier begegnet man den beiden Schlegels und ihren klugen Frauen, die meist im Schatten von August Wilhelm und Friedrich Schlegel stehen. Bis heute. Etwas, was es dringend aufzubrechen gilt, wie Pommer betont.

„Glotzt nicht so romantisch“, hat Jens-Fietje Dwars seinen Beitrag zu Novalis betitelt, in dem er sich mit der heutigen Fehlinterpretation der Romantik auseinandersetzt. Er hat auch einen Beitrag unter dem Titel „Ofterdingen vs. Wilhelm Meister“ geschrieben, in dem er nicht nur darauf eingeht, dass der „Ofterdingen“ im Grunde ein (romantisches) Gegenstück zu Goethes berühmtem Bildungsroman werden wollte.

Denn von Novalis stammt die bis heute treffendste und gründlichste Analyse von Goethes „Wilhelm Meister“, der ja jungen Leuten bis heute als „der deutsche Bildungsroman“ angedreht wird, obwohl er eigentlich vom Gegenteil erzählt: dem Verlust aller Träume und Ambitionen und Wilhelm Meisters Sich-Fügen in ein bürgerliches Leben.

Ein „Bildungsweg“, den bis heute Millionen Jugendliche durchlaufen und das auch noch normal finden, wenn sie sich ganz in die Aufnahme eines Brotberufs fügen, selbst dann, wenn sie damit all ihre Träume verraten und die kreative, mitfühlende Beziehung zur Welt.

Was aber bleibt, erzählen die Dichter/-innen

Wer den „Wilhelm Meister“ ohne die Lehrsätze aus der Schule gelesen hat, kennt die Enttäuschung Friedrich von Hardenbergs. Und er ahnt, worum es den Romantikern genau um diese Zeit ging. Wie fruchtbar dabei die Beschäftigung mit den Texten des früh verstorbenen Novalis bis heute ist, zeigen mehrere Autorinnen und Autoren. Sodass dieser „Palmbaum“ tatsächlich zu einer literarischen Würdigung für Novalis wird.

Mit gleitenden Übergängen. Denn wer sich so mit dem (Nach-)Wirken eines als „nicht klassisch“ betrachteten Dichters beschäftigt, der beschäftigt sich auch mit dem Literaturschaffen von heute. Denn die Themen, die den Frühromantikern wichtig waren, die sind noch heute die ganz großen Themen der Literatur. Nachlesbar etwa in Olga Martynowas Beschäftigung mit der Trauer.

Während Goethe im „Wilhelm Meister“ am Ende den nüchternen Pragmatismus und die Fügung ins Opportune zu befürworten scheint, stehen auch die im Band versammelten Gedichte von Thüringer Lyriker/-innen dafür, dass es im Leben des Menschen immer auch das andere gibt: das Nicht-Greifbare, das Staunen, das Atemlose, was das irdische Dasein erst vielschichtig, aufregend und überwältigend macht.

Was natürlich immer ein Widerspruch ist zu einer Welt, die alles in Geld und Nutzen berechnen will und die Überschwänglichkeit der Dichter für überflüssig, brotlos und sinnlos erklärt.

Die postume Faszination eines Dichterlebens

Da hat sich seit den Zeiten von Novalis nicht viel geändert. Und einige Beiträge im Buch deuten zumindest an, dass auch die Sehnsucht der Menschen nach dem, was dem Leben Tiefe und Schönheit verleiht, nicht völlig verschwunden ist.

Denn ob es Dichtergedenkstätten wie in Weimar, Jena oder Oberwiederstedt sind oder thematische Wanderwege – es sind immer wieder literarische Wege und Orte. Im Leben darben die Dichter zwar meistens und werden mit Groschen abgespeist. Aber wenn sie tot sind, rühmt sich so manche Stadt ihres Dagewesenseins.

Denn auch das gehört zur Nachwirkung der Romantik: Dass für viele Menschen die Sehnsucht nach der „Blauen Blume“ tatsächlich präsent ist – nach einem Ort, einem Dasein abseits des täglichen Nützlichseins, des bürgerlichen Brotberufes, der die Seele nicht erfüllt und oft sogar das Gefühl vermittelt, einen einzuzwängen und vom eigentlichen Leben abzuschneiden.

Und da passt es sogar, dass ausgerechnet Lutz Rathenow uns auf diesen „Palmbaum“ aufmerksam machte. Denn darin ist auch ein Interview mit diesem Dichter und Rebellen, der zehn Jahre lang – von 2011 bis 2021 – Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur war.

„Bereichert oder befreit von einer Last?“, ist das Interview betitelt, in dem ausgelotet wird, wie sich das Amt, das er da ausfüllen konnte, eigentlich mit seinem Schreiben und seiner Unabhängigkeit als Dichter vertragen hat. Im Grunde dieselbe Frage, die auch in mehreren der Novalis-Essays auftaucht.

Denn die Frage ist durchaus ungeklärt, wie sich der Dichter Novalis eigentlich mit dem Amtsinhaber Friedrich von Hardenberg vertrug. Waren das zwei Seelen in einer Brust? Oder litt der Romantiker gar unter seinem Brotberuf?

Der Dichter und die Politik

Natürlich erfahren wir es nicht. Und die vielen Interpretationen (auch des einzigen originalen Bildnisses des früh verstorbenen Dichters) verstellen eher die Sicht, haben ein „romantisches“ und süßliches Bild von diesem Novalis gemalt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit dem selbstbewussten und viel beschäftigen Mann nicht gerecht wird.

Und im Interview mit Lutz Rathenow wird ja auch die Frage nach Macht und Politik thematisiert. Die Rathenow auch erst einmal demontieren muss. „Mein Verhältnis zur Politik hat sich verändert – ja. Dem Staat schlägt teilweise eine Politikerverachtung entgegen, die irrationale, aber deshalb keine ungefährlichen Züge hat. Dem Staat wird diktatorische Allmacht in dem Moment unterstellt, wo er in vielen Ländern zu erodieren droht.“

Und die den Staat derart mystifizieren, übersehen oft mit Absicht, dass „der Staat“ auch nur aus Menschen besteht, die alle irgendwie ihre Arbeit möglichst ordentlich erledigen wollen. Oft ist das auch nur bravste bürgerliche Geschäftigkeit.

Manchmal ist auch ein bisschen Ehrgeiz dabei. Und wenn man dann auch noch jeden Morgen im Zug sitzt und den Gesprächen der Mitreisenden lauscht, merkt man – zumindest wenn man ein aufmerksamer Dichter ist –, wie sehr es auch in diesem scheinbar so abweisenden Dresden immer um ganz Menschliches geht. Auch wenn das scheinbar verschwunden ist, wenn man sich über „Politik“ streitet.

Ohne Dichter keine Heimat

Und für Rathenow bedeutete das, dass er zum Ende seiner Amtszeit tatsächlich auch wieder zu schreiben begann. Da lösten sich die Schreibhemmnisse wieder. Da hatte er wieder eine Sprache für das Menschliche, das ihn berührt, bewegt und umtreibt. Und man denkt natürlich darüber nach, ob es Novalis nicht genauso ging.

Und Goethe mit seinem „Wilhelm Meister“ ebenso, den man ja auch als pessimistischen Bildungsroman lesen kann. Als die Geschichte eines Scheiterns in einer Welt, in der man Kraft, Geduld und Rückgrat braucht, wenn man trotzdem eine künstlerische Laufbahn einschlagen will. Eine Kraft, die Wilhelm Meister nicht hat.

Sodass sich dieses „Palmbaum“-Heft letztlich zum 250. Geburtstag des Autors um eine höchst aktuelle Frage dreht. Die eben auch mit Verortung und Erdung zu tun hat. Das steckt ja auch in der Rettungsgeschichte von Schloss Oberwiederstedt. Selbst Leute, die nie im Leben ein Gedicht geschrieben haben, laufen da hin und haben das Gefühl, einen alten Bekannten zu besuchen und ein bisschen nach Hause zu kommen.

Gedichte lesen ist dann schon ein bisschen anspruchsvoller – auch dann, wenn man die vielen Interpretationshilfen, die im Buch verstreut sind, zurate zieht. Die machen die Sache eher noch schwerer.

Denn zum Gedichtelesen braucht man im Grunde nur einen offenen Blick und die Bereitschaft, in die Bildwelt des Autors einzutauchen, auch wenn sich nicht jedes Wort und jedes Bild erschließt. Der Österreicher Leopold Federmaier versucht es, an Gedichten von Wulf Kirsten und ihren Übersetzungen zu erörtern.

Gegen die Entseelung der Welt

Die meisten Menschen haben ja Angst vor Gedichten, weil ihnen lehrplanbesessene Lehrer beigebracht haben, man könne ganz schulgemäß herauslesen, „was uns der Dichter damit sagen wollte“. Obwohl das Nonsens ist und alle diese Schulbücher in die blaue Tonne gehören. Denn Gedichte leben von der Freiheit des Andersverstandenwerdens. Jeder erlebt und entschlüsselt sie anders. Auch Übersetzer.

Und das ist gut so, sonst würden sie nämlich nicht 200 Jahre lang faszinieren, Rätsel aufgeben und all das anrühren können, was wir uns in unserem vom puren Nutzen besessenen Leben lieber verkneifen, was wir verleugnen und immerfort zum Schweigen bringen.

Angefangen von Gefühlen der Trauer (und des Kummers) bis zum drohenden Verlust unserer Welt, die die Frühromantiker eben auch immer als beseelt gedacht haben. Auch gegen diese Entseelung der Welt schrieben die Frühromantiker an.

Ein Thema, das Autor/-innen in der späten DDR (nach der Ausbürgerung Biermanns) für sich entdeckten. Darüber schreibt Gunnar Decker in seinem Beitrag über die umkämpfte Romantik in der DDR.

Ein Thema, das auch ein Ausweichthema war, wie Christa Wolf ja zu Recht festgestellt hatte: Die Gegenwart als literarischer Ort für Konfliktbeschreibungen war durch die Zensurpraxis der SED zum Tabu geworden. Also blieb nur die Vergangenheit als Ort für die Auslotung menschlicher Konflikte, des Nicht-Geborgenseins in der Welt.

Dass das nun ausgerechnet die Zeit der deutschen (Früh-)Romantik war, war kein Zufall. Hier zeigten sich schon alle Widersprüche, die die Bürger der DDR in den 1980er Jahren genauso als Ent-Fremdung erlebten, wie wir sie heute wieder erleben, da endgültig alles verloren zu gehen droht, was den Reichtum unserer Welt ausmacht.

„Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen“, Heft 1/2022, quartus verlag, Jena 2022, 12 Euro

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