Jeder Mensch hat eine Lebensgeschichte zu erzählen. Die meisten tun es nur nicht, weil sie sich nicht für wichtig und berühmt genug halten. Oder weil sie sich das Erzählen nicht zutrauen. Der Mensch ist zwar ein geschichtenerzählendes Tier. Aber das eigene Leben in eine Geschichte zu packen, das gelingt den Wenigsten. Und so ist es manchmal ein Glücksfall, wenn drei sich zusammentun, um das Leben von Channa Gildoni zu erzählen.
Vielleicht nicht so, wie sie das getan hätte. Und bestimmt auch nicht so, wie es geübte Biografen getan hätten, die vor dem Schreiben hunderte Stunden Interviews machen und persönliche Archive durchforsten. Immerhin haben jetzt über zwei Jahre Corona auch verhindert, dass es wieder zu persönlichen Kontakten mit der langjährigen Vorsitzenden des Verbands ehemaliger Leipziger in Israel kommen konnte. Die Pandemie verhinderte auch die seit 1992 zur Tradition gewordenen Besuche ehemaliger Leipziger/-innen aus Israel in ihrer Geburtsstadt.
Leipzig-Besuche aus Israel: Tradition seit 30 Jahren
Die Miniatur, die Sven Trautmann, Gabriele Goldfuß und Andrea Lorz hier vorgelegt haben, ist deshalb auch eine kleine Bilanz für diese Einladungen, die die Stadt Leipzig gleich nach der Wahl von Hinrich Lehmann-Grube zum OBM aussprach und die ab 1992 zu regelmäßigen Besuchen der ehemaligen Leipziger/-innen in Leipzig führten.
Besuchen, die zuvor jahrzehntelang nicht möglich waren. Auch wenn es erste Kontakte aus Leipzig nach Israel dann in den 1980er Jahren gab, forciert von Engagierten, die genau wussten, wie sträflich dieses Vergessen der eigenen jüdischen Geschichte war. Und dass die wenigen Überlebenden, die es einst noch geschafft hatten, aus Deutschland nach Palästina zu fliehen, immer älter wurden und damit ihre Geschichte nicht mehr erzählen konnten.
Die Wiederentdeckung einer verdrängten Geschichte
Ein Thema, dem sich ja bekanntlich besonders Bernd-Lutz Lange widmete, der mit seinen Veröffentlichungen (etwa „Jüdische Spuren in Leipzig“ und „Davidstern und Weihnachtsbaum“) überhaupt erst einmal sichtbar machte, wie reich das jüdische Leben in Leipzig bis zu den Schikanen, Vertreibungen und Deportationen durch die Nationalsozialisten war. Leipzig hatte eine der größten jüdischen Gemeinden in Deutschland, was sehr viel mit seiner Messe und den jahrhundertelangen Verbindungen nach Osteuropa zu tun hatte.
Und Menschen mit jüdischem Hintergrund prägten in vielen Bereichen das Leipziger Leben – nicht nur im Handel, sondern auch als Verleger, Musiker, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten … Genau das machte Leipzig in den 1920er Jahren zu einer modernen Stadt, die sich mit ihrem blühenden kulturellen Leben durchaus mit der Reichshauptstadt Berlin messen konnte.
Langes Bücher machten als erste sichtbar, was für ein Verlust die Zerstörung jüdischen Lebens auch für Leipzig war. Und zur Tragik der Geschichte gehört nun einmal auch, dass die meisten jüdischen Mitbürger sich nicht retten konnten und in den Vernichtungslagern der Nazis starben. Oft fehlte ihnen schlicht das Vermögen, um den Schritt ins Ausland wagen zu können, oft scheiterten sie auch daran, ein Visum für eins der Länder zu bekommen, die damals aus Deutschland Flüchtende aufnahmen.
Auch Channas Familie glückte die Flucht erst im letzten Moment und auf illegale Weise über Österreich und Ungarn, wo sie den letzten Treck nach Palästina erwischten. Erst später erfuhr Channa, dass zu diesem Zeitpunkt die Shoah schon begonnen hatte.
Die sogenannte „Polenaktion“ und das „Novemberpogrom“ hatten sie und ihre Eltern noch in Leipzig erlebt und waren beide Male nur knapp davongekommen.
Eine glückliche Kindheit in Leipzig
Geboren wurde Channa Gildoni 1923 in Leipzig als einziges Kind des Ehepaares Moronowicz. Ihr Geburtsname war Anni Moronowicz.
Im Buch diskutieren die Autor/-innen, ob es wirklich sinnvoll ist, den Begriff Ostjuden zu verwenden, gerade weil dieser Begriff durch die Nationalsozialisten belastet ist. Aber einen besseren gibt es wohl noch nicht, um auch die damaligen Konflikte in der Leipziger Isrealitischen Gemeinde zu schildern, die zwar sehr pluralistisch war.
Aber hier gaben die schon länger in Leipzig lebenden Familien den Ton an, obwohl die Ostjuden, die ab dem späten 19. Jahrhundert insbesondere aus Polen und Russland nach Leipzig einwanderten, in der Gemeinde die Mehrheit darstellten. Sie galten auch in zweiter und dritter Generation noch als Ostjuden, konnten aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen oft auch keinen deutschen Pass erlangen.
So ging es auch Anni und ihren Eltern Jakob und Karola, auch wenn beide schon 1909 und 1905 nach Leipzig gekommen waren und Jakob Moronowicz erst in der Promenadenstraße 34 (heute Käthe-Kollwitz-Straße) und dann ab 1934 in der Elsterstraße 28 ein beliebtes Textilwarengeschäft mit großer Kundschaft betrieb.
Es sind vor allem viele Gespräche mit Channa Gildoni bei den vielen Besuchen der Vorsitzenden des Verbandes ehemaliger Leipziger in Israel in Leipzig, aus denen die Autor/-innen Zitate und Erinnerungen zusammenstellen konnten, die Channas Schicksal erlebbar machen. Bei ihrem letzten Besuch in Leipzig 2019 entstand auch das Foto von Mahmoud Dabdoub, das sie mit OBM Burkhard Jung im Alten Rathaus zeigt.
Und natürlich verblüfft es, wenn Channa von einer glücklichen Kindheit in Leipzig erzählt. Aber es macht einen Unterschied, ob Antisemitismus nur virulent vorhanden ist, oder ob Parteien und neue Machthaber ihn zum Instrumentarium der Macht machen und in der Öffentlichkeit tatsächlich Gewalt und Hass gegen Juden anstacheln.
Neue Brücken
Jene Wenigen, denen die Flucht ins britische Protektorat Palästina gelang, haben freilich ihre Herkunftsstadt Leipzig nicht vergessen, auch wenn ihnen nach ihrer Flucht nichts geblieben war und sie sich in Palästina und dann im neu entstehenden Staat Israel (dessen Geburt Channa miterlebte) erst wieder eine neue Existenz aufbauen mussten.
Die Skepsis freilich den Bewohnern der einstigen Heimatstadt gegenüber blieb. Auch Channa Gildoni zögerte anfangs, in dieses ferne Leipzig zu reisen. Als sie es dann freilich tat, war sie überrascht und erlebte tatsächlich eine weltoffene Stadt, erlebte viele gute Gespräche und war am Ende die treibende Kraft im Verband der ehemaligen Leipziger in Israel.
Ein Verband, der freilich zunehmend seine Arbeit einstellte, denn natürlich starben die einst in Leipzig Geborenen im Lauf der Zeit und für ihre Kinder und Enkel war es nicht mehr so attraktiv, sich in so einem Verband zu engagieren, auch wenn sie die Leipziger Einladungen bis heute gern annehmen.
Aber Channa Gildoni ahnte das schon und regte schon frühzeitig die Leipziger dazu an, sich eine Partnerstadt in Israel zu suchen, damit auf diese Weise tatsächlich tragfähige Strukturen für die Zukunft entstanden. Mit Herzliya hat Leipzig diese Partnerstadt gefunden. Eine lebendige jüdische Gemeinde hat Leipzig inzwischen auch wieder.
Und so ist diese Miniatur auch ein Stück jüngere Leipziger Geschichte, einer Wiederannäherung und der Entstehung neuer Beziehungen Leipzigs in die Welt.
Würdigung für eine Zeitzeugin
Das Referat Internationale Zusammenarbeit fasst in seiner Ankündigung des Büchleins das Leben Channa Gildonis so zusammen: „Channa Gildoni wird 1923 in Leipzig als einziges Kind des Ehepaares Moronowicz in Leipzig geboren. Die Familie zählt zu den sogenannten Ostjuden und ist Teil der orthodoxen Gemeinschaft. Auf eine glückliche Kindheit folgen schreckliche Erfahrungen im Nationalsozialismus: Diskriminierung, Rassenwahn, Antisemitismus, die sogenannte Polenaktion und die Reichspogromnacht.
Gerade noch rechtzeitig gelingt die rettende Flucht über Ungarn nach Tel Aviv. Dort beginnt ein neues Leben. Channa Gildoni: Vorsitzende des Verbands ehemaliger Leipziger in Israel, Brückenbauerin, Trägerin der Ehrennadel der Stadt Leipzig und des Bundesverdienstkreuzes am Bande. Sie gehört zu den letzten Zeitzeugen, die über jüdisches Leben in Deutschland vor der Shoah berichten können und engagiert sich bis ins hohe Alter für Versöhnung sowie für lebendige und freundschaftliche deutsch-israelische Beziehungen.“
Das Buch ist bereits in deutscher und wird noch in englischer Sprache vom Hentrich & Hentrich Verlag herausgegeben. Weder die Stadt Leipzig noch die Autoren profitieren finanziell von dem Buch, betont das Referat Internationale Zusammenarbeit, das die Veröffentlichung des Werks unterstützt hat.
Sven Trautmann, Gabriele Goldfuß, Andrea Lorz „Channa Gildoni“, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2022, 8,90 Euro.
Keine Kommentare bisher