Oft suggerieren uns die täglichen Nachrichten, dass wir die Länder, über die berichtet wird, bestens kennen. Alles sei ganz einfach, die Fronten wären klar verteilt zwischen Gut und Böse. Etwas, was insbesondere die deutsche Berichterstattung über Israel und Palästina prägt. Doch selbst über das heutige Israel wissen wir wenig. Was auch damit zu tun hat, dass wir über dessen Anfänge wenig wissen. Und zu den Anfängen gehörte auch eine „Arabische Sektion“.
Sie war eine der Keimzellen des späteren Mossad, des selbst mittlerweile legendären israelischen Geheimdienstes. Doch als die „Arabische Sektion“ gegründet wurde, gab es Israel noch gar nicht. Palästina war noch ein britisches Protektorat, auch wenn den Briten die Kontrolle über das Gebiet zusehends entglitt.
Was natürlich auch mit den vielen jüdischen Flüchtlingen aus Europa zu tu hatte, die vor den Mordexzessen des deutschen Faschismus geflohen waren und in Palästina eine neue Heimat suchten. Was zwar wie eine Rettung klingt. Aber auch im Nahen Osten gab es seit den 1920er Jahren zunehmend antisemitische Ausschreitungen, weshalb die jüdischen Siedler in Palästina schon früh eine eigene paramilitärische Einheit gründeten, die Hagana.
Sodass die Lage für die Juden in Palästina extrem heikel aussah, als die Briten sich nach und nach zurückzogen und gleich fünf arabische Länder ihre Truppen mobilisierten, um die jüdischen Siedler wieder aus Palästina zu vertreiben.
Das war der Zeitpunkt, als innerhalb des Palmach, einer Unterorganisation der Hagana, das gegründet wurde, was Matti Friedman in diesem Buch thematisiert: die „Arabische Sektion“, eine Gruppe von jungen Juden, die nicht nur wie die arabischen Nachbarn aussahen, sondern selbst in den arabischen Ländern der Region aufgewachsen waren, die das Arabische beherrschten und die deshalb besonders geeignet schienen, in den nun zu Feindesländern werdenden Nachbarstaaten Spionagestrukturen aufzubauen und Informationen über alles zu liefern, was irgendwie für die jüdischen Streitkräfte und den künftigen Staat Israel von Belang sein könnte.
Die Geschichte des Antisemitismus im Nahen Osten
Ein Staat, der seit 1947 erst einmal nur eine Utopie war, nachdem die UN-Generalversammlung die Resolution 181 (II) angenommen hatte und zur Lösung des Konflikts zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern des britischen Mandatsgebiets die Bildung zweier Staaten – eines jüdischen und einen palästinensischen – vorsah.
Etwas, was ja bekanntlich bis heute nicht vollendet ist. Und das hat genau mit den Ereignissen in den Jahren 1948 und 1949 zu tun und dem Versuch der arabischen Nachbarstaaten, die jüdische Staatsgründung zu verhindern und die Juden sogar zu vertreiben aus der Region. Ein Vorhaben, das damals auch von radikalen Predigern befeuert wurde.
Und das viel mit der „Vorarbeit“ der Deutschen zu tun hatte, die mit ihrem Versuch, militärisch im Nahen Osten Fuß zu fassen, dort auch den Antisemitismus schürten. Die heutigen Konflikte haben tatsächlich eine 100 Jahre lange Vorgeschichte. Sie haben mit europäischen Kriegen und Einflussnahmen zu tun. Und europäischen Ressentiments, die damals in einer Region Fuß fassten, in der Muslime, Juden und Christen jahrhundertelang relativ friedlich nebeneinander lebten.
Dieser künstlich geschürte Hass auf den neuen Staat der Juden hatte schon damals Folgen für alle jüdischen Gemeinden im arabischen Raum. Denn während die jüdischen Siedler um ihren neuen Staat kämpften gegen gleich fünf Armeen, verschlechterte sich das Klima für die jüdischen Gemeinden in Syrien, Ägypten, dem Libanon, Jordanien und dem Irak.
Es kam zu Pogromen und Vertreibungen. Und diese Juden aus der arabischen Welt strömten natürlich auch in das neue Land Israel. Womit schon die Grundlage für eine Veränderung gelegt wurde, die im 21. Jahrhundert die Politik Israels prägt – und aus europäischer Sicht oft so unverständlich macht.
Ein Kiosk in Beirut
Und indem Friedman in seinem Buch vier junge arabische Juden begleitet auf ihrer gefährlichen Mission in der libanesischen Hauptstadt Beirut, werden all diese Aspekte wie unterm Brennglas sichtbar. Auch für die heutigen Israelis, was er mehrfach im Text anklingen lässt.
Denn auch in Israel wird noch oft genug das Bild eines europäischen, durch die „Aschkenasim“ geprägten Israel gepflegt und der seitdem gewachsene Anteil von Israelis mit arabischer Herkunft ignoriert. Und damit auch ihre Erfahrung, die sich in den Schilderungen und Aufzeichnungen der vier jungen Männer niedergeschlagen hat.
Sie haben es tatsächlich fertiggebracht, sich mit völlig unzureichenden Mitteln eine Tarnexsistenz in Beirut aufzubauen und die Stimmung der muslimischen Bevölkerung sensibel aufzunehmen. Und die war ganz und gar nicht bereit, mitten in einem als arabisch verstandenen Gebiet einen jüdischen Staat zu akzeptieren.
Der Krieg gegen das junge Israel endete ja nicht durch Einsicht oder Akzeptanz, sondern schlicht damit, dass den beteiligten arabischen Armeen die Kräfte ausgingen, während die israelische Seite mit Entschlossenheit für ihr Land kämpfte.
Auch das ist ja so ein oft geübter Trugschluss, dass Israel quasi durch einen UN-Akt gegründet wurde. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass sich die junge Nation ihre Existenz erkämpfen musste und dass es auch heute wenig Zeichen gibt, dass diese Existenz von den Nachbarländern akzeptiert wird.
Da ist es natürlich zeitweise schwer zu greifen, wenn Matti Friedman die Schicksale der vier jungen Männer erzählt, die sich nicht nur freiwillig für die „Arabische Sektion“ rekrutieren ließen, sondern auch mit allen Gefährdungen per Morsegerät aus einem Kiosk in Beirut berichteten, was sie auf den Straßen, in den Cafés, aus den Zeitungen erfahren konnten – ohne zu wissen, wer die Morsezeichen tatsächlich empfing und was sich in Haifa, wo sie aufgebrochen waren, tat in dieser Zeit, in der anfangs noch der Krieg tobte, der den Traum vom Staat Israel ins Mittelmeer zu fegen drohte.
Den Tod immer vor Augen
Am Ende kehrten sie in ein Land zurück, das es noch gar nicht gegeben hatte, als sie aufbrachen. Die anfangs sehr provisorischen Strukturen waren inzwischen ersten professionellen Ansätzen gewichen, auch wenn der Mossad noch in einem anonymen Zelt residierte.
Aber was die vier – ohne jegliche geheimdienstliche Vorbildung – auf die Beine gestellt hatten, floss dann natürlich ein in die Arbeit des Mossad. Sie wurden dort selbst zu erfolgreichen Agenten. Wobei Friedman etwas Schönes betont: Die erfolgreichsten Agenten werden nicht berühmt. Denn sie werden nie geschnappt.
Wobei die vier in diesem Jahr in Beirut oft genug kurz davor sind, geschnappt zu werden. Da half auch ihre Tarnung nicht viel. Denn natürlich gingen Gerüchte über Spione auch in den Ländern rund um Palästina um.
Und einige der jungen Männer, mit denen die Vier gemeinsam trainiert hatten, wurden auch gefangen und gefoltert und hingerichtet. Sie hatten ihr Schicksal immer vor Augen – und waren dennoch junge Männer, die im nach wie vor sehr weltoffenen Beirut ihr Leben leben wollten, tanzen gingen, Cafés besuchten und sich auch Freundinnen zulegten.
Mit einem der vier – Isaac Shoshan – konnte Friedman noch ausführliche Gespräche führen, sodass er das Leben der vier jungen Männer auch detailreich und mit vielen menschlichen Facetten zeichnen konnte – was sein Buch natürlich lesenswert macht und gleichzeitig all das ergänzt, was in den alten Protokollen und Funkaufzeichnungen nicht zu lesen ist. Ganz zu schweigen von den Schilderungen der höchst gefährlichen Fahrt im Bus nach Beirut und der nicht weniger gefahrvollen Rückreise über das Mittelmeer.
Das Buch „Kim“
Aber gerade im letzten Teil des Buches geht Friedman besonders auf die Veränderungen in Israel ein, die schon damals begannen, als hunderttausende Juden aus den angrenzenden arabischen Ländern nach Israel flüchteten. Sie galten zwar in dem jungen Staat lange Zeit als Randgruppe, erlebten sogar Diskriminierung, weil sie so gar nicht dem Selbstbild der aus Europa geflüchteten Juden entsprachen. Aber sie haben das Land verändert. Ihr Blick auf die Nachbarländer prägt heute zusehends die israelische Politik.
Und eben das findet Friedman schon in den Aufzeichnungen der kleinen Gruppe aus Beirut, deren Leben er versucht, so detailliert wie möglich zu beschreiben – die Ängste, wenn Kontakte nicht gelingen, der Streit mit dem Hauptquartier, ob gewalttätige Anschläge nicht doch das Mittel der Wahl wären, die Momente der Angst, wenn ihre Rolle aufzufliegen drohte.
Man erfährt ziemlich bald, dass ihre Arbeit mit den großen britischen Geheimdienst-Storys eher nichts zu tun hat, dafür viel mit einem Buch, das damals nicht nur in England sehr viel gelesen wurde – Rudyard Kiplings „Kim“. Eigentlich eine komplett erfundene Geschichte, die aber selbst namhaften Spionen zum Vorbild wurde für einen Undercover-Einsatz im Feindesland.
Aber Friedman macht auch sichtbar, in welche Zwickmühlen junge Männer geraten, wenn sie in Rollen schlüpfen (müssen), die eigentlich mit dem, was sie selbst sein möchten, nicht viel zu tun haben. Immerhin hatten sie ja nicht nur ihre ursprünglichen Heimatstädte verlassen (wo oft genug noch ihre Familien lebten), um nach Palästina zu gelangen, sie hatten auch ein Palästina verlassen, das es bei ihrer Rückkehr so nicht mehr gab.
Im neu gegründeten Israel überlagern sich also völlig verschiedene Migrationsgeschichten. Und es würde lange dauern, bevor sich die Bewohner dieses Landes stolz Israeli nennen würden.
Wenn die Schablonen von Gut und Böse nicht genügen
Und gerade weil Friedman so intensiv das Leben von vier jungen arabischen Juden beleuchtet, wird das zutiefst Menschliche und Widersprüchliche an moderner Staatengeschichte deutlich. Das, was am Ende auch das Wesen einer Nation ausmacht oder verändert.
Und was eben auch Politik wird. Und da wird es eben spannend, wenn die im Schwarz-Weiß-Denken geschulten Medien immer wieder versuchen, die offenkundigen Konflikte als die üblichen Konflikte zwischen Gut und Böse zu erzählen, ohne jeglichen Sinn für all das, was die Menschen auf den Straßen, in den Cafés und Moscheen tatsächlich denken und fühlen.
Wenn Geheimdienste das alles abschöpfen, hilft das zwar erst einmal dem eigenen Land, dem Militär und den politischen Entscheidern. Aber wie löst man solche Konflikte, wie bekommt man überhaupt ein Gefühl für die vielen uralten Ressentiments und Vorstellungen vom Richtigsein der Welt?
Zumindest dürfte das Buch so manchem Korrespondenten helfen, wenn es darum geht, das heutige Israel besser zu verstehen – auch in seinen Ängsten und seiner militärisch definierten Selbstbehauptung in einer Umgebung, in der die Existenz dieses Landes bis heute nicht wirklich akzeptiert wird.
Eines Landes, das ja eben nicht nur zur Zuflucht von hunderttausenden Juden aus Europa wurde, sondern auch von ihren Glaubensgenossen, die aus arabischen Ländern vertrieben wurden.
Andererseits erzählt Friedman auch eine Geschichte, die längst ihr Ende gefunden hat. „In der Generation unserer Spione war der israelische Geheimdienst mit tausenden von ‚Kims‘ aus arabischen Ländern gesegnet. Ihre Kinder jedoch sprachen bereits alle Hebräisch, nicht mehr Arabisch. Sie waren etwas Neues: Israelis.“
Die israelische Kultur hat sich mit ihnen nach und nach orientalisiert, wie es Friedman nennt. Aber unter den jüngeren Israelis wird man kaum noch Männer finden, die sich so selbstverständlich in einer arabischen Umgebung tarnen können, wie es die Jungs aus der „Arabischen Sektion“ noch konnten.
Ein Kiosk in Tel Aviv
Und so steht eben auch als Fazit, wie Friedman schreibt: „In der offiziellen Geschichte Israels waren Menschen wie unsere vier Spione aus der islamischen Welt gekommen, um Teil der Geschichte der europäischen Juden zu werden. Doch was dann geschah, war eher das Gegenteil.“
Und während die Geschichte des Palmach Teil der israelischen Erinnerungskultur ist, kennt kaum jemand die „Arabische Sektion“, deren Geschichte Friedman nicht komplett erzählt. Das wäre ein viel dickeres Buch geworden. Er beschränkt sich exemplarisch auf die vier jungen Männer, die es damals nach Beirut verschlug.
Und am Ende sieht man ihn selbst in Tel Aviv auf einer Bank gegenüber einem Kiosk sitzen, wie er durchaus dem Kiosk in Beirut geähnelt haben könnte. Oder in jeder beliebigen Stadt rund um das östliche Mittelmeer. Ein Ort der Begegnung, wo sich die unterschiedlichsten Menschen treffen. Und wo man eben auch die unterschiedlichsten Menschen kennenlernen kann.
„Jetzt, vor diesem Kiosk sitzend, sehe ich ihren fast vor mir. Jeden Moment könnte einer von ihnen vorbeikommen.“
Natürlich kommt keiner von ihnen vorbei. Drei sind schon gestorben – wovon einer wenigstens noch seine Erinnerungen veröffentlichte. Und den vierten konnte Friedman in seiner Wohnung im siebenten Stock besuchen, eher erstaunt darüber, dass Isaac ganz und gar kein großes Aufheben von dem machen wollte, was er damals erlebt hat.
Matti Friedman Spione ohne Land Hentrich & Hentrich, Leipzig 2022, 24,90 Euro.
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