Wer kein angepasstes Leben führt, der lebt zwangsläufig ein Leben, bei dem anderen Leute die Spucke wegbleibt. Oder die Fantasie angeheizt wird: Was für ein Leben? Kann man das erzählen? Und: Was fasziniert einen daran? – Mit „Der letzte Punk“ versucht Abo Alsleben, so ein Schicksal zu erzählen, eng angelehnt an die Geschichte der tatsächlich existierenden Punk-Band „Schleim-Keim“.
Deren Geschichte und auch das Schicksal ihres Gründers und Sängers Dieter „Otze“ Ehrlich sind mittlerweile recht gut aufgearbeitet. Aber Fakten und Akten sind das eine. Sie beantworten aber nie wirklich die Frage, warum einer so ein Schicksal erlebt hat, was ihn motiviert, getrieben und zerrieben hat. Das erfüllt bestenfalls die Fantasie.
Und Abo Alsleben, selbsterklärter hedonistischer Lebenskünstler aus Leipzig-Connewitz, der sich schon in mehreren Büchern mit den Unangepassten vor und nach der „Wende“ beschäftigt hat, war regelrecht erschüttert gerade vom Leben dieses Dieter Ehrlich. Es „haute ihn um“. „Ich kannte Otze nicht, seine Musik war nicht die meine.“ Und trotzdem war da sofort der Kick für den Autor, der in Otzes Geschichte viel von dem, wiederentdeckte, was ihn an seine eigene rebellische Zeit damals erinnerte.
Wenn Punk zur Sprache der Rebellion wird
Er konnte sich gut vorstellen, wie der junge Musiker aus der thüringischen Provinz sich mit der grauen, muffigen und von Überwachung geprägten Umwelt rieb und mit der Entdeckung der aus dem Westen hereinschwappenden Punk-Musik die musikalische Sprache fand, die seinen Gefühlen entsprach und all das möglich machte herauszuschreien, was in ihm rebellierte.
Aber natürlich konnte und sollte es keine Biografie werden, auch wenn man die Geschichte von Schleim-Keim und den anderen Punk-Bands, die in der späten DDR entstanden, immer mitdenken kann. Abo Alsleben hat seinen Helden Dietrich „Öse“ Aufrecht genannt und dessen Band, die er mit seinem Bruder und einem Kumpel gründete, „Schmeißkeim“.
Aber es ist nicht eigentlich die Band-Karriere, die ihn so mitriss, sondern das, was er in den Akten fand und was für ihn das eigentliche Leben des Sängers zu formen begann, der schon in den 1980er Jahren bei Punks in der DDR eine Legende war. Denn er sang und brüllte ja das heraus, was viele junge Menschen in der DDR als Lebensgefühl teilten.
Und nicht nur dort. Punk ist ja im Westen groß geworden – als Rebellion gegen eine Wohlstandsgesellschaft, die längst normiert, satt und stockkonservativ geworden war. Die Satten und Selbstzufriedenen aber merken nicht mehr, wenn sie jungen Menschen die Freiräume nehmen, sie in die Schablone ihrer Erwartungen pressen und ihnen ein Menschenbild predigen, in dem sich gerade all jene nicht wiederfinden, die sich nicht ein- und unterordnen wollen – oder können.
Die alten, brodelnden Gefühle
Das steht ja auch bei diesem Einzelgänger und Zappelphilipp Dietrich Aufrecht ganz am Anfang der Geschichte. Und die DDR als repressiver Staat ging mit den Unangepassten und Einzelgängern nie zimperlich um. Es wird schon diese Stelle gewesen sein, an der Abo Alsleben die alten Gefühle wieder hochkamen und wo er in diesem Jungen, der sich nicht in einen ungeliebten Beruf und eine nervtötend sinnlose Arbeit pressen lassen wollte, sein eigenes Rumoren wiedererkannte, ein Rumoren, das damals viele junge Leute in Nischen und alternative Strömungen trieb.
Die Punks waren dabei mit die radikalsten, zeigten in selbstgebasteltem Outfit, exzessivem Alkoholgenuss und frenetischer Liebe zu den Szenebands die größtmögliche Distanz zu einem autoritären Land, das von seinen jungen Leuten vor allem Anpassung, Einordnung, Normerfüllung und ordentliches Auftreten verlangte.
Wobei es eine ganze Palette jugendlicher Widerständigkeit in der DDR gab – von den kirchlichen Friedensgruppen über die Beatniks nicht nur bis zu den Punks.
Das thematisiert Abo Alsleben im Lauf der Geschichte auch, wie gerade Ende der 1980er Jahre auch die Zahl der Skinheads zunahm und sich gerade in Widerspruch zum erklärten Antifaschismus in der DDR eine martialische Neonazi-Szene herausbildete. Die dann zur manifesten Naziszene der Zeit nach 1990 wurde, als die neu uniformierten Polizisten mit diesen rechen Schlägertypen genauso ratlos und duldend umgingen, wie sie es vor dem Ende der DDR auch gemacht hatten, als die Regierung so tat, als gäbe es im Land keine Nazis. Während die anderen altenativen Jugendgruppierungen – so wie die Punks – nicht nur von den „Staatsorganen“ drangsaliert, sondern auch von den aggressiven Skinheads bedrängt wurden.
Da hat sich leider nicht viel geändert bis heute, wenn man so in ländliche Regionen im Osten schaut.
Der lange Schatten autoritären Denkens
Es gibt auch politische Fehler, die werden systemübergreifend fortgesetzt, weil sich das autoritäre Denken der Regierenden auf dieselben „Werte“ und „Normen“ beruft. Man sieht es nur nicht, will es nicht sehen.
Mit nichts konnte man in der DDR deutlicher machen, dass man auf all diese Erwartungen pfiff, als wenn man sich gegen die gesetzten Normen so deutlich abgrenzte, wie es die Punks taten. Wohl wissend, dass sie damit die staatlichen Überwacher auf den Plan riefen und Sanktionen riskierten, die bis zur Einweisung in den Jugendwerkhof und Gefängnisstrafen wegen Verstoß gegen irgendeines der schwammigen Gesetze, die die gesellschaftliche Abweichung kriminalisierten, führen konnte.
Was trotzdem immer weniger Jugendliche abschreckte, sich in Kleidung, Auftreten und Musik radikal gegen diese Bevormundung zu wehren. Und für diesen „Öse“ ist das alles eins. Im Punk entdeckt er genau die musikalische Sprache, die seinem inneren Empfinden entspricht. Hier kann er praktisch ohne Verstellung hinausschreien, was ihn anstinkt, anödet, zur Verzweiflung bringt. Und die Songs, die er entwickelt, kommen an, treffen den Nerv vieler junger Leute, für die „Schmeißkeim“ zur Kultband wird. Die Konzerte geraten immer wieder außer Kontrolle, auch weil für „Öse“ und seine Kumpel von Anfang an der Alkohol eine zentrale Rolle spielt.
Saufen selbst ist für sie Protest gegen ein durch und durch kontrolliertes Land. Und eine Weile geht das gut, auch wenn der junge Musiker schnell andere Szenegestalten kennenlernt, die längst dabei sind, sich kaputtzusaufen und sich mit immer härteren Drogen das Gehirn wegpusten.
Ein verzweifelter Schutzengel
Man merkt schnell, wie sehr den Autor auch der Wunsch treibt, diesen jungen Mann vielleicht doch noch zu retten, ihn vor dem Schicksal zu bewahren, das mit all den Enthemmungen und Sauftouren unweigerlich auf ihn zukommt. Er erzählt die Geschichte deshalb aus der Perspektive eines Schutzengels, der alle Hände voll zu tun hat und diesen „Öse“ manchmal nur haarscharf vor dem ganz frühen Tod rettet, der aber auch mit Verzweiflung zuschaut, wie sein ihm anvertrauter Mensch immer wieder in Situationen gerät, in denen ihm all seine Cleverness nicht hilft.
Ein Polizist, dem „Öse“ schon nach den ersten Eskapaden gegenübersitzt und der augenscheinlich der berüchtigten Abteilung K1 der Kripo angehört, taucht immer wieder auf und kann – aus Sicht der Ordnungsmacht – den vorhersehbaren Niedergang dieses jungen Rebellen konstatieren, auch zuletzt auf der Siegerseite und letztlich dabei, als der im Rausch mal wieder ausgetickte Musiker dann ganz amtlich in die „Klapse“ eingewiesen wird. Denn mit den Demonstrationen von 1989 endet die Geschichte nicht. Wie ja auch die Punkbewegung im Osten nicht endete, auch wenn sie über Nacht den Nimbus des Subversiven verlor.
Und natürlich bleibt ein Menschenschicksal wie dieses unverständlich, wenn der Autor nicht auch versucht zu erzählen, wie der Held auch mit den Ordnungserwartungen der „neuen Zeit“ nicht zurande kommt, rastlos umgetrieben, weil es augenscheinlich keinen wirklichen Ort in diesem Land gibt, an dem er ein Zuhause finden kann – während sein elterliches Zuhause mit dem Tod der Mutter praktisch verloren geht.
Es ist keine Geschichte, die gut ausgeht. Eine, die nicht gut ausgehen kann, denn während „Öses“ Bruder die Kurve kriegt, aus der Band aussteigt und eine Familie gründet, kann sich der Held selbst vom eingeschlagenen Weg nicht lösen. Er braucht den Alkohol, um auf der Bühne die volle Show abzuliefern – auch wenn der Alkohol am Ende dafür sorgt, dass er nicht mal mehr seine Auftritte schafft.
Wo beginnt die Selbstzerstörung?
Was natürlich etwas thematisiert, was für junge Menschen immer als Frage auftaucht, der sie nicht ausweichen können: Wo sind eigentlich die Grenzen der Rebellion? Wann fängt man an, sich selbst zu zerstören und die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren?
Denn natürlich faszinieren die dramatischen Schicksale der entfesselten Helden ihre Anhänger. Sie werden für die unbändige Wut, den forcierten Protest, das auf niemanden Rücksicht nehmende Tempo ihrer brachialen Musik bewundert – aber wer erzählt, was in ihnen dabei vorgeht? Wollen sie sich selbst zerstören? Können sie nicht anders? Oder gibt es eine so unerfüllbare Wut in ihnen, dass sie gar nicht anders können, als immer wieder alle Grenzen zu überschreiten?
Was geht da in ihnen vor?
Und Abo Alsleben versucht wirklich möglichst viel von dem zu zeigen, was er mit diesem Helden verbindet. Denn natürlich kann man, wenn man Ähnliches erlebt hat, nachempfinden, was in diesem Jungen aus Thüringen vor sich geht, der sich von keinem Staat einvernehmen lassen möchte, sich nicht einordnen und zum braven Mitläufer werden möchte. In Manchem brodelt das ja auch noch in späterem Alter, sind auch die Gefühle noch da, die gegen Bevormundung und Erniedrigung rebellieren, gegen einen Ordnungsgeist, für den „Ruhe die erste Bürgerpflicht“ ist. Ein Ordnungsgeist, der alternative Szeneviertel nicht akzeptieren will und sich auch nicht damit beschäftigen will, warum junge Leute sich dem Wohlstandsdenken verweigern.
Kein Ausweg für den Einzelgänger
Und so wird auch der fast tagebuchartig akribische letzte Teil des Buches zu einer erzählerischen Kritik an einem Korrektionssystem, in dem es für diesen Dietrich Aufrecht am Ende keinen Ausweg gibt. Ein Outlaw, für den es letztlich keinen Platz auf dieser Welt gibt und der dann auch seinen Wärtern und Ärzten allein gegenüber sitzt. Ohne Beistand, außer den seines völlig überforderten Schutzengels.
Es ist ein durchaus wuchtiger Versuch, das Leben des Musikers zu erzählen, in dem etwas passiert, was gleichzeitig faszinierend und beängstigend ist. Was wird aus der großen Rebellion, die einen in der Jugend auf alle Barrikaden treibt, wenn man dann doch von Alkohol und Drogen von den Füßen gepustet wird?
Einer Rebellion, die gleichzeitig der getrommelte und gesungene Aufstand gegen ein durchkontrolliertes Land war, das Kritik an sich nicht dulden wollte. Denn natürlich war die Musik der Punkbands im Osten auch ein Aufschrei gegen das Normierte und die allgegenwärtige Gängelei. Die musikgewordene Forderung nach einem wirklich freien Leben, in das keine Staatsgewalt hineinzureden hatte … Weshalb Abo Alsleben gleich mal seinen „Öse“ zum Auslöser der Rufe „Wir sind das Volk“ werden lässt, die dann in Leipzig auf den Montagsdemonstrationen zu hören waren.
Der unbändige Wunsch nach Freisein
Aber natürlich hat das alles miteinander zu tun, auch wenn jeder 1989 diesen Ruf nach Respekt und Freiheit anders empfunden haben mag, anders mutig war und anders radikal dachte. Es sind ja nicht alle Punks. Aber so fremd dürfte zumindest lebendigen Zeitgenossen dieser unbändige Wunsch nach der richtig großen Befreiung nicht sein. Auch heute nicht. Auch wenn man am Ende eher wie der verzweifelte Schutzengel fühlt, dem es nicht mehr gelingen will, seinen Schützling vor der Zerstörung zu bewahren.
Möglicherweise werden auch all jene, die das Schicksal von „Schleim-Keim“ tatsächlich miterlebt haben, am Ende sagen: „Ja, so war er. So haben wir ihn erlebt.” Man weiß es nicht. Ein Roman kann nur eine sehr persönliche Annäherung an einen solchen Helden sein, aber Abo Alsleben muss in seinem Helden etwas sehr Vertrautes wiedergefunden haben.
Etwas, was das Schicksal seines Helden typisch macht für die Schicksale so vieler damals junger Menschen, die ihre Rebellion auslebten und damit die Macht genauso herausforderten wie die erschrockene Umwelt. Und die auch sich selbst riskierten dabei, ihr ganzes Leben in die Waagschale warfen. Was ja die Frage ist, um die sich solche Geschichten immer drehen: Wagt man sein ganzes Leben, fordert das Absolute? Oder schafft man es zu leben, mit dem Wissen, dass man ohne Kompromisse nichts erreicht?
Was ja die Tatsache nicht aus der Welt schafft, dass manche Menschen gar nicht anders können. Wobei Abo Alsleben auch die nicht ganz beiläufige Frage diskutiert, ob das Leben seines Helden nicht schon an der Stelle aus der Bahn geriet, als der „Zappelphilipp“ schon von den Behörden seiner Kindheit mit Medikamenten abgefüllt wurde, die letztlich auf direkten Weg in die Abhängigkeit führten.
Auch so eine alte DDR-Geschichte, die nicht zu Ende erzählt ist. Denn mit diesem Blickwinkel ist der Held dieser Geschichte tatsächlich das Ergebnis medizinischer Experimente, mit denen ihn ein Land kaputt gemacht hat, das herumzappeln und stören für absolut inakzeptabel hielt.
Abo Alsleben: Der letzte Punk, DIY 04277 Books, Leipzig 2022, 12 Euro.
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