Die Wellen, die Birk Engmann in seinem Band voller Kurzgeschichten beschreibt, sind diesmal nicht die Wellen des Störmthaler Sees. Die Geschichte, die sie beschwört, handelt von einem Urlaubsaufenthalt mit Corona-Schutzmaßnahmen an der Ostsee. Aber es geht nicht nur um unser seltsames Verhalten in der Corona-Zeit. Menschen verhalten sich auch in anderen Situationen seltsam.

Und solche Situationen sind das Arbeitsfeld von Birk Engmann – im richtigen Leben und als Autor. Situationen, in denen sich die scheinbare Souveränität menschlichen Handelns als Irrtum erweist, als Schock oder als Verwirrung im selbst angerichteten Schlamassel.

Dabei kann es durchaus auch ein bisschen phantastisch werden, wenn Engmann ausführlich das Ende einer Mars-Expedition zeigt, auf die sich auch der Held aus lauter Leichtgläubigkeit und Selbstüberschätzung eingelassen hat.

Eine Selbstüberschätzung, die aber schon in dem Gedanken steckt, mit dem heute schon einige Konzerne um Freiwillige für einen Marsflug werben, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Reise ohne Rückkehr werden wird. Und während andere Leute bei solchen Nachrichten vorm Fernseher Bauklötze staunen, packt einen wie Engmann das blanke Entsetzen.

Denn er malt sich automatisch aus, wie so eine Reise schon auf dem Hinflug zum Mars eine katastrophale Wendung nehmen kann. Schon aus rein menschlichen Gründen. Denn selbst Raumfahrer, die monatelang in der Raumstation ISS um die Erde kreisen, können darauf rechnen, im Notfall wieder zur Erde geholt zu werden.

Der irre Preis des schnellen Ruhms

Dabei kennt fast jeder einen, der nur zu bereit wäre, des kurzen Ruhmes willen auch auf eine aussichtslose Reise zum Roten Planeten zu gehen. Das hat mit dem menschlichen Denken zu tun und unserem Zeitgeist, der sich – im Informationsgetrommel – kaum noch so weit konzentrieren kann, die nähere Zukunft mitzudenken, gar das eigene Überleben, auch wenn die Klimakrise nur stellenweise hineinirrlichert in Engmanns Geschichten.

Eher als Fatum, das in einer Zukunft enden könnte, in der die arm gewordenen Leipziger die Kohle unter ihrer eigenen Stadt abgraben und am Ende dafür sorgen, dass das eigene S-Bahn-Tunnelsystem einstürzt – und damit die ganze Innenstadt.

Das darf man ruhig Dystopie nennen, auch wenn der dystopische Anstoß in diesem Fall nicht aus einer missglückten Energiewende kommt, sondern aus einer mehrfach missglückten Reform des Gesundheitssystems, dessen fatale Folgten heute schon sichtbar sind.

Denn wenn alle medizinischen Leistungen auf knappe Budgets gerechnet sind, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Krankenhäuser rote Zahlen produzieren, medizinische Leistungen sich „nicht mehr rechnen“ und Patienten froh sind, wenn sie sich den Besuch beim Arzt überhaupt noch leisten können.

Es ist eine zutiefst sarkastische Geschichte. Aber dahinter steckt die Wirklichkeit von heute und ein ebenso falsches wie fatales Denken, wie es hinter der technokatischen Machbarkeit von Mars-Flügen steckt.

Ein Denken, das Engmann selbst beim Spazierengehen in Leipziger Parks zum Stutzen bringt, gleich in der ersten Geschichte, in der auf allen eingeschalteten Smartphones der in den Parks picknickenden Leipziger eine Unwetterwarnung auftaucht und die Familien zum hastigen Aufbrechen bringt.

Und das irgendwie eingetaktet zwischen den bunten und lauten Smartphone-Spielen der Kinder, sodass nicht recht klar wird, was denn nun noch Wirklichkeit und was programmierte Scheinwelt ist.

Das alternativlose Denken von Apparaten

Aber es steckt immer menschliches Handeln dahinter, oft besessen von der Genialität des eigenen Tuns und der Unausweichlichkeit honoriger Entscheidungen in scheinbar demokratischen Gremien. Mit einem solchen bekommt es der Held in der zweiten Geschichte zu tun, die nicht grundlos „Staub“ heißt und in der der Held der Geschichte immer wieder zurückgeworfen wird in eine Zeit, in der er als junger Mensch vergeblich gegen die Sprengung einer Kirche protestierte.

Und nun – als alter Mann – nutzt er die Chance, sich als Architekt für den Wiederaufbau einer anderen Kirche einzusetzen – und muss sich dann von einem smarten Burschen, der sich über die Zeit ganz elegant gewendet hat, erklären lassen, dass er mal wieder viel zu naiv und blauäugig ist.

Diese Leute wissen immer, wie man in Apparaten nach oben kommt und an genau jene Schaltpunkte, an denen sie steuern können, was geschieht. Und was nicht. Was dann für die Betroffenen und Bürgerbeteiligten oft so aussieht, als regierte nur das Schicksal, das keiner beeinflussen kann.

Es geht, wie man sieht, immer wieder um die Entscheidungsspielräume des Menschen. Die oft genug von anderen beschnitten und eingeengt sind. Aber oft stecken die Schwierigkeiten, die richtigen Entscheidungen zu treffen, auch in uns.

Dann hören wir nicht zu, wenn uns die Liebsten warnen, glauben, die Welt wäre gut und ein Afghanistan-Krieg nicht so gefährlich wie der Krieg des Großvaters, der für diesen mit einem letzten Feldpostbrief endete, den der Held in „Der Brief des Großvaters“ mit zu seinem Einsatz nach Afghanistan nimmt. Ein Held, der dem einsamen Mars-Reisenden aus „Reise ohne Wiederkehr“ erstaunlich ähnlich ist.

Und ebenso den Teilnehmern des „Klassentreffens“, das ausgerechnet für den selbstgerechten Hauptakteur damit endet, dass ihn seine Frau mit den Kindern verlässt. Dabei ist er doch was geworden, so wie alle in der Klasse, hat sich einen jener Berufe zugelegt, mit denen man in der neuen Gesellschaft prima überleben und Geld verdienen kann.

Doch schon während der Feier im alten Bahnhof ahnt man, dass die Prahlerei so echt nicht ist, dass sich hier die Erfolgreichen gegenseitig versuchen zu übertrumpfen, obwohl augenscheinlich keiner so richtig froh ist mit seiner Berufswahl und seinem Leben.

Keine Zeit mehr für Menschlichkeit …

Auch das ja ein Thema „wie aus dem Leben gegriffen“. Oft nehmen wir ja diese Irritationen gar nicht mehr wahr. Oder wollen sie nicht wahrhaben, gehen drüberweg und tun so, als müsste das so sein – so wie der letztlich gefühllose Umgang mit der alten Frau im Altersheim in „Die Russen kommen“.

Auch hier ein Arzt, der eigentlich weiß, dass seine Patienten eigentlich Zuwendung und Zuhören brauchen, aber die Zeit hat er nicht. Die Zeit wird ihm nicht gelassen. So wird die von ihren uralten Ängsten Geplagte eben einfach ruhiggestellt. So wie die meisten anderen im Altersheim ebenso.

Engmann ist ein Mensch, der die Ängste unserer Zeit nicht einfach abtropfen lassen kann. In „Die Insel am Rande der Stadt“ geht es zwar irgendwie um eine Runde von Männern, die sich eigentlich nicht kennen, sich aber regelmäßig zum Trinken im Freisitz treffen.

Nur dass diesmal einer davon erzählt, wie er vom Gericht verurteilt wurde, weil er als Zugschaffner letztlich eine Randale im Zugwaggon einfach dadurch ausgelöst hat, dass er von den eh schon auf Krawall gebürsteten Hooligans auch noch die Fahrkarten sehen wollte.

Wer hat Schuld? Oder stecken viel mehr Menschen in Rollen fest, die sie nicht verlassen können, ohne sich irgendeiner Instanz in unserer Gesellschaft gegenüber schuldig zu machen? Alleingelassen mit unlösbaren Problemen und letztlich wehrlos, weil es für sie vor Gericht keine Argumente mehr gibt?

Der Mut zum „Nein“-Sagen

Menschen, die sogar – wie der Held in „Binz“ – mit Bedrückung in den Urlaub fahren, weil ihr Chef sie noch vor Urlaubsantritt zusammengeschissen hat? Und beinah der schöne Urlaub mit der Geliebten in die Binsen geht, weil hinter der Drohung, ein „Minderleister“ zu sein, auch schon die Entlassung steht.

Was stellt das wirklich an mit einer Gesellschaft, wenn Arbeitsplatzabbau und rücksichtsloser Umgang mit dem „Produktivkapital“ dazu führt, dass Menschen nur noch Angst haben in ihrem Arbeitsleben und dafür bereit sind, auch Freizeit und Lebenszeit zu opfern?

Ein wenig liest sich die Geschichte, als wäre sie in den 1990er Jahren geschrieben, als dieser Zustand des rüden Umgangs mit den Arbeitskräften im Osten auf jeden Fall ein umfassendes Phänomen war und eine Menge Mut dazugehörte, in so einer Situation zu sagen: mit mir nicht!

Auch wenn diese Geschichte mit einer durchaus überraschenden Ermutigung endet. Denn solche Geschichten schreibt man nicht, wenn man nicht innerlich aufbegehrt gegen diese Überwältigung und Abwertung von Menschen. Wenn man nicht weiß, wie das nicht nur Stolz und Selbstbewusstsein zerbricht, sondern auch das Vertrauen zum Leben.

Und wie geht es dann einem wie diesem Steinert, als ihm klargemacht wird, dass seine Ideen für den Wiederaufbau der Kirche einfach nicht erwünscht sind, dass er zwar mit dabei sein darf, aber alles längst höheren Ortes entschieden ist? Hilft da das Wissen, es trotzdem versucht zu haben, nicht von vornherein aufgegeben und kleinbeigegeben zu haben?

Nein, es hilft nichts. Die Geschichte endet mit einem fulminanten Akt der Empörung.

Die falschen Versprechen einer virtuellen Welt

Und es ist nicht die einzige Geschichte, die eigentlich unaufgelöst bleiben muss. Denn auch die „Anleitung zum Glücklichsein“ führt den etwas arg von seinen Qualitäten überzeugten Helden nicht ins Glück, eher in eine Welt der organisierten Ent-Täuschung, wenn Partnerbörsen zum Jahrmarkt der Eitelkeiten werden und jeder sich nur zu gern mit berühmten Schauspielerinnen und Schauspielern vergleicht.

Denn die Orte, wo man sich sonst so kennenlernen könnte als Mensch, sind ja verschwunden, abgetaucht in digitale Räume, wo man hofft, sich das Glück bzw. die unvergleichliche Partnerin kaufen zu können, um dann doch nur auf andere Enttäuschte zu stoßen. Oder einfach durchs Raster zu fallen, weil man den überzogenen Ansprüchen dieser Scheinwelt nicht genügen kann.

Man könnte auch leise fragen: Wer ist schuld? Wer zwingt uns eigentlich dazu, unsere Gefühle und unseren ganzen Selbstwert von den Algorithmen eiskalter Geschäftemacher abhängig zu machen?

Uns also selbst wie eine Ware zu betrachten, die es „an den Mann zu bringen“ gilt, bestmöglich zu verkaufen, anzubieten und uns dann doch von wütenden Chefs, die ihren Chefs irgendwo weiter oben in der Pyramide „Ergebnisse“ bringen müssen, zusammenfalten zu lassen, nur weil man kein Wundertäter ist.

Oder einfach nicht rücksichtslos genug für eine Welt, in der sich eisige Ausbeutung hinter Worten wie „Effizienz“, „Flexibilität“ und „Sparzwang“ verbirgt.

Das kleine Menschenrecht auf Würde

Engmanns Geschichten sind wie kleine Blicke hinter den dicken Vorhang, der die Kälte unsere Gesellschaft verbirgt, sie mit einem Hauch von Hoffnung und patriarchalischer Gnädigkeit versieht, während das Mitgefühl und Verständnis für die zusehends Einsameren völlig unter die Räder gekommen ist. Wo ist da noch Trost? Wo wird man die Last los, dieses Gefühl, nie genügen zu können?

Das steckt wohl in dem da und dort unscheinbar eingebauten „Nein“, auch dem „Nein“ zur Prahlerei der Erfolgreichen, die das Geldverdienen mit einem glücklichen Leben verwechseln. Und viel zu spät merken, dass sie eigentlich in einer Blechbüchse festsitzen, deren Reiseziel sie nicht (mehr) beeinflussen können.

Diese Entscheidungsfallen gibt es überall. Gerade davon erzählen die Geschichten ja. Und manchmal machen sie einfach Mut, den Albträumen unseres Arbeitslebens zu kündigen. Der Mensch hat ein Recht auf seine Würde und sein Nichterniedrigtwerden.

Und auch den lockendsten Einladungen für einen kurzen Ruhm muss man nicht folgen. Der ist so leer wie das Profil der tollen Frauen im Flirtportal. Menschliche Nähe und Verständnis findet man woanders.

Und sie beginnen in der Regel damit, dass man den Verkäufern eines schönen blitzenden Ruhmes einfach die Kündigung per Post schickt. Oder ins Gesicht sagt. Irgendwie fängt das Selbersein mit einem frühen und tapferen „Nein“ an, erst recht, wenn andere sagen: „Bist du blöd?“

Nichts ist so falsch wie der Talmi-Ruhm einer oberflächlichen Welt, die die Zukunft auf einem öden Wüstenplaneten verheißt, statt die Dinge hier unten auf der Erde erst mal in Ordnung zu bringen.

Birk Engmann In den Wellen, Passage-Verlag, Leipzig 2022, 14,50 Euro.

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