Nordamerika zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Es sind die Jahre 1729 bis 1732. Noch sind North und South Carolina englische Kolonie. Noch geht die Besiedlung schleppend voran. Außerhalb von Städten wie Charles Town leben die Siedler meist in winzigen Siedlungen inmitten einer Landschaft, in der noch die indigenen Einwohner leben – vor allem die Cherokee. Doch dieses Neuengland ist auch ein Land der Träume: hier leben zu können nach eigenen Vorstellungen. Das treibt auch die Heldin dieses Buches um – Anne Burleigh.
Es ist das zweite Buch zum Schicksal dieser Heldin, das die Leipziger Autorin Koschka Linkerhand im Querverlag vorlegt. Der erste Band „Die Irrfahrten der Anne Bonnie“ erzählt – angelehnt an die reale Geschichte von Anne Bonny – von Annes Flucht von zu Hause, ihrer Zeit auf einem Piratenschiff und der Liebe zu Mary Read, aber auch vom tragischen Ende der Seeräuberzeit, als die Piraten allesamt am Strang enden – nur die beiden Frauen überleben, verlieren sich aber aus den Augen.Anne heiratet den viele Jahre älteren Pfarrer Frank Burleigh und geht mit ihm in eine winzige Puritanersiedlung irgendwo in der Wildnis North Carolinas. Dort treffen wir sie nun – Jahre nach den Ereignissen aus dem ersten Buch.
Sie hat Kinder bekommen, gerade aber auch das jüngste, das sie nach Mary benannt hat, verloren. Sie scheint sich abgefunden zu haben mit dem strengen und patriarchalischen Leben in dieser Gemeinde, in der die strengen Regeln nicht nur dazu führen, dass sich die Frauen fast nur im Haus aufhalten, wo sie sich um Haushalt und Kinder kümmern. Die persönlichen Beziehungen zwischen den Dorfbewohnern sind denkbar reduziert.
Und ihre Leidenschaft für die allein lebende Lehrerin Jelena Cleave traut sich Anne lange nicht zu zeigen. Vorsichtig versucht sie die Annäherung, indem sie sich von Miss Cleave Lesen und Schreiben beibringen lässt. Was eigentlich für Frauen in dieser Gemeinschaft zwar nicht verboten ist. Aber doch ungewöhnlich. Und sie muss es schon begründen mit ihrem Wunsch, die Bibel selbst lesen zu können und vielleicht auch das Gemeindebuch schreiben zu können.
Der Keim eines Hexenprozesses
Doch alles bricht auf, als der Prediger Franziskus Syhre den Weg in die abgelegene Gemeinde findet und schon nach wenigen Tagen etwas inszeniert, was sich in Windeseile zu etwas auszuweiten droht wie 1692 in Salem in Massachusetts, als sich der religiöse Eifer in eine regelrechte Hexenverfolgung ausweitete. Ein Eifer, den man auch in diesem kleinen Nest spürt, das sich von Syhre so leicht instrumentalisieren lässt.
Die Puritaner waren zwar aus England in die Kolonien ausgewandert, um dort der Verfolgung zu entgehen. Aber ihre religiöse Sittenstrenge führte ebenso wieder zu Ausgrenzung, strenger Sittenkontrolle und einem religiösen Eifer, den man noch heute in großen Teilen der amerikanischen Gesellschaft finden kann.
Doch in dieser Geschichte wehren sich die Frauen, springt auch Anne auf und ergreift das Wort. Nicht ahnend, dass diese kleine Rebellion der Frauen, die vorher schon eine besondere Rolle in der Gemeinschaft geführt haben, auch ihr Leben radikal verändern wird. Denn Rebecca Waterhouse, die von Syhre angeklagt wurde, für das Verschwinden eines Mädchens Jahre zuvor verantwortlich gewesen zu sein, ist selbst Tscherokesin. Ihre Leute leben nur wenige Tagesreisen entfernt.
Als Rebecca Anne vorschlägt, gemeinsam zu fliehen, zögert Anne Burleigh nicht lange. Ihre Träume von einem anderen Leben hat sie nie aufgegeben, nur unterdrückt. Im Grunde ist der sehr detaillierte Einstieg in die Geschichte auch ein Versuch, der Gedankenwelt einer Frau nahezukommen, die ihre Träume und Lebensvorstellungen nicht erfüllen kann.
Schon gar nicht vor aller Augen und in aller Öffentlichkeit. Ein durchaus nicht leichtes Unterfangen, denn was für uns heute in Teilen selbstverständlich ist, hatte in den religiösen Vorstellungen jener Zeit keinen Platz. Und damit auch nicht in den Moralvorstellungen und der öffentlichen Wahrnehmung.
Wo ist der Ort der Freiheit?
Die ganze Anne-Bonny-Burleigh-Geschichte ist ja ein Versuch, das Leben einer solchen Frau zu zeichnen, die ihre Liebe und ihre Freiheit leben möchte in einer Welt, die von orthodoxen Moral- und Gesellschaftsvorstellungen normiert war. Zum Teil funktioniert das natürlich auch deshalb, weil wir es auch heute noch immer wieder mit dieser orthodoxen Moral zu tun bekommen. Da ist das gestrenge Luthertum dem Puritanismus immer verwandt gewesen. Bis hin zu seiner Rechthaberei und seinen grimmigen Vorstellungen vom Hexenwesen.
War schon Anne Bonnies Weg auf das Piratenschiff eine Flucht vor den strengen gesellschaftlichen Konventionen, so ist auch ihre Flucht mit Rebecca die kurzentschlossen ergriffene Gelegenheit, einen anderen Ort zu suchen, an dem sie ihre Liebe und ihre Vorstellung von einem selbstbestimmten Leben tatsächlich leben kann. Mit höchstem Risiko.
Denn dieses Neuengland ist in mancher Beziehung noch wild. Weniger auf seine Ureinwohner bezogen, in deren Dorf Anne eine ganz andere Freiheit in den persönlichen Beziehungen vorfindet. Aber sehr wohl in Bezug auf die Neuankömmlinge, die ihre Moral- und Besitzvorstellungen doch meistens mit Gewalt durchsetzen. Immerhin handelt die Geschichte über zehn Jahre vor der frühesten Lederstrumpf-Erzählung von James Fenimoore Cooper.
Auch wenn Anne im Dorf der Cherokee schnell merkt, dass diese Menschen genauso Landwirtschaft betreiben wie die Neusiedler. In fest gebauten Hüten leben und nach Regeln, die nur aus christlich-europäischer Sicht anfangs seltsam wirken, aber ihre eigene Logik haben.
Fast meint man, hier müsste Anne doch ihren neuen Ort gefunden haben. Immerhin sind es in der Cherokee-Gesellschaft die Frauen, die entscheiden. Doch als sie merkt, dass sich auch die Cherokee als Sklavenjäger für die Weißen betätigen, ist der nächste Aufbruch nicht mehr weit, schneidert sie sich Männerkleider und bricht mit Rebecca und den Kindern auf zu einem anderen Ort, von dem sie erst einmal nur den Namen weiß. Denn die ferne Kolonie Georgia ist gerade in Gründung. Mit James Oglethorpe, dem Gründer von Georgia, wird sie später tatsächlich einer echten Gestalt der Geschichte begegnen.
Ein neuer Ort in Georgia?
Aber erst einmal führt der Weg wieder nach Charles Town, wo Annes Seeräuber-Abenteuer einst so tragisch endete. Und auch diesmal wird der Aufenthalt in dieser Engländerstadt mit ihrem Sklavenmarkt zu einem Drehpunkt in der Geschichte, auch wenn die Frauen von hier tatsächlich aufbrechen und nach Georgia gelangen.
Aber anders als das erste Buch um Anne Bonnie kann dieses hier kein Versuch mehr sein, das reale Leben der historisch belegten Anne Bonny zu erzählen. Denn da, wo dieses Buch beginnt, endet die historische Überlieferung zu Anne Bonny. Eine Überlieferung, die ja die Hoffnung einschließt, Anne wäre mit ihrer Heirat glücklich geworden.
Aber kann man das wirklich? Das ist ja die Frage, die Koschka Linkerhand hier umkreist. Kann eine Frau glücklich werden, wenn sie sich dann einfach in die Erwartungen der herrschenden Moral fügt, heiratet, Kinder bekommt und all die Abenteuer ihrer Jugend dann einfach vergisst?
Oder würde sie auch künftig die erste sich bietende Gelegenheit nutzen, aus den starren Vorstellungen auszubrechen und davonzureiten auf der Suche nach einem besseren Ort? Eine Frage, die in diesem Buch immer wieder zu Begegnungen mit einer Moral führt, die uns vielleicht nicht fremd geworden ist, denn sie taucht ja in unterschiedlichster Kostümierung von Selbstgerechtigkeit, Rassismus und religiöser Moralität immer wieder auf.
Im Grunde wird die Reise der Frauen durch North und South Carolina auch zu einer Reise durch das von Doppelmoral gegründete Amerika, das religiösen Eifer problemlos mit Sklaverei und Verachtung für die Eingeborenen verband. Und verbindet, bis heute. In Gesellschaft der Engländer fühlt sich nicht nur Rebecca unwohl.
Weisheit, Gerechtigkeit, Maß
Georgia erscheint da geradezu wie das Paradies auf Erden, auch weil es sich anfangs deutlich abgrenzt vom puritanischen Furor der Nachbarn im Norden. Aber gerade hier hält es Rebecca nicht aus und verlässt Anne. So endet auch dieses Buch mit dem Verlust einer großen Liebe, wird damit natürlich auch zur Parabel. Denn der gesuchte Ort, an dem die eine ihr Glück zu finden hofft, muss nicht der Ort sein, an dem die gemeinsame Liebe lebbar ist.
Das wissen auch alle Liebenden in der Gegenwart, die zumindest in einer nicht mehr ganz so puritanischen und moralinsauren Welt leben müssen, auch wenn die Begegnungen mit den Sittenstrengen und religiös Aufgeladenen auch heutzutage noch genauso heftige Konflikte ergeben kann.
Und natürlich lässt sich die Frage nur bedingt beantworten: Wäre eine Anny Bonny damals glücklich geworden? Wenigstens im verheißenen Georgia, das noch heute den Wahlspruch „Weisheit, Gerechtigkeit, Maß“ führt? Oder geht auch hier der Versuch schief, muss schiefgehen, weil sie ja in der Verkleidung eines Mannes hierherkam. Bleibt ihr also nur noch ein Leben wie das des „Robinson Crusoe“ aus dem Buch, das ihr Oglethorpe geliehen hat?
Auch das eine Frage, die nicht nur 300 Jahre alt ist, sondern auch heute noch steht. Denn auch wir Heutigen spielen oft genug lieber die von uns erwarteten Rollen, die meist eben nicht die sind, die uns wirklich frei und gelassen machen. Nicht einmal so gelassen, wie es die tscherokesischen Frauen sind, denen Anne im Dorf von Rebeccas Familie begegnet ist.
Unser heute nach wie vor verzwicktes Verhalten gegenüber jeder Abweichung von der Norm hat wenig mit unserer Geschichte als Menschen zu tun, aber viel mit den starren und engen Vorstellungen einer religiösen Moral, die wir oft gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie überall in den Regeln des „Normalen“ stecken.
Was hat sich geändert in 300 Jahren?
Da steht auch für Anne am Ende die Frage: „Seit Rebecca nicht mehr bei mir ist, träume ich manchmal, den geliehenen Namen Julian abzulegen und einfach Anne Winehouse zu sein. Wer weiß, ob ich das den Leuten von Savannah zumuten kann, irgendwann an einem anderen Tag.“
Was ja im Grunde die Situation aller Menschen beschreibt, die sich oft aus sehr nachvollziehbaren Gründen hüten, sich zu outen. Denn wie die „Leute von Savannah“ dann tatsächlich reagieren, weiß man nicht. Und ob es dann noch einen „ganz anderen Ort“ gibt, an den man gehen könnte, ist ebenso offen.
Denn mit Verunsicherungen kann unsere von strenger Moral ganz und gar nicht freie Gesellschaft meist auch nur schwer umgehen. Manchmal auch gar nicht. Die Außenseiter/-innen der Gegenwart können ein Lied davon singen. Und das waren auch schon zu Anne Bonnys Zeiten mehr als nur die Menschen, die nicht ins sittenstrenge monogame Raster passten.
Koschka Linkerhand Ein neuer, ein ganz anderer Ort, Querverlag, Berlin 2021, 18 Euro.
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