Doch, irgendwann muss man das alles aufschreiben, sein Lebe erzählen, so gut man es vermag. Und zwar möglichst so, wie man es wirklich erlebt und gesehen hat. Das ist nicht leicht. Das merkt jeder, der sich mal an die Tastatur setzt und anfängt und … Ja, wo ist da die rote Linie in eigenen Leben? Hat man gelebt oder wurde man gelebt? Oder hat man immer nur zwischen allen Stühlen gesessen?

Eine Frage, die sich auch der 1953 in Leipzig geborene Konrad Diebler stellt, ein „gelernter Ostdeutscher“, wie das so schön heißt. Obwohl es Unfug ist und etwas suggeriert, was mit dem Leben der meisten im Osten Aufgewachsenen nichts zu tun hat. Trotz alledem.1953, das ist geradezu das auserwählte Jahr eines Hineingeborenwerdens in dieses Land, das im Schatten Stalins gegründet wurde, der genau in diesem Jahr starb – verehrt wie ein Heiliger. Im selben Jahr: der Volksaufstand, der dann mithilfe der sowjetischen Besatzer niedergeschlagen wurde. Natürlich hätte es anders kommen können. Geschichte ist immer nur eine von vielen möglichen Variationen.

Hätte es anders kommen können? Natürlich. Das zeigt ja selbst die familiäre Vorgeschichte, die Diebler ebenfalls erzählt – mit Urgroßeltern, Großeltern und Eltern. Denn wir verorten uns ja nicht zuallererst über das Land und die Gesellschaftsordnung, in die wir hineingeboren wurden. Das wird uns nur immer wieder eingeredet.

Zuallererst verorten wir uns über die Menschen, die uns in die Welt gesetzt haben und uns vorleben, wie Leben aus ihrer Sicht richtig ist. Wobei Konrad Dieblers Geschichte schon in dem Punkt sehr typisch wird, als er von seinem in den 1930er Jahren arbeitslos gewordenen Vater erzählt, der das Stellmacherhandwerk erlernt hat, aber partout keine Arbeit findet und deshalb einen eigenen kleinen Stellmacher-/Tischlerbetrieb gründet.

Der dann nach dem Krieg auf einmal in der Gefahr steht, enteignet zu werden. So schnell konnte das gehen, dass einer als KPD-Mitglied und zur Selbstständigkeit Gezwungener in einem von Bürokraten regierten Staat zum enteignungsfälligen Kapitalisten wurde.

Eine Polizeikarriere?

Glück für Konrad: Von diesem Vater lernte er den Mut zum Selbstständigsein, der übrigens nicht erst mit der Gründung eines eigenen Unternehmens beginnt, sondern mit immer neuen Entscheidungen, mit denen einer seinem Leben neue Richtungen gibt. Was anfangs durchaus verblüfft, denn der Junge, der sich extra über eine betriebliche Ausbildung zum Abitur vorgekämpft hat, entscheidet sich noch während der 18-monatigen NVA-Zeit als Fahrer in der Georg-Schumann-Kaserne dazu, danach zur Polizei zu gehen.

Oha, denkt man da: Jetzt gibt es endlich mal die Lebensgeschichte eines Leipziger Kriminalpolizisten, von Anfang an und dann mit der Kulmination 1989 und dem Hineinfinden in die neue Zeit danach.

Aber man wird wieder überrascht, glaubt sich eben noch mittendrin in einer scheinbar typischen ostdeutschen Karriere, in der einer sich wirklich durch die ganze Ausbildung zum Polizeioffizier schindet und am Ende tatsächlich als Kriminalleutnant in Leipzig arbeitet. Und dann genügt ein einziger Westbesuch, und Konrad Diebler ist seine Uniform, seinen Dienstrang und seine Arbeitsstelle bei der Polizei los.

So ein kleines Aha-Erlebnis: So behandelten die vom Klassenkampf Besessenen also auch ihre eigenen Leute. Eiskalt, gefühllos. Abserviert.

Die sprachlosen Allmächtigen

Nur dass dieser Diebler sich dann ganz und gar nicht dazu verdonnern lassen wollte, als schlecht bezahlter Lagerarbeiter irgendwo zu arbeiten. 1981 litt die DDR schon längst allerenden an Fachkräftemangel. Und mit ein paar Beziehungen kam der Held zu seiner neuen Arbeit – nun als Brandschutzinspektor bei Robotron. Eine Arbeit, die ihn bis in jenen verwirrenden Herbst 1989 trug, den er dann sogar als Leiter der Parteigruppe in seinem Betrieb antraf, ein Posten, zu dem er mehr oder weniger überredet worden war, weil der alte Leiter in Rente gegangen war.

Aber auch Diebler erlebte, dass die allmächtige SED in diesem Herbst 1989 nur noch sprach- und ratlos war. Da war er nun tapfer in dieser Partei geblieben, die eben nicht wie normale Parteien von der Basis her funktionierte, sondern nach dem obskuren Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ (die Führer an der Spitze bestimmen, wie der Laden läuft), und nun kam da von den ach so überzeugten Genossen gar nichts.

Was einen ja auch daran erinnert, dass ein Land, in dem nicht offen geredet werden kann, auch geistig vergreist, erstarrt und sprachlos wird. Aber dieser Diebler war keiner, der sich davon entmutigen ließ. Die Maueröffnung und die ersten Fahrten in den Westen schildert er so intensiv und voller Gefühle, wie das schon viele vor ihm getan haben.

Es ist die Stelle, an der wieder einmal sichtbar wird, wie sehr die Maueröffnung den Bewohnern des eingemauerten Landes wie eine Befreiung erschien, der Moment, in dem eine riesige mentale Last von ihnen fiel, die sie vorher gar nicht zu spüren schienen. Man fügte sich ja irgendwie ein, versuchte gar wie Diebler, trotzdem alles irgendwie richtigzumachen im Sinn dieser Partei und ihrer rigiden Vorstellungen.

1990: neu durchstarten

Aber tatsächlich steht auch für Diebler schon früh fest, dass man auch in so einem Land nur ein selbst gewähltes Leben lebt, wenn man sich reinkniet und das eigene Leben in die Hand nimmt – auch mit Verzicht. Am Ende staunt er selbst, wie viele Kurse, Schulungen, Weiterbildungen und Studien er abgewickelt hat neben seiner Arbeit und der Gründung seiner Familie.

Und da er das so schon kannte, kniete er sich auch 1990 wieder rein, machte aus seiner vorherigen Nebentätigkeit als Versicherungsvertreter seinen neuen Beruf und war am Ende Inhaber einer eigenen Versicherungsagentur. Bis ihn sein Körper dann aus dem Rennen warf. Ein psychischer Zusammenbruch, wie ihn wohl viele im Osten erlebt haben in diesen wirklich nicht einfachen Jahren nach 1990, als im Grunde fast alle lernen mussten, etwas völlig Neues anzufangen.

Nur dass es bei Diebler wohl auch eine familiäre Veranlagung war, die er bis dahin nicht wirklich ernst genommen hatte. Die seelischen Aufs und Abs, die kennt ja jeder. Da hat man Zeiten der manischen Besessenheit, in denen man Dinge anpacken und die Welt aus den Angeln heben möchte, und dann auch wieder Zeiten, da fehlt einem die Motivation.

Man ist „auf Zack“, wie es Diebler im Kapitel „Vater und auf Zack sein“ schildert, jenem Kapitel, in dem er erzählt, wie selbstverständlich es für ihn war, sich richtig reinzuknien und zu schinden, um ein guter Polizist zu werden.

Das war doch das, was dieses so von Anpassung und Disziplin besessene Land wollte, oder etwa nicht? Und dann war das auf einmal nichts mehr wert, weil Diebler heimlich fotografiert worden war beim Familientreffen mit der Westverwandtschaft. Dieses Auf-Zack-Sein wurde also nicht einmal honoriert, es war eine Forderung, die zwar auf den berühmten „stahlgehärteten“ Funktionär zielte.

Aber das Jahr 1989 zeigte es ja in aller Nacktheit: Dieser ach so perfekte Funktionär war nur noch ein menschlich entkernter Erfüllungsgehilfe, ohne Emotionen, ohne Mitgefühl, ohne Sprachfähigkeit. Es war, als demonstrierte man da gegen ein Gespenst. Schluss also mit der Parteimitgliedschaft.

Die wunderbaren Jobs der Gegenwart

Fortan packt dieser Diebler sein Leben so an, wie es viele im Osten gemacht haben, setzt sich wieder auf Schulbänke, besorgt sich Zertifikate, sucht sich ein Betätigungsfeld und ist dann praktisch 15 Jahre lang damit beschäftigt, sein Unternehmen am Laufen zu halten. Mit Höhen und Tiefen. Wie tief manche Krise war, merkt einer da oft erst hinterher. Oder es ist dann der Körper, der endgültig signalisiert: Ich will/kann nicht mehr. Wie es Diebler geschah, der nun nach all der Rennerei erlebte, dass das Gespenst Arbeitsunfähigkeit real geworden war.

Obwohl er nicht der Typ war dafür, einfach zu Hause zu sitzen. Und so sieht man ihn bald wieder erst kleine Jobs ausfüllen, dann wieder nach größeren Ausschau halten. Da ist man dann schon mittendrin im neueren Leipzig, in dem die Lieferanten- und Callcenter-Zeit begonnen hat, in der immer mehr arbeitswillige Menschen erlebten, dass ihr Wille und ihr Fleiß niemanden interessierten.

Auf einmal ging es nur noch um Kosten und Kostenreduktion. Und aus dem Versuch, vielleicht doch noch mit eigener Arbeit bis zur Rente zu kommen, wurde für Diebler eine Reise durch den Kosmos der Zumutungen im modernen Arbeitsleben. Bis er endlich einen Job findet, bei dem wieder Freundlichkeit und Menschlichkeit gefragt sind. Aber da macht ihm wieder sein Körper einen Strich durch die Rechnung.

Am Ende hat er so ein Arbeitsleben erzählt, das so ähnlich viele Ostdeutsche erlebt haben dürften. Eines, in dem er beide Welten kennenlernte mitsamt ihren Tücken und Eiseskälten. Aber auch den Erfolgen, die man erreicht, wenn man auf sich selbst keine Rücksicht nimmt. Die Bilanz steht ja schon im Untertitel des Buches: „Zwischen allen Stühlen“.

Was macht am Ende ein erzählbares Leben aus?

Denn wo und wie ordnet man so ein Leben ein, in dem man am Ende nicht auf einem Siegerthron sitzt oder als proppereicher Steuerflüchtling in der Schweiz? Sondern nur mit einer gerade auskömmlichen Rente im schönen Leipzig, dem einer wie Diebler immer verbunden blieb.

Das merkt man besonders an seinen Kindheits- und Jugendgeschichten aus dem Dreieck Dösen, Connewitz, Markkleeberg. Hier ist er aufgewachsen, erlebte furiose Winter mit zugefrorenen Teichen, sah das Leben von Vater und Großvater als Vorbild und lernte beim Tanz im Forsthaus Raschwitz die Liebe seines Lebens kennen.

Und dann sitzt einer gezwungenermaßen als Privatier da und versucht das alles in ein Bild von Leben zu packen. Was war wichtig? Wie hat man sich behauptet? Hat man sich überhaupt behauptet oder wurde man doch nur von anderen herumgestoßen? Oder: Muss man sein Leben jetzt nachträglich zensieren und korrigieren, weil es zu den neuen Heldenerzählungen unserer Gesellschaft nicht passt?

Nicht wirklich. Gäbe es nur die Leute, die am Ende schnurgerade Heldenerzählungen erzählen können, Deutschland wäre ein leeres Land. Ein sehr leeres Land. Ohne Helden. Denn damit die Helden sich ihre Lorbeerkränze aufsetzen können, braucht es die vielen, die einfach ihre Arbeit tun, selbst in einem so verbretterten Staat wie der hingeschiedenen DDR, wo einer wie Diebler durchaus die Chance sah, ein guter Kriminalpolizist zu werden.

Und doch keiner sein durfte. Und trotzdem sieht er sein Leben am Ende nicht als ein gescheitertes. Denn man lebt nicht vom Ende her. Man lebt mittendrin, erlebt Niederlagen und Erfolge, tut alles für die Familie und hat am Ende nur auf den ersten Blick ein Leben wie alle anderen gelebt. Auf den zweiten ist es unverwechselbar, weil man selbst am besten weiß, wo man sich überwunden und Herausforderungen gemeistert hat, wo man sich trotz allem nicht hat kleinkriegen lassen.

Schnurgerade Leben gibt es nicht

Und so erscheint auch die Friedliche Revolution für Diebler nicht wie eine Niederlage, nicht mal wirklich als Zäsur, denn danach galt es ja genauso wie vorher, die Gelegenheiten beim Schopfe zu packen und zu zeigen, dass sich einer wie dieser Erzähler nicht unterkriegen lässt. Und es gilt für die Zeit davor wie für die danach, dass man auf diese Weise auch immer wieder „zwischen den Stühlen“ sitzt, aneckt und Bedingungen vorfindet, die nicht auszuhalten sind.

Jetzt können auch die Kinder und Enkel lesen, wie sich dieser Junge aus Leipzig durchgeschlagen hat. Das ist wichtig. Denn die Geschichten der Eltern sollte man schon kennen. Auch als Richtschnur fürs eigene Leben, das auch in Zukunft ganz bestimmt nicht schnurgerade und ohne Ecken und Krisen sein wird.

Von den gesellschaftlichen ganz zu schweigen. Denn nach den großen Brüchen sind der Klugen immer unendlich viele, die schon immer alles besser gewusst haben wollen. Und viele biegen sich dann die eigene Geschichte zurecht bis sie passt.

Das tut Diebler nicht. Und so reiht sich sein Buch ein in eine langsam wachsende Zahl gedruckter Erinnerungen von Leipzigern, die gemerkt haben, wie wichtig es ist, auch das eigene Leben für die Jüngeren aufzuschreiben.

Auch und gerade dann, wenn es quer zur üblichen Haupterzählung der aktuellen Historie steht. Erst das Unpassende macht unser Leben aus und ergibt am Ende das, was als Geschichte für alle dabei herauskommt. Und das meiste erfahren wir, wenn möglichst viele erzählen, aus unterschiedlichsten Perspektiven. Denn es gilt für jede Zeit: Kein Leben ist wie das andere.

Konrad Diebler Kein Leben wie jedes andere, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2021, 12,90 Euro.

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