Nico Mateews Buch ist eine einzige Liebeserklärung – einerseits an das völlig unterschätzte Land Albanien, und zum anderen an ein Leben, von dem die gehetzten Bewohner des deutschen Wohlstands fast nur noch träumen. Wenn überhaupt noch. Das Paradies liegt hinter uns und ganz bestimmt nicht in den Wohlstandsversprechen einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder zu Ratten im Laufrad gemacht hat.

Und genau das ahnt Nico Mateew schon, bevor er eines Tages ganz spontan mit einem chinesischen und einem amerikanischen Begleiter aufbricht nach Albanien, um dort – mitten in der Vorweihnachtszeit – einen Film zu drehen über das Land, seine Bewohner und ihre Küche. Ein Einfall, der am Ende spontan entsteht.Gefasst nach einem Besuch bei der Verwandtschaft in Bulgarien und den unvergesslichen Ratschlägen eines Onkels, der sich zutiefst darüber besorgt zeigte, dass sein Neffe so ziellos und grundlos durchs Leben schipperte. Oder besser: rannte. Denn die ersten zehn Jahre seiner Karriere nach dem erfolgreich abgeschlossenen BWL-Studium fanden in einem großen Chemie-Unternehmen statt, wo er im Management tätig war und schon früh gut verdiente.

Eigentlich ging es immer nur aufwärts. Mehr Geld, mehr Prestige, eindrucksvolle Titel auf den Visitenkarten. Genug Geld, um eine Familie zu gründen, schnittige Autos zu fahren, Flugreisen zu unternehmen und ein Haus zu beziehen. Das, wovon – scheinbar – alle Bewohner der westlichen Welt träumen. Hätte sich da nicht schon früh das Gefühl eingeschlichen, dass die Arbeit in diesem riesigen Unternehmen eigentlich ziemlich überflüssig war, der Einzelne jederzeit ersetzbar und ein großer Teil der Arbeitsvorgänge völlig unnötig.

Ganz zu schweigen davon, dass Mateew das Gefühl einfach nicht loswurde, völlig am eigenen Leben vorbeizuleben. Die Arbeit fraß auch noch riesige Teile der Freizeit. Und obwohl sie gar nicht anstrengend war, sondern letztlich ein simpler Bürojob mit Bildschirmarbeit, war er fix und fertig, wenn er spät abends nach Hause kam, regelrecht ausgebrannt.

Die falschen Träume des Westens

Und das Beeindruckende: Es war ihm immer bewusst. Zahlreiche Szenen, in denen ihm andere die Irrationalität seines Tuns spiegelten, hatten sich tief in die Erinnerung gebrannt.

Und die erste 50 Seiten dürften vielen Zeitgenossen sehr vertraut vorkommen, Männer zumeist, die das westliche Ideal regelrecht verinnerlicht haben, dass man (Mann) erst einmal einen überdurchschnittlich bezahlten Beruf ergreifen muss, rackern muss um den Aufstieg, um möglichst schnell zu den Siegern zu gehören, die sich genau die Attribute eines westlichen Erfolgslebens leisten können, die einem die Werbung Tag für Tag um die Ohren schlägt: Mein Haus, mein Auto, mein Boot, tolle Frau, tolle Kinder möglichst auf Privatschulen…

All dieser zusammengestoppelte Schwachsinn einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder mit immer größeren Wünschen und immer höheren Ansprüchen peitscht, damit sie sich willig in die Sielen werfen und sich für eine riesige Maschine abrackern, in der es für die Mitglieder der Maschine keine Erfüllung gibt, keine Befriedigung, bestenfalls das Warten auf den Tag des Ruhestands.

Den viele aber nicht mehr erleben, weil sie ihr ganzes Leben dem Rackern für etwas geopfert haben, das sie am Ende überhaupt nicht genießen können. Oft vom frühen Herzinfarkt weggerafft. Oder einsam gestrandet im Haus am See, weil Frau und Kinder aus diesem frustrierenden Leben verschwunden sind.

Die klugen Fragen des Onkels

Auf Seite 52 schildert Mateew dann den Bulgarien-Urlaub, der ihn dazu führt, dass er den Schalter umlegt. Obwohl: umlegen muss er ihn gar nicht mehr. Denn dass es im Leben eigentlich darum geht, sich selbst und seine Passion zu finden, das wusste er schon als Kind. Und er hat es auch nie vergessen. Auch nicht beim Studium, das er letztlich ergriff, weil er selbst noch nicht wusste, was ihm im Leben wirklich einmal das sein könnte, was ihn ausfüllen würde.

Und auch nicht bei den zehn Jahren in dem großen Unternehmen, in dem er die Anonymität und Sinnleere immer wieder auch körperlich spürte. Und letztlich war es ein neuer Vorgesetzter, der ihm endgültig das Entsetzen deutlich machte, das in einem völlig entwurzelten Management steckt. Ein Mann, der seinen neuen Kollegen gleich am ersten Tag erzählt, dass nur der Himmel sein Limit wäre, ist zum Entsetzen.

Und das wissen eigentlich auch die meisten. Und lassen sich diese eiskalten Sprüche von Leuten, die keine Grenzen akzeptieren, immer wieder gefallen. Aber: Man erfährt auch, dass Mateew nicht der Erste ist, der daran denkt, diese Hölle der Sinnlosigkeit zu verlassen. Sein eindringlich fragender Onkel macht ihm endgültig klar, dass da etwas fehlt.

Erst recht vor dem Hintergrund der faszinierenden bulgarischen Landschaft, in der Mateew erstmals wieder spürt, dass das Glück nicht in den teuren Träumen steckt, denen man da in Deutschland immerfort nachjagt, dass selbst die viel ärmeren Menschen in Bulgarien glücklicher sind – erstens, weil sie sich nahe sind, einander noch kennen, helfen und vertrauen, und zum anderen, weil sie mit dem, was sie haben, glücklich sind.

Auf einmal taucht so ein kleiner ketzerischer Gedanke auf: Dass es das falsche Glück ist, dem man im Karrieresystem der großen Konzerne nachjagt, ein Talmi-Glück, das einen tatsächlich von allem wegtreibt, was einen Menschen tatsächlich glücklich macht.

Das unbekannte Albanien

Und so entschließt er sich nur Wochen später, noch einmal aufzubrechen, in ein Land, von dem er hofft, dass es ihm all die Fragen beantworten kann, die in ihm nagen. Und vielleicht auch eine Anregung gibt, wie er aus den frustrierenden Schleifen herauskommt. Und kurzentschlossen sucht er sich zwei Reisebegleiter, die mit ihm den Dokumentarfilm verwirklichen wollen.

Und er findet sogar mit Jetmit einen Reisebegleiter vor Ort, der ihm in kurzer Frist all die Gesprächspartner/-innen besorgt, die er für seinen Film braucht und denen er all die Fragen stellen kann, die er sich in Deutschland ausgedacht hat. Ab Seite 77 geht es dann direkt hinein in das albanische Abenteuer. Und in das Scheitern aller Vorstellungen, die sich auch Mateew bisher über Albanien gemacht hat.

Er schreibt offenherzig darüber, und auch darin wird sich so mancher Leser wiederfinden. Denn unsere Vorstellungen gerade über die ärmeren Länder Europas und der Welt bestehen zu ungefähr 99 Prozent aus Vorurteilen, bestärkt meist durch Medien, die nicht anders über alle diese Länder berichten, weil auch die Journalisten der westlichen Welt meist nur hinfahren, um ihre im Westen gepflegten Vorurteile bestätigt zu finden.

Wobei Albanien noch den Vorteil hat, dass es auch seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft und der jahrzehntelangen Abschottung meist unterm Radar läuft, zu klein für die medialen Kampagnen in den Medien, zu unbekannt als Urlaubsland, zu uninteressant für das große politische Getrommel. Das Land führt keine Kriege, bedient keine Rohstoffgier, bedroht keine Wettbewerber. Und so steht es auch nicht im Fokus westlicher Freihandels-Kampagnen, mit denen der albanische Markt mit Gewalt aufgeschossen werden soll.

Was wir verloren haben

Und Mateew und seine Begleiter merken es schnell, dass sie aus all den Gründen in Albanien eine völlig andere Mentalität antreffen, Menschen, die ihnen mit großer Offenheit und Gastfreundschaft begegnen, obwohl sie sichtlich weniger besitzen und ganz bestimmt nicht in Wohlstand schwimmen.

Und dennoch wirken sie glücklicher, fühlt sich selbst Mateew, der in Deutschland so frustrierende Erfahrungen mit seinen bis zuletzt anonymen Kollegen gemacht hat, unversehens wie zu Hause, angenommen und aufgenommen, selbst in den Kreis der Familien, die er mit seiner kleinen Mannschaft besucht. Schnell lernt er, dass in Albanien die Uhren nicht das sind, als was sie in Deutschland gelten: Antreiber, Rennmarken und Mahner zur Pünktlichkeit.

Eigentlich bewundert man geradezu die Geduld, mit der Jetmir den drei Reisenden versucht beizubringen, wie die Albaner mit der Zeit, mit Verabredungen und Bekanntschaften umgehen. Statt einen Dokumentarfilm voller Drama aufzunehmen, wird die Exkursion wie eine Reise in eine Welt, die wir hier als auf Mobilität, Flexibilität und permanente Leistungsbereitschaft getrimmte Zeitgenossen verloren haben. Irgendwann.

Manche würden ja sogar sagen: 1990. So lange ist das nicht her. Auch wenn wir hier im östlichen Teil Deutschlands gleich noch mehr verloren haben, auch wenn es die meisten bis heute nicht wirklich begriffen haben: Die Freude daran, Dinge gemeinsam zu lösen – mit Freunden, Familie und Nachbarn.

Der Osten Deutschlands ist nicht nur einsam geworden, sondern auch kaltherzig. Wütend auch. Nur dass die Wütenden oft gar nicht wissen, warum sie wütend sind, und wie vor 1989 immer noch auf „die da oben“ schimpfen, als hinge ihr Glück noch immer von den undurchschaubaren Beschlüssen eines grauen Zentralkomitees ab. Und nicht von ihnen selbst.

Die falschen Fragen

Denn das ist letztlich das, was Mateew auf dieser Reise durch Albanien immer klarer wird, weil es ihn immer mehr beschäftigt, warum all die Menschen, denen er begegnet, so selbstbewusst und in sich ruhend und auch noch stolz sind. Obwohl sie ja eindeutig viel weniger verdienen und besitzen als er. Doch während er sie immer wieder mit seinen Fragen löchert, weil er glaubt, das fremde Land auf diese Weise vielleicht besser zu verstehen, machen ihm die oft ausweichenden Reaktionen seiner Gesprächspartner immer stärker bewusst, dass es die falschen Fragen sind.

Dass es die Fragen eines Westeuropäers oder eben Deutschen sind, der dem Frieden einfach nicht traut und angelernt bekommen hat, dass er allem misstrauen muss, dass es immer irgendwo einen Haken gibt und Menschen eigentlich falsch sein müssen, die nicht in Karriere und Geld ihre Lebensziele haben. Das muss doch geschwindelt sein …

Aber es ist egal, mit wem er darüber spricht, dem Tankwart, den Gastwirten, Köchen, der alten Oma, den Kindern – es sind alles Menschen in einer Welt, in der man sich seine Freude und Anerkennung nicht in windigen Karriereträumen und verlogenen Urkunden an der Wand holt. Sondern dort, wo man sie wirklich bekommt: bei den Menschen, die man kennt, die einem ehrlich zurückspiegeln, ob man wirklich etwas Gutes auf die Beine gestellt hat.

„Waren das Land und die Menschen tatsächlich so etwas Besonderes, dass man ihnen beim Sprechen über ihre Ansichten und die Art zu leben an den Lippen hing“, fragt sich der Autor. „Oder haben wir uns tatsächlich in einem schleichenden Prozess vom Ursprung und Sinn des Lebens entfernt?“

Und damit von dem, was uns selbst eigentlich erst erfüllt und glücklich macht im Leben?

Das Nie-Genügen

Denn gerade wenn ihm gesagt wird, wie nah das Glück eigentlich ist, wenn man es nicht in der Ferne sucht, merkt er, wie sehr er darauf trainiert ist, genau dieses simple, erreichbare Glück zu ignorieren, ihm regelrecht zu misstrauen, wo es doch eigentlich in der perfekten Anpassung an das westliche Standardmodell des Wohlstands steckt. Dem man aber schlichtweg nie genügen kann.

Im Gegenteil: „Weiter gefragt habe ich nicht, aber die Frage blieb unbeantwortet in meinem Hinterkopf. Und genau das ist es wahrscheinlich, was uns in den Wahnsinn treibt. Sorgen über Sorgen und Fragen über Fragen. Vieles Kleine ergibt in der Summe etwas Großes oder wie mein Vater immer sagte, die größten Hürden im Leben sind die Berge aus Sandkörnern.“

Denn wer nie aus der permanenten Leistungsbereitschaft herauskommt und nie das Gefühl hat, dass es eigentlich völlig genügt, da zu sein, der wird zum Getriebenen all der Sorgen und Ängste, von denen unsere Wohlstandsgesellschaft voll ist. Einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen nicht das tun, was sie gern tun möchten, und nicht so leben, wie sie gern leben möchten. Fremde in den fremden Träumen einer Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr kennt.

Und auch Chang und Steve, Nico Mateews Begleiter, merken in diesen Begegnungen, dass es mit ihrer Prägung in China und den USA nicht viel anders ist, dass sie in Albanien eine Gesellschaft vorgefunden haben, die sich wohltuend von dem unterscheidet, was beide in ihren Heimatländern erwarten würde.

Was ist ein erfülltes Leben?

Nico Mateew lässt das Buch völlig offen ausklingen, erzählt noch von einem Urlaub mit seiner Familie, der praktisch damit endet, dass sich die Kinder eine sofortige Rückkehr nach Albanien wünschen. Er lässt – im Buch zumindest – die Frage offen, ob er den Mut gefunden hat, den gut bezahlten Manager-Job zu kündigen und völlig neu anzufangen in einem völlig anderen Berufsfeld, in dem er aber das Gefühl hat, endlich das zu tun, was er von Herzen gern tut. Das also, was sich fast alle wünschen, wenn sie die Schule beenden und noch nicht wissen, wie es weitergeht.

Die wenigsten wissen da schon, was für sie wirklich ein erfüllendes Berufsleben ist. Aber fast alle wissen, was sie sich wirklich wünschen. Und das hat mit Karriere, eigenem Haus, viel Geld und Luxus nichts zu tun, reineweg gar nichts.

Die Albaner wissen sogar, dass sie auf vieles verzichten können, was in westlichen Nationen als unabdingbar gilt und selbstverständlich. Bis hin zu den schon fertig geschlachteten und in Plastik gewickelten Hühnern im Supermarkt. Von Fastfood-Restaurants ganz zu schweigen, die sich die meisten Albaner gar nicht leisten können.

Dazu gibt es ein besonders schönes Kapitel, in dem Mateew dann auch erfährt, welch einen Schaden die hochsubventionierte Landwirtschaft des Westens mit ihren Dumpingprodukten anrichtet. Bis hin zu der Tatsache, dass sie eine gesunde Ernährung aus regionaler Produktion, wie sie in Albanien notgedrungen Standard ist, in Deutschlands regelrecht verhindert und unbezahlbar macht.

Unsere verlorenen Wurzeln

Das wird verständlicher, wenn die Gesprächspartner/-innen dem kleinen Filmteam immer wieder zeigen, wie irre und irrelevant die mitgebrachten Fragen sind und wie unverständlich all das, was sich die Bewohner des nur scheinbar in Wohlstand lebenden Nordens eigentlich antun lassen von einer Wirtschaft, die all das, was das Leben wirklich lebenswert und glücklich macht, entwertet, verdrängt, zerstört und vergessen lässt. Als wäre es niemals dagewesen.

Kein Wunder, dass so viele Menschen in dieser überdrehten Wohlstandswelt zunehmend vereinsamen, wütend werden und verzweifeln. Albanien scheint sehr weit weg zu sein. Aber im Grunde zeigt Mateew mit seinem Buch auch, dass es in uns allen steckt – als Sehnsucht nach einem wirklich geerdeten Leben mit den Dingen, die uns wirklich mit Wärme und Herzlichkeit erfüllen.

Es ist ein Buch für alle, die sich dessen noch bewusst sind. Und wohl auch für die, die sich bisher nicht getraut haben, das Hamsterrad zu verlassen. Denn Fakt ist ja auch: Hinterher, wenn man sein Leben in der Tretmühle vergeudet hat, ist es zu spät. Man sollte vorher mal nach Albanien fahren, am besten ins Hinterland, wie es Nico Mateew und seine beiden Begleiter getan haben. Offen für Begegnungen, die man sich in Deutschland lieber verkneift, weil man sich hierzulande nur noch mit latentem Misstrauen begegnet.

Auch das ist so eine Folge unseres institutionalisierten Denkens über Fremde: Fremde sind immer gefährlich, in einer Gesellschaft, in der sich alle fremd sind, erst recht. Kein gutes Beispiel für die Welt, könnte man meinen. Kann man auch. Sollte man sogar. Sonst ändern wir uns nämlich nicht.

Nico Mateew 10 Tage im Herzen der Ferne, Twentysix, Norderstedt 2021, 19,99 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

 

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar