Manchmal ist man ja richtig froh, das man die verkorksten Leben anderer Leute nicht leben muss. Das geht einem oft nach Woody-Allen-Filmen so. Von amerikanischen Vorabendserien ganz zu schweigen. Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere auch noch an Robert Altmans Film โ€žShort Cutsโ€œ von 1993, gedreht nach Raymond Carvers Kurzgeschichten. In Angelika Arends Erzรคhlungen fรผhlt man sich am Ende meist genauso. Wie ausgespuckt.

Als wรคre das Leben einfach ausgelaufen. Und einige der Held/-innen in diesen Geschichten stehen am Ende tatsรคchlich mit leeren Hรคnden da. Haben sich fรผr ihre Kinder oder ihre Lebensabschnittsgefรคhrten vรถllig aufgeopfert, Haus und Geld drangegeben. Aber es wird ihnen nicht vergolten. Mal sind es die Erben, die alles an sich raffen, mal schlucken es die Partner/-innen, die sich irgendwann als die falschen erweisen. Und dabei sind es doch eigentlich Geschichten aus der groรŸen, weiten Welt, die Angelika Arend erzรคhlt.Sie wurde 1942 in Leipzig geboren, wanderte 1968 erst nach England, dann nach Kanada aus, arbeitete als Lehrerin, Lektorin und als Professorin fรผr Germanistik. Nach ihrer Emeritierung kehrte sie nach Deutschland zurรผck und lebt heute bei Potsdam. Wobei auch die Rรผckkehr so ihre Tรผcken hatte, zumindest, wenn man die letzte Geschichte in diesem Buch โ€žIm Land der Paragraphenโ€œ so interpretieren kann.

Aber so manche Geschichte liest sich eben doch wie selbst erlebt, miterlebt oder gehรถrt. Und diese seltsame Begegnung mit der deutschen Einreisebรผrokratie klingt nur zu vertraut. Den Ton kennt man ja selbst aus den paar noch verbliebenen Recherchesendungen im deutschen Fernsehen, wenn die Kommentatoren im Off irgendwie versuchen zu verstehen, warum ร„mter und Behรถrden derart auf staubige Paragraphen fixiert agieren, den grรถรŸten Blรถdsinn genehmigen, aber das konkrete Leben der Menschen mit allen Mitteln erschweren und zum Albtraum machen.

Natรผrlich ahnt man, warum sie es in diesem Fall tun. Denn Paragraphen werden ja von Politikern gemacht. Meist genau von den Politikern, die immerzu herumposaunen, die Bรผrokratie mรผsste endlich abgebaut werden. Aber damit meinen sie nie den ร„rger, den sie fรผr die Menschen erst schaffen, die sie per Gesetz bevormunden und gรคngeln, sondern nur die Regeln, mit denen reiche Leute daran gehindert werden, das Land zu plรผndern.

Was die Menschen unten in der richtigen Welt betrifft, denen bringen die Paragraphen dann ganz schnell bei, dass Politiker, die immer von โ€žFreiheitโ€œ reden, stets das Gegenteil meinen und auch die Macht der Paragraphen dazu nutzen, Menschen das รœberqueren von Grenzen, die Arbeitsaufnahme in anderen Lรคndern, das Studieren und Heiraten zu erschweren oder gar unmรถglich machen.

Ihre Wรคhler merken meist gar nicht, wie schizophren das ist, wie diese Freiheit immer gleich mit Mauern und Stacheldraht ausgeliefert wird. Und dass die Regierenden der sogenannten freien Welt eigentlich รผber das Denken in Grenzen und Abschottung nie hinausgekommen sind.

Aber war das jenseits des Atlantiks nicht anders?

Anfangs scheint da in diesen Geschichten โ€“ allein schon aufgrund der schieren GrรถรŸe des Landes โ€“ einiges anders zu laufen im schรถnen Kanada, das natรผrlich in vielen dieser kurzen Geschichten eine zentrale Rolle spielt. Aber wenn wir ehrlich sind, haben wir das Zeitalter der Nationalismen noch lange nicht verlassen. Im Gegenteil: Seit 1990 wurde noch nie so sehr in Grenzen, Abschottung und Ausgrenzung gedacht und gehandelt.

Uralte Verhaltensmuster kommen wieder zum Vorschein, auch solche, wie sie die beiden Liebenden in der ersten Geschichte โ€žEs waren zwei Flรผchtlingskinderโ€œ erleben. Denn nicht einmal die Flรผchtlinge dieser Welt verlassen in Wirklichkeit ihr Land, ihre Kultur und die Normen ihrer Welt.

Sie nehmen sie รผberall hin mit. Und das betrifft nicht nur die Menschen aus den islamischen Kulturkreisen, auch wenn das in dieser Geschichte geradezu zum unรผberbrรผckbaren Wasser wird und sich die Liebenden quasi nur mit klug eingesetzten deutschen Sprichwรถrtern und Gedichtzeilen verstรคndigen kรถnnen. So wird es tatsรคchlich fast zu einer Liebesgeschichte, in der diese altvertrauten Zeilen ihre ganze blitzende Schรถnheit wieder zeigen. Aber es hilft alles nichts, wenn die Eltern noch immer in ihren alten Traditionen stecken.

Traditionen, von denen die meisten nicht mal ahnen, dass sie eigentlich genauso blind und gefรผhllos funktionieren wie deutsche Bรผrokratien.

Aber der Umschlagtext deutet ja schon an, dass es Angelika Arend eigentlich um das Wichtigere geht, um โ€žLiebe? Erfรผllung? Gerechtigkeit?โ€œ Alles mit Fragezeichen, denn die Heldinnen und Helden ihrer Geschichte finden dergleichen fast alle nicht. Als wรคren sie blind dafรผr oder gรคbe es so etwas in ihrer Welt nicht. Einer Welt, die tatsรคchlich frappierend an die Welt Raymond Carvers erinnert.

Eine Welt, in der Menschen zwar fertigbringen, ihren Wohnsitz um hunderte oder tausende Kilometer zu verlegen, auch aufbrechen in das groรŸe Abenteuer, so wie der junge Mann aus Deutschland, der gegen die Erwartungen seiner Eltern rebelliert und lieber Pfarrer in einer kanadischen Gemeinde wird, wo er aber trotzdem scheitert, weil die dortige deutsche Gemeinde lieber einen deutschen Pastor vom alten Schrot und Korn wรผnscht. Man kann auch in der Diaspora alle Borniertheiten der alten Heimat behalten. Kein Problem.

Aber das ist in diesem Fall gar nicht Kern der Geschichte. Das sind eher die verschiedenen Partnerschaften dieses Mannes, der durch sein Leben jagt, sich immer wieder neu erfindet und am Ende auch noch als Bauunternehmer reรผssiert. Aber das eigentliche Scheitern steckt in seinen Partnerschaften.

Und damit ist er in diesem Buch nicht der Einzige, dem das so geht, der am Ende auf ein Leben zurรผckschaut, in dem die Frauen eigentlich eher wie ungeliebte Flugbegleiterinnen wirken, noch immer fremd, als wรคre man nie vertraut gewesen miteinander und einander auch nie so nah, dass einen die Trennung wirklich geschmerzt hรคtte.

Und wer Carver gelesen hat, hat sich sowieso viele Gedanken darรผber gemacht, was Menschen eigentlich unter Liebe und Partnerschaft verstehen, oder ob sie sich mit ร„uรŸerlichkeiten (Geld, Aussehen, Status, Haus, Auto) zufriedengeben und eine Partnerschaft tatsรคchlich nur als Zweckgemeinschaft verstehen, in der jeder seine Aufgaben hat. Und wer diese (oft stillschweigend vorausgesetzten) Aufgaben nicht erfรผllt, kann wieder gehen.

Wobei natรผrlich auch der Gedanke mitschwingt: Sind das nicht die Vorstellungen รคlterer Generationen? So wie in โ€žHerr Mann und seine Frauโ€œ, in der dieser in Kanada Karriere machende Professor seine Frau behandelt wie eine Angestellte, die bitteschรถn nicht zu flennen, aber zu funktionieren hat?

Ist es heute anders?

Eine Generation, in der Frauen so etwas noch mit sich machen lieรŸen. Sind Angelika Arends Geschichten tatsรคchlich Geschichten aus einer vergangenen Zeit, einer Zeit, die heute selbst in Filmen so verklemmt und patriarchisch wirkt, dass man die Handelnden eigentlich nur noch bedauern kann? Wahrscheinlich nicht. Denn wenn man genauer hinschaut, handeln auch die jรผngeren Generationen nicht viel anders, sind Job, Karriere und Image wichtiger, als diese ganze mรผhsame Aufmerksamkeit fรผr die Mitmenschen.

Man lebt aneinander vorbei, was Arend in der Geschichte โ€žPostumโ€œ erzรคhlt, in der der Sohn erst aus dem hinterlassenen Brief der Mutter an die Enkel erfรคhrt, wie sehr man sich die ganze Zeit missverstanden hat, lieber seine Abwehr und seine Vermutungen gepflegt hat, als zu versuchen, einander tatsรคchlich zuzuhรถren. รœbrigens beidseitig. Es nutzt ja nichts, wenn nur eine Generation spricht und die andere so tut, als wรคre alles selbstverstรคndlich.

Besonders frappierend wird dieser Egoismus in der Geschichte โ€žLuftpostโ€œ, die eigentlich nur aus lauter Liebesbriefen besteht, in denen sich der Schreiber regelrecht aufplustert in seiner Fรคhigkeit, toll ziselierte Liebesbriefe zu schreiben. Nur um am Ende regelrecht vorwurfsvoll zu schreiben, dass er im richtigen Leben zu feige ist, seine Gefรผhle zu zeigen. Was soll das? Oh ja, es ist eine Geschichte, da mรถchte man am Ende aufspringen und einen alten Narren รผbers Knie legen.

Im Grunde kreisen viele dieser Geschichten um die Frage, warum so wenige Menschen wirklich ihren Gefรผhlen vertrauen und tatsรคchlich ihrer Liebe folgen. Denn wรคre es anders, mรผsste die Heldin in โ€žNoch einmalโ€œ sich nicht die seltsame Frage stellen: โ€žMuss ich denn immer an so einen Kerl geraten? Oder sind die alle so? Liegt es an mir?โ€œ

Die Erzรคhlerin hat sich hier mal wieder an einen โ€žKerlโ€œ gehรคngt, der ihr irgendsoetwas wie Liebe vormacht, obwohl er sie eigentlich nur als bessere Haushรคlterin ausnutzt, sie auch noch Miete zahlen lรคsst, sodass selbst die Kinder am Ende bezweifeln, dass die beiden wirklich ein Paar waren, sie bestenfalls eine seiner Geliebtem. Denn eine andere alte Flamme hat er sich ja auch noch gegรถnnt in der Zeit, aber immer so getan, als mรผsste er das nur noch klรคren, dann wรคre er endlich frei. Oder was auch immer.

Als wรผrden die eigentlichen Heldinnen und Helden in diesen Geschichten nie dazu kommen, ihr eigenes Leben zu leben, sich nie all diese Zumutungen verbitten und auch nie ihrem Herzen folgen. Das tut nicht mal der emeritierte Professor, der sogar seine Schriften und Bรผcher entsorgt, als wรคre sein Beruf nie sein Leben gewesen. Und nun wundert er sich, dass er auch keine stabile Partnerschaft (mehr) findet.

Noch so eine Frage: Wie viele Leute besetzen eigentlich einfach Posten und Professuren, ohne irgendein tieferes Interesse fรผr das, was sie tun? Als wรคre in dieser Welt jeder Job eigentlich nur dazu da, um eine Zeitlang Geld zu verdienen, irgendeinen Titel zu tragen und in der Welt herumzudozieren. In diesem Fall รผber Goethe und Heine, was einem sowieso seltsam vorkommt. Stecken die Gemanistik-Lehrstรผhle in Kanada tatsรคchlich noch bei Goethe und Heine fest? Ist da nicht mehr? Arme Germanistik.

Nichts als Talmi

Aber auch das รคhnelt den Lesegefรผhlen nach Carver-Geschichten: So rechtes Bedauern mit all diesen Leuten mag nicht aufkommen. Obwohl man zuweilen das Gefรผhl bekommt, dass man diese Leute eigentlich schon mal getroffen hat. Denn sie erzรคhlen ja so wahnsinnig gern von ihrem Leben und ihren abgelegten Partnern, all den Bitterkeiten, die sich irgendwann ansammeln, wenn eine oder einer sich ein Leben lang bemรผht hat, irgendeine Rolle zu spielen.

Und hinterher fรผr den Rest des Lebens beleidigt ist, weil das nicht honoriert wurde. Oder gar so schรคbig ausgeht, weil die Kinder โ€ฆ Aber Kinder werden so, weil ihre Eltern so waren. Und weil die Gesellschaft so ist. Eine Gesellschaft, die sich auf einmal verflixt รคhnelt, so รผber den GroรŸen Teich hinweg betrachtet. Denn diese ganzen so auf ihr Image versessenen amerikanischen Mittelstandsfamilien รคhneln im Habitus und der ewigen Vorwurfshaltung ans โ€žungerechteโ€œ Leben den Mittelstandsmenschen hierzulande. Es sind dieselben Vorstellungen von Erfolg und Reichtum, die sie teilen, dieselbe Angst vor Nรคhe und Verstรคndnis. Dasselbe Verstรคndnis davon, wie die Dinge zu sein haben.

Diese Leute prรคgen mit ihren Vorstellungen vom โ€žErfolgโ€œ im Leben die ganze Gesellschaft, drรผcken rรผcksichtslos ihre kleinen, einfรคltigen Interessen durch. Und merken meist erst ganz am Ende, dass all das, was sie immer als Erfolg verkauft haben, nichts als Talmi ist โ€“ das ganze falsche Gold, mit dem man ruhmredig versucht, die genauso bornierte Nachbarschaft zu beeindrucken, wรคhrend am Kรผchentisch lรคngst das Schweigen eingezogen ist und eigentlich jeder nur noch davon trรคumt, die Koffer zu packen und irgendwohin ganz weit wegzuziehen, weg von diesem immer beleidigten und unzufriedenen Besserwisser am Tisch.

Also alles in allem keine romantischen Geschichten aus den schรถnen Weiten Kanadas, sondern eher lauter Geschichten รผber das immer neue Scheitern von Liebe, Nรคhe und Gerechtigkeit in einer Mittelstandswelt, in der eine notariell beglaubige Besitzurkunde immer wichtiger ist als diese ganze schรถne Zeit vor dem Tod, in der man hรคtte ehrlich und liebevoll zueinander sein kรถnnen.

Und wenn sich einige Leute nach Lesen dieser kurzen Geschichten entschlieรŸen sollten, schleunigst die Scheidung einzureichen, wรผrde mich das auch nicht wundern. Denn an dieser Stelle stimmt der alte Adorno-Satz nun einmal: โ€žEs gibt kein richtiges Leben im falschen.โ€œ Wer sein Leben an den Sicherheits- und Erfolgsvorstellungen dieser auf Geld, Besitz und Status fixierten Gesellschaft ausrichtet, landet genau in jener Hรถlle des nicht mehr Sagbaren, die Carver so eindrucksvoll in kurze Geschichten gepackt hat.

Normalerweise hรคlt das ein Mensch nicht aus. Und mit Liebe oder Erfรผllung hat das auch alles nichts zu tun. Aber sehr viel mit genau den riesigen Distanzen, die sich die dem Gelde und dem Erfolg Nachjagenden anlegen in Beziehung auf andere Menschen. Nur ja nicht nahekommen lassen. Nur ja nicht zulassen, dass man sich wirklich versteht und auch die Verletzlichkeiten des anderen zulรคsst.

Die kommen so gar nicht vor in den Geschichten von Angelika Arend, die eher auf eine sehr nachdrรผckliche Art davon erzรคhlt, wie viele Menschen sich einander verkaufen und dann selbst das Gemeinsame รผber den Besitz definieren. So wie in โ€žGoldene Fesselโ€œ, in der der mรคnnliche Part der Geschichte seine Partnerin fortwรคhrend mit teuren Schmuckstรผcken beschenkt, die auf seltsame Weise immer wieder abhandenkommen. Abhรคngigkeit durch teures Beschenktwerden.

Manchmal fragt man sich wirklich, warum nicht fortwรคhrend Leute schreiend aus den Hรคusern laufen, weil sie diese Art Partnerschaften nicht mehr aushalten. Wahrscheinlich ist es sogar ein Mรคrchen, dass die meisten Menschen Liebe suchen. Die meisten versuchen nur ein Leben lang, die Erwartungen anderer zu erfรผllen und dabei mรถglichst gut dazustehen.

Und natรผrlich auch anderen Leuten solche Erwartungen einzureden, angefangen bei den eigenen Kindern. Aber freilich auch bis in die Werbung hinein, an der sich ja seit 1993 nichts wirklich geรคndert hat. Es werden noch immer dieselben Talmi-Vorstellungen vom โ€žrichtigenโ€œ Leben beworben. Was Liebe ist, erfรคhrt man nรคmlich erst, wenn man diesen ganzen Schrott hinter sich lรคsst und auf die Suche geht nach Menschen, die einen wirklich berรผhren.

In diesem Buch tauchen sie erst ganz am Ende auf, wo sie sich dann freilich mit der deutschen Bรผrokratie herumschlagen. Aber das passt dann auch irgendwie wieder. Eine solche Bรผrokratie braucht man in einer Welt der blasierten Wertvorstellungen und Talmi-Gefรผhle.

Angelika Arend Der Himmel aber ist immer blau, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021, 12 Euro.

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