Natürlich sind Kinder genauso knuffig, wie Tanja Székessy sie zeichnet. Das hat die Natur so eingerichtet, damit wir ihnen niemals lange gram sind, wenn sie wieder seltsame Dinge angestellt haben. Dinge, bei denen sie auf genauso seltsame Weise lernen, wie das Leben wirklich ist. Nämlich ganz schön seltsam.

Und es ist eine große Kunst, sich immer wieder in die Sichtweise der kleinen Menschlein hineinzuversetzen, so, wie es die Frankfurter Grafikerin Tanja Székessy schon in mehreren Kinderbüchern getan hat. In diesem neuen erzählt sie diesmal keine Geschichte, sondern hat lauter kleine Episoden gesammelt, wie sie eigentlich jeder aus seiner Kindheit kennt.Nur haben wir das meiste davon vergessen, irgendwo unter Bergen späterer Erfahrungen abgelegt, manchmal auch in dem Fach „richtig peinlich“. Obwohl gerade diese kleinen Erlebnisse davon erzählen, wie wir so geworden sind, wie wir sind.

Es kommen fast keine Erwachsenen vor in diesen kleinen Erlebnissen, keine scheißklugen Väter, die den Kindern stundenlange Vorträge halten, keine ausflippenden Mütter, Lehrer/-innen und Erzieher/-innen sowieso nicht. All diese Leute, die zuweilen immer noch glauben, sie würden Kinder erst zu Persönlichkeiten machen.

Also Leute, die ihr eigenes Kindsein so tief in der Erinnerung vergraben haben, dass sie nicht mal mehr ahnen, dass es im Jetzt keine Vorträge, keine Belehrungen und Ermahnungen gibt. Dafür ist im Jetzt überhaupt kein Platz. Und kleine Kinder leben im Jetzt. Und zwar nur im Jetzt. Und im Jetzt passieren ihnen all die verrückten Dinge, durch die sie lernen, wie das Leben auf dieser Erde eigentlich ist.

Und sie lernen, weil alle Gefühle jederzeit mit ganzer Wucht da sind – Freude, Entsetzen, Angst, Selbstvertrauen, Stolz, Mut, Neugier und selbst das irgendwie komische Gefühl beim Eisessen, wenn man weiß, dass das Geld aus Mamas Geldglas stammt. Und Mama weiß nichts davon. Selbst diese komischen lädierten Gefühle lernt man kennen, wenn man weiß, dass Eis richtig lecker ist – aber eigentlich doch etwas nicht stimmt.

Tanja Székessy lässt zwar in den kleinen Erlebnissen immer andere Kinder handeln, aber natürlich erlebt jedes Kind haufenweise solcher Abenteuer, die sich besonders tief eingraben, wenn man sie zum ersten Mal erlebt. Denn da weiß man in der Regel ja überhaupt noch nicht, wie man am besten reagiert oder welche Folgen das hat.

Im Jetzt gibt es ja noch keine Folgen. Die lernt man erst, wenn man viel Jetzt erlebt hat und sich erinnert, dass solche komischen Sachsen schon einmal passiert sind. Erst so entsteht ja überhaupt ein Gefühl für Zeit. Oder vielleicht auch ihr Gegenteil – die Keine-Zeit, von der Erwachsene so oft reden, weil immer irgendwo anders was los ist und alle ganz eilig dahin müssen.

Als Kind weiß man ja auch noch nicht, wie kurz das Leben tatsächlich ist und dass man sich am anderen Ende des Lebens meist wünscht, dass man noch viel mehr ausprobiert hätte, so kurz, wie das Ganze dann war. Und als Knirps kommt man gar nicht hinterher, alles auszuprobieren, was einem so einfällt. Und die Zeit der Erwachsenen kommt einem ganz komisch vor, ganz groß und fremd und lange her. So wie Filippo und Harriet, die im Kleiderschrank Mamas Hochzeitskleid finden. „Es fühlte sich vergangen und feierlich an.“

Und Poppi erlebt, wie schnell Zeit ganz lang werden kann, wenn man sich hinter einem dicken Baum versteckt und die anderen Kinder einen einfach nicht finden. Zeit ist wahrscheinlich das Seltsamste, was man als Kind kennenlernt, so wie Wanda, die nach dem Tod ihrer Uroma ihren eigenen, selbst gebastelten Streichholzschachtel-Weihnachtskalender wieder in den Händen hält – und die Uroma hat keine der kleinen Süßigkeiten gegessen. Zuerst kommt der Tod als Enttäuschung daher.

Manche der kleinen Geschichten erzählen von Unfällen. Denn richtige Kinder lernen ja tatsächlich nur so, dass es wehtut, wenn man Fehler macht. Da können die Papas noch so viel reden und erklären. Was ein bisschen tragisch ist – aber so ist das ganze Leben. Und wer erzählt, dass es anders ist, der lügt einfach. Wir sind nicht in sicheren Blasen geborgen.

Und mancher gerät – wie Niko – zwischen zwei wütend bellende Hunde und braucht dann ganz, ganz lange, dass er Hunde wieder bereit ist zu streicheln. Und ganz viele Kinder wundern sich später, wenn ihre Mama erzählt, was sie für Bummelkinder waren. Obwohl sie doch beim Treppensteigen – wie Fups – nur lauter spannende Dinge entdeckt haben. Lauter Dinge, die Erwachsene gar nicht mehr sehen, weil sie so rennen.

Erwachsene merken wirklich meistens nicht mehr, wie sehr sie rennen – auf der Treppe, auf der Straße, im Kopf. Immer sind sie schon woanders, wenn Fups gerade staunend durchs Treppengeländer schaut oder Hedi und Natascha Marienkäfer sammeln. Nein, die großen Leute kriegen oft gar nicht mehr mit, was alles los ist in der Welt.

Außer vielleicht Elos Mama, die weiß, wie schön es ist, stundenlang Pusteblumen zu pusten. Das ist auch bestimmt nicht ohne Grund die letzte Geschichte im Buch, die auch noch mit dem Wort glücklich endet. Denn natürlich erleben wir als Kind auch, was wirklich Glück ist.

Die Großen reden immer nur drüber, haben aber ständig Hummeln im Hintern und laufen dran vorbei, wenn es da ist. Wobei Tanja Székessy mit Olgas Geschichte auch schon den kleinen dunklen Tupfer setzt. Olga lernt nämlich, dass andere Kinder auch schon beginnen können, sich so dumm zu benehmen wie manche Erwachsene.

Die „Erziehung“ schlägt leider früh zu, dann nämlich schon, wenn die schon gefühllos gewordenen Erwachsenen ihre Kinder so zurechtstutzen, dass sie werden wie sie. Das lernen manche Kinder eben auch schnell. Sie wollen ja so gern sein wie die Großen – aber eigentlich auch nur, um nicht ständig ausgeschimpft, angeknurrt und angebrüllt zu werden.

Mitten in so einer kleinen Geschichte so eine große Falltür. Man merkt es regelrecht beim Lesen, wie es auf einmal kalt und ungemütlich wird. Und wie man so erfährt, warum unsere Welt so bitter und knurrig ist und so viele Menschen sich benehmen, als wären sie niemals Kind gewesen.

Vielleicht durften sie ja auch nicht. Da hilft dann tatsächlich nur Papas Einsatz. Denn das darf man sich nicht gefallen lassen, auch nicht auf dem Dorf. Und so lernt Olga, obwohl sie eigentlich erschrocken und gekränkt ist, dass man in solchen Momenten einfach den Stier bei den Hörnern packen muss.

Und das lernt man nicht, weil Eltern lange Vorträge halten, sondern handeln. Und Papa nimmt Olga sogar mit. Er weiß, dass sie das brauchen wird im späteren Leben, weil die gehässigen großen Jungen immer wieder auftauchen im Leben.

Fast wünscht man sich gar noch ein zweites Buch, aber das wäre wohl für ganz viele Leser/-innen ganz schwer auszuhalten: „Kleine enge Welt“. Ein Buch, das das Kindsein aus der Sicht der Kinder zeigt, die schon früh zurechterzogen werden und denen ihre „Erziehungsberechtigten“ das Selberlernen nicht zugetraut haben, sie lieber zurechtgebogen und zurechterzogen haben. Erwachsene, die ihrer Erfahrung aus der eigenen Kindheit, dass man Kinder zurechterziehen muss, nun an ihren Kindern wieder umsetzen. So pflanzt sich das fort, Generation um Generation.

Und das Ergebnis sind Großgewordene, die sich selbst nichts zutrauen und immer denken, „die da oben“ müssten alles in Ordnung bringen, die immer denken, andere sind schuld. Und sie selbst wurden immer nur ungerecht behandelt. Was manchmal ja auch stimmt. Aber was eben auch damit zu tun hat, ob wir den Kindern etwas zutrauen, sogar ganz viel zutrauen.

Und vor allem das Wichtigste: Dass sie ganz von allein lernen, sich zu behaupten in einer Welt, die sie ja vor ihrer Geburt überhaupt noch nicht kannten. Und es ist eine ziemlich aufregende Welt, aber auch eine erstaunlich ernsthafte, so, wie die Kinder bei Székessy miteinander umgehen. So ernsthaft, wie wir alle ernsthaft neugierig sind, wenn wir wirklich wissen wollen, was alles möglich ist in dieser Welt, die so klein gar nicht ist, wenn man nur genauer hinschaut.

Von den Gefühlen ganz zu schweigen, die Tanja Székessy manchmal einfach in die Bilder gezeichnet hat. Denn die Geschichten selbst sind ganz simpel, ohne all das Gelärme, mit dem einem schlechte Regisseure in Kinderfilmen die Ohren vergellen. Selbst die großen Gefühle passieren oft in tickender, dichter Stille. Und nur das Brummeln im Bauch oder das flaue Gefühl im Kopf verraten einem, dass irgendetwas vor sich geht, das viel, viel größer ist als das Jetzt.

Das bleibt in Erinnerung. Und oft stolpern wir auch noch als große Leute über diese Erinnerungen, ohne richtig zu wissen, wie wichtig sie waren, damit wir gelernt haben, wie das ist mit dem Leben, der Erde und dem ganzen aufregenden Rest.

Tanja Székessy Kleine weite Welt, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2021, 15 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar